Hühnerhautmomente am Eröffnungskonzert

  17.07.2018 Saanen

Das 62. Gstaad Menuhin Festival ist eröffnet. Mit einem Hühnerhautkonzert von Daniel Hope und dem Zürcher Kammerorchester startete es in seine Konzertreihe «Les Alpes». «Die vier Jahreszeiten» von Vivaldi und ein Remix von Max Richter setzten Kontrapunkte.

BLANCA BURRI
«Das Leben in den Alpen ist seit jeher sehr eng mit der Natur verbunden», sagte Festivalpräsident Aldo Kropf an der Eröffnungsrede vom vergangenen Freitagabend. Nirgens könne man die Schwankungen der Natur besser spüren als in den Bergen. Deshalb sei der Verlauf der Jahreszeiten viel ausgeprägter als anderswo. Er spannte den Bogen vom diesjährigen Festivalmotto «Les Alpes» bis hin zum Eröffnungskonzert zum Thema vier Jahreszeiten mit Werken von Antonio Vivaldi und Max Richter.

Er betonte, dass Volkslieder, Ländler und Jodellieder auch viele klassische Komponisten wie Schubert oder Mendelssohn inspiriert hätten. Er las aus dem Tagebuch von Felix Mendelssohn, der am 7. August vor 187 Jahren in Boltigen ins Tagebuch schrieb: «Draussen blitzt und donnert es ganz entsetzlich, und regnet dazu mit Macht; in den Bergen lernt man erst vor dem Wetter Respekt haben.» Das musste man am vergangenen Freitagabend aber nicht, denn Petrus war dem Gstaad Menuhin Festival äusserst wohlgesonnen. Der Begrüssungsaperitif und das Konzert fanden bei schönstem Wetter statt und wurden einzig durch die Kirchenglocken unterbrochen, die zur vollen Stunde jeweils eine Satzpause aussuchten, um zu schlagen.

Antonio Vivaldi …
Die greifbare Spiellust des Zürcher Kammerorchesters sowie ihres musikalischen Direktors und Solisten Daniel Hope fielen am Eröffnungskonzert als Erstes auf. Nicht zurückhaltend und dezent war Daniel Hopes Art, mit dem Orchester zu korrespondieren, sondern ausdrücklich und voller Freude, oft mit einem Lächeln auf den Lippen. Seine Vitalität sprang auf das Orchester über und so schlug dem Publikum vom ersten Takt weg eine geballte Energie entgegen. Das Kammerorchester interpretierte «Die vier Jahreszeiten» von Vivaldi in einer modernen, schon fast rockigen Fassung, in der neben der Violine vor allem die Laute und das Cello mit Fingerspitzengefühl und Virtuosität zum Tragen kamen. Besonders in Erinnerung bleibt Largo im «Frühling», in welchem die Viola mit penetranter Gleichmässigkeit die filigranen Soli unterstrich. Ebenso unter die Haut ging der «Winter», der in den ersten Takten mit eiskalten, eiszapfenartigen Streicherklängen die Lufttemperatur virtuell erkalten liess.

Daniel Hope las zwischen den Sätzen die Gedichte vor, die Vivaldi sich zu den einzelnen Jahreszeiten notiert hatte, was sehr gut ankam. Das Publikum verdankte das fulminante Konzert mit tosendem, fast nicht enden wollendem Applaus und Bravorufen. Begeistert trat es die Pause in der lauen Abendluft an.

… versus Max Richter
Nach der Pause blieben ein paar Sitze leer. Vielleicht wollten sich diese Zuhörer und Zuhörerinnen dem Experiment von Max Richter nicht stellen. Er hatte «Die vier Jahreszeiten» für Daniel Hope umgeschrieben. «Max Richter kontaktierte mich vor sechs Jahren», erzählte er dem Publikum. Er habe zurückgefragt, ob mit dem Original etwas nicht stimme. Das nicht, meinte Richter, aber er erkenne das Original manchmal nicht wieder, weil es in unzählig verschiedenen Fassungen in Warenhäusern und bei Telefonwarteschlangen erklinge. Er wolle dem Werk eine neue Seele geben, die für den zeitgenössischen Komponisten stimme. Als Daniel Hope einen Auszug der neuen Partitur sah, willigte er ein. Max Richter transformierte die «vier Jahreszeiten» in einen modernen, der Filmmusik nahen Kontext, ohne die prägnanten Themen zu verändern. «Inzwischen haben wir die kleine Schwester von Vivaldis Komposition auf der ganzen Welt aufgeführt, aber noch nicht im Saanenland», meinte der gutgelaunte Daniel Hope. Sie ist auf Violinsoli und die Trägerstimmen der Streicher, dem Cembalo und der Harfe, aufgebaut, welche in einem Spannungsfeld zueinander stehen. Die Sätze enden durchgehend abrupt. Das Werk hat einen fast meditativen Charakter.

Die Umfrage nach dem Konzert ergab, dass es ebensoviele Leute gab, welche das Original besser mochten als Max Richters Remix und umgekehrt. Insgesamt ein wunderbarer Eröffnungsabend mit einer voll besetzten Kirche, Begeisterungsstürmen, Hühnerhautmomenten und einem warmherzigen, energiegeladenen und nahbaren Daniel Hope.

Weitere Fotos unter https://tinyurl.com/yc8b5dv3 https://tinyurl.com/yaemvqnl https://tinyurl.com/ybcvc4tg


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote