Singende Geige im singenden Wald

  23.10.2018 Kultur, Pays-d'Enhaut

Stella Chen und Kristina Rohn musizierten letzten Freitagabend im Temple de Château-d’Oex im Rahmen des charmanten Musikfestivals «Le Bois qui Chante».

ÇETIN KÖKSAL
Mit dem letzten Satz aus Johann Sebastian Bachs zweiter Partita für Sologeige eröffnete Stella Chen das Konzert. Die «Chaconne» ist gewissermassen das virtuose Sahnehäubchen aus Bachs Solosonaten und Partiten für Violine. Stella Chen gönnte sich also mit ihrer Programmwahl keine Zeit des sachten Sichsteigerns und -herantastens an die grosse geigerische Herausforderung «Chaconne». Wer sich dies traut, dem verzeiht man auch eine kleine «Anfahrschwäche». Danach fand die Geigerin in ihr Spiel und überzeugte mit einem ausserordentlich schönen, warmen Klang. Das Beherrschen der technischen Schwierigkeiten kam als Selbstverständlichkeit herüber, was gerade bei noch jungen Nachwuchsinstrumentalisten absolut keine Selbstverständlichkeit ist. Zu oft stellen sie ihr zugegebenermassen beeindruckendes, virtuoses Können in den Vordergrund. Das wusste Stella Chen aufs Angenehmste zu vermeiden. Mit angebrachter Bescheidenheit stellte sie sich voll und ganz in den Dienst des Werkes und der Musikalität. Anstelle von plakativer Effekthascherei vernahm der aufmerksame Zuhörer fein ausgearbeitete Details, ohne jemals das Gefühl für das grosse Ganze zu verlieren. So konnte die Solistin trotz relativ langsam gewähltem Tempo den Spannungsbogen halten.

Ein Gedicht für Ysaÿe und Clara Schumanns Lieblingsstück
Ernest Chaussons Gedicht für Geige und Orchester entstand 1896 für einen der damals grössten Virtuosen, den belgischen Geiger Eugène Ysaÿe. Der 1855 geborene und bereits 44-jährig bei einem tragischen Fahrradunfall verstorbene Komponist hatte noch zu Lebzeiten den Orchesterpart seiner «Poèmes» für Klavier umgeschrieben. Diesen übernahm nun Kristina Rohn als ausgewiesene und erfahrene Begleiterin. Zusammen mit Stella Chen interpretierten sie diese musikalische Lyrik, aufgeteilt in die Sätze Lento e misterioso, Animato und Finale. Die Geigerin meisterte wiederum die äusserst anspruchsvollen virtuosen Stellen mit wohltuender Unaufgeregtheit und fein differenziertem Spiel.

Kristina Rohn wusste «ihrer» Solistin zu folgen, wie es nur Meister-Begleiterinnen vermögen. In klanglicher Hinsicht jedoch gelang ihr dies etwas weniger, was dann besonders bei Johannes Brahms’ «Thuner Sonate» zum Ausdruck kam. Während Stella Chen sehr vielfältige Klangfarben, Ausdrucksweisen und Dynamik pflegte, fiel Kristina Rohn durch ein generell eher präsentes Spiel mit durchweg kräftigem bis sehr kräftigem Anschlag auf. Dies führte dazu, dass das Zusammenspiel bisweilen etwas weniger harmonisch wirkte. Wie hatte wohl die Ur-Interpretation geklungen? Brahms sass nämlich selber am Klavier, als er mit dem Geiger Josef Hellmesberger seine in den Ferien am Thunersee komponierte Violinsonate Nr. 2 spielte. Clara Schumann jedenfalls war begeistert und erklärte fortan die Sonate als ihr Lieblingsstück von «Johannes».

F.A.E.-Sonate und Bach als Abschluss
«Frei, aber einsam» war das Lebensmotto des grossen, ungarischen Geigers Joseph Joachim. Als jener im Oktober 1853 zu Konzerten in Düsseldorf erwartet wurde, beschlossen seine Freunde Johannes Brahms, Robert Schumann und dessen Schüler Albert Dietrich, ihn mit einer ihm gewidmeten Violinsonate zu überraschen. F.A.E. bedeutete zudem auch: «In Erwartung der Ankunft des geliebten Freundes Joseph Joachim» und war von Schumann als Titel der Sonate ausgewählt worden. Dietrich komponierte also den ersten Satz, Schumann den zweiten und vierten und Brahms den dritten, das Scherzo. Dieses bekamen die Zuhörer im Temple von Château-d’Oex als letztes Zusammenspiel von Stella Chen und Kristina Rohn geboten. Eine Kostbarkeit, die im Konzertbetrieb leider eher selten auf dem Programm steht. Nach einem warmen Applaus beschloss Stella Chen den schönen Konzertabend mit dem Adagio der ersten Solosonate von Bach als sehr gelungener Zugabe. Ein musikalischer Kreis hatte sich geschlossen und während die letzten Takte ausklangen, kam dem hier Schreibenden eine so oft gehörte Aufforderung seines Geigenlehrers aus früher Kindheit wieder in den Sinn: «Du musst singen! Geige spielen ist Singen und das Instrument ist deine Stimme.» Stella Chen orientiert sich offenbar genau nach dieser Devise und es gelingt ihr aufs Wunderbarste!


POSTIVES FAZIT

Intendantin Béatrice Villiger zieht nach dem letzten Konzert vom Sonntagabend ein positives Fazit. «Den Künstlern hat es am Festival sehr gut gefallen und das Publikum war begeistert», sagt sie glücklich. Zwei Konzerte waren ganz ausgebucht und die anderen sehr gut besucht. Die Intendantin rechnet deshalb mit einer weiteren Steigerung der Zuhörerzahlen, die genauen Zahlen seien aber noch nicht ausgewertet worden. «Ich bin dankbar, dass das originelle Programm an den unterschiedlichen Locations so gut angekommen ist», lacht sie und verweist auf die nächste Austragung vom 12. bis 20. Oktober 2019.


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