«Himmeltonder, wenn er sell derhartrole in de Bärgen, isch es gwiss nid schad»

  12.06.2019 Gstaad

Der Bergführerverein Gstaad-Lenk feiert heuer sein 100-Jahr-Jubiläum. Deshalb gibt er Einblick in sein tägliches Schaffen und in geschichtliche Begebenheiten. Armin Oehrli erzählt von seiner Bergführerausbildung in den 1970er-Jahren, in dem klare Ansagen gemacht wurden.

Eingerückt zum Aspirantenkurs wurde am 23. September 1974 ins Hotel Jungfrau in Grindelwald. Der Wetterbericht war nicht gut. Wir waren 72 Jünglinge aus der ganzen Schweiz. Kursleiter war der berühmte Hermann Steuri aus Grindelwald, 65-jährig. Er stellte uns die Klassenlehrer vor. Ich wurde «Bisi» Rudolf Kaufmann, ebenfalls aus Grindelwald, zugeteilt. Was er sagte, war sehr kurz, direkt und so für alle verständlich.

Am zweiten Tag gab es ein böses Erwachen, der Wetterbericht bestätigte sich mit einer dichten Schneedecke, die das Tal von Grindelwald überzog. Der Schnee blieb liegen. Die Ausbildung und die Touren wurden durch den frühen Schnee sehr eingeschränkt. Den Rosenlauistock, direkte Westkante, bestiegen wir mit Reissbürsten, um den Schnee von den Griffen und Tritten zu putzen. Das war der Höhepunkt der Kletterei.

Ein Felssturz auf die Leitern zum oberen Grindelwaldgletscher, am Tag der Eisprüfung, war das eindrücklichste Erlebnis des Kurses. Wären die Steine einige Stunden früher oder später abgebrochen, hätte es von den rund 100 Männern einige erschlagen. Es gab damals kein Careteam, um das Erlebnis zu verarbeiten, jeder war auf sich selbst gestellt. Der Kursleiter sagte bei der Prüfungsbesprechung bloss: «Heute hatten wir Glück, Glück gehört dazu in den Bergen.» Heute würde man von Restrisiko sprechen. Auch unser Ausbildner «Bisi» ging mit seinen markigen Sprüchen unter die Haut. Sein Kommentar zu einer Fehlleistung eines Anwärters: «Himmeltonder, wenn er sell derhartrole in de Bärgen, isch es gwiss nid schad.» Das also ist ein kurzes, präzises Feedback, das sagen will, dass in diesem Metier keine Fehler erlaubt sind. Ski- und Lawinenausbildung oder Anwendung gab es keine. Trotzdem oder deswegen haben rund 30 Personen den Kurs nicht bestanden.

Der Skitourenteil wurde 1976 nach dem schneearmen Winter im Juni durchgeführt. Nach einer Ausbildungswoche im Schwarrenbach – der damalige Wirt war auch Mitglied der Berner Bergführer- und Skilehrerkommission – folgte eine Tourenwoche vom Steingletscher über die Grimsel: Grimsel– Lauteraargebiet–Gauli–Rosenlauigletscher–Meiringen. Die Hütten waren nur für den Kurs geöffnet.

Das Aufgebot für den Bernischen Bergführerkurs 1976 hiess uns, am 23. August um 16.15 Uhr im Hotel Jungfrau in Grindelwald zu erscheinen. Auf der Ausrüstungsliste waren unter anderem folgende Gegenstände aufgeführt: Gamaschen – wer mit Wadenbinden einrückte, kam zu Pluspunkten, Feldflaschenkocher und die giftigen Metatabletten, die damals das A und O waren. Kerzenlaterne mit zwei Kerzen und Taschenlampe. Welches dieser beiden Hilfsmittel die Wegsuche am frühen Morgen leichter machte, ist mir nicht mehr ganz in Erinnerung. Zum Einschalten war die Taschenlampe einfacher, auch konnte man sie, wenn man die Hände brauchte, besser zwischen die Zähne klemmen als die Kerzenlaterne. 30 bis 40 Meter Seil, zwei Karabinerhaken, zwei Felshaken, eine Eisschraube und ein Reepschnurstück von 10 Metern. Dieses kurze Stück war als Ausrüstung sehr bescheiden, wenn man bedenkt, was heute alles in der Materialkiste eines Bergführers ist. Mit 900 Franken für den Sommerkurs und 700 Franken für den Skitourenkurs entsprach das Kursgeld damals etwa 12 Tagestarifen. Heute sind es fast 40 Tagestarife und der Kurs dauert doppelt so lange. Die Haftpflichtversicherung muss für den zwanzigfachen Betrag von den damals 500’000 Franken abgeschlossen werden.

Nach einigen Tagen Detailausbildung und Vorträgen, zum Beispiel über alpine Umwelt oder Erste Hilfe, stiegen wir zur Schreckhornhütte auf. Nach der Schreckhorntour starteten wir um 21 Uhr zu einer Rettung von zwei deutschen Touristen, die um etwa 16 Uhr nach der Rampe in einen Steinschlag geraten waren. Um Mitternacht erreichten wir die Unglücklichen. Kerzenlaternen und Taschenlampen spendeten ungefähr gleich viel Licht wie eine reife Aprikose. Einer kam mit Unterstützung von vorne und hinten auf den eigenen Füssen in die Hütte. Der andere musste mit dem Kanadier über den Bergschrund abgeseilt und zur Hütte transportiert werden. Umso mehr genossen wir Spiegeleier und Speck mit Rotwein, als wir nach einem 27-Stunden-Tag endlich beide in der Hütte hatten.

Zum Glück verzog sich der Nebel im Tal und am frühen Morgen konnten die beiden mit dem Hubschrauber ins Spital gebracht werden. Wir durften fünf Stunden schlafen und verbrachten den Nachmittag bei der Eisausbildung. Über das Klein Schreckhorn und Bösbärgli wechselten wir zur Glecksteinhütte. Die Schlechtwetterlage wurde für Ausbildung und Hüttenarbeiten genutzt. Es gelang uns auch, einen Steinbock in die Hüttenküche zu manövrieren. In die Enge getrieben, werden auch diese gemütlichen Tiere unberechenbar …

Klettereien auf der Göscheneralp, Gandschienpfeiler mit den groben Schuhen und die Prüfungen im Steingletscher rundeten den Kurs ab. 39 Burschen bestanden das Examen. Bei der Sprachprüfung wurde bei einigen wahrscheinlich nicht nur die Augen, sondern auch die Hühneraugen zugedrückt. Damals träumten alle vom freien Leben des Bergführers. Jetzt, nach über 40 Jahren, sind es nur noch wenige, die diesen herrlichen, aber harten Beruf ausüben. Viele fanden andere Beschäftigung mit sicherem Einkommen und regelmässigem Tagesablauf. Von den neun, die nicht mehr unter uns weilen, mussten drei ihr Leben in den Bergen lassen.

Unsere Generation hatte eine sehr gute Zeit, um diesen Beruf auszuüben. Jugend und Sport, Schweizer Alpen Club und Armee boten viele Kurse an, sodass viele Bergführer dort als Ausbildner arbeiten konnten. Private Kunden waren bereit, Bergführer wochenweise zu engagieren. Die Bergsteigerschulen florierten und gute Bergführer fanden dort treue Privatgäste. Unsere Nachfolger werden es nicht so einfach haben, gibt es doch viele grosse Organisationen, die in Sparten mit Hilfskräften arbeiten, die gesetzlich erlaubt sind. Touren werden heutzutage sehr kurzfristig gebucht, der Bergführer reist nicht mehr mit den Gästen, diese buchen den Berg und seinen Führer vor Ort und nicht mehr den Stammbergführer. Trotzdem würde ich diesen Beruf wieder ergreifen, um die Schönheit der Berge den Gästen zu vermitteln.

ARMIN OEHRLI, MÄRZ 2019


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