Demokratie ist nicht die Diktatur der Mehrheit

  06.11.2018 Leserbriefe

Um wessen «Selbstbestimmung» handelt es sich dabei? Sicher nicht um diejenige von Minderheiten oder jedes Einzelnen von uns. Wem aber gerade dies wichtig ist, darf die sogenannte «Selbstbestimmungsinitiative» auf keinen Fall annehmen. Die Schweizer Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass Demokratie nicht einfach eine Diktatur der Mehrheit ist, sondern dass die Anliegen der Minderheiten ernst genommen und z.B. in der Ausarbeitung von Gesetzen berücksichtigt werden. Wie oft sind die Resultate bei Abstimmungen nur knapp und der offzielle «Gewinner» ist sich bewusst, dass ein nur wenig kleinerer Anteil der Stimmenden gegen sein Anliegen votiert hat. Wir können das Ganze auch mit unserem Proporzsystem bei den Wahlen vergleichen: Die Stimmen werden anteilsmässig gewichtet, nicht die Partei mit den meisten Stimmen erhält alle Sitze.

Mit Annahme der Initiative würde es einfacher werden, auf Kosten von Minderheiten Politik zu machen. Heute mögen vor allem Rechte von ausländischen Minderheiten – Asylsuchende oder Muslime – im Visier sein. Morgen kann es schon Sie oder mich treffen. Zum Schutz der Minderheiten und zur Sicherung der Freiheit des Einzelnen braucht es rechtsstaatliche Garantien wie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), welche als rote Linie auch bei der Durchsetzung von gewissen Mehrheitsansprüchen gilt. Es ist die einzige Möglichkeit, für einen einzelnen Bürger oder eine Minderheit, sich gegen das Urteil eines Staates zu wehren. Bekannt ist das Beispiel der Asbestopfer: Ihre Klage um Schadenersatzforderungen wurde abgelehnt, weil die Forderungen nach Schweizer Recht zehn Jahre nach dem letzten Kontakt mit Asbest verjährt waren. 2013 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass mit der bestehenden Verjährungsfrist das Recht auf ein faires Verfahren verletzt wurde. Dieser Fall zeigt deutlich: Ohne die Menschenrechtskonvention hätten viele Menschen eine noch kleinere oder gar keine Chance, Recht zu bekommen.

Lange Zeit hat es in der Schweiz keine Konflikte mit der EMRK gegeben, seit 2012 werden wir aber gerade von Seiten der SVP mit immer fragwürdigeren Initiativen überrollt, welche die Demokratie arg strapazieren und mit bestehenden internationalen Verträgen oder mit der EMRK unvereinbar sind.

Anstatt ihre Anliegen auf eine politisch oder ethisch vertretbare Form zu prüfen, oder nötigenfalls das Referendum gegen einen einzelnen Vertrag zu ergreifen, will die SVP nun die ganzen Errungenschaften, die seit dem Zweiten Weltkrieg Frieden in Europa garantieren, aufs Spiel setzen, um ihre ureigenen, gar nicht immer so demokratischen Interessen zu sichern. Ein Prozess, der leider momentan auch in andern Ländern sehr im Trend liegt und den ich mit grossen Bedenken zur Kenntnis nehme. Deshalb hoffe ich auf ein wuchtiges Nein zu diesem Angriff auf die Menschenrechte.

PARVINE BÄHLER, LAUENEN


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