Das Vermächtnis Menuhins – wie weiter?

  28.06.2019 Kultur

Bei einem Besuch im Menuhin Center in Saanen erzählt der Musikliebhaber und ehemalige Gstaader Arzt Rolf Steiger, wie die Gedenkstätte zu Ehren des Starviolinisten Yehudi Menuhin und seiner Familie entstanden ist, was die Beweggründe dafür waren und wie er die Zukunft sieht.

MARTIN GURTNER-DUPERREX
Der Boden knarrt, die Räume sind klein und niedrig im ersten Stock des historischen Salzhüsis, einem heimeligen Holzchalet aus dem 18. Jahrhundert. Wir befinden uns im Menuhin Center mitten in Saanen. Dessen Initiant und unermüdlicher Förderer Rolf Steiger empfängt den Besucher herzlich. Sofort schlägt er einen kurzen Umgang durch die zwei Haupträume des Centers vor.

Überall grosse Vitrinen voller Objekte, Instrumente, Platten, Medaillen, Bücher, Briefe, Dokumente. An den Wänden hängen unzählige Fotos, Würdigungen, Diplome, Plakate, Programme.

Ein Mann steht im Zentrum dieses beeindruckenden Sammelsuriums – Lord Menuhin, der Geigenvirtuose, Pädagoge und Gründer des Gstaader Menuhin Festivals.

Stolz pickt Rolf Steiger hie und da ein Objekt heraus, wie die berühmte Geige aus China mit dem geschnitzten Kopf, Andreia Boves Bronzemaske, eine Schallplattenhülle. Ein Familienfoto der Menuhins. Menuhin andächtig beim Konzert in der Kirche Saanen. Menuhin und sein indischer Guru Iyengar in einer abenteuerlichen Yogastellung … Die Sammlung stammt teils von Steiger selbst, teils von Privatpersonen und Antiquariaten sowie aus dem Nachlass des ehemaligen Gstaader Kurdirektors Paul Valentin.

Wir setzen uns an den Tisch und Rolf Steiger beginnt zu erzählen, wie das Menuhin Center vor 20 Jahren, kurz nach dem Tod des Musikers, entstanden ist.

Rotary und Philosophenweg
Als Governor von Rotary und unermüdlicher Promoter des Menuhin Festivals – er war von 1975 bis 1979 dessen Präsident – hat Steiger 1999 aus Anlass des 25. Geburtstags des Rotary Clubs Gstaad-Saanenland zu Ehren des grossen Geigers den Yehudi-Menuhin-Philosophenweg mitinitiiert.

Dieser Themenweg, bestückt mit Tafeln mit Zitaten des Meisters, sollte auf seinen ausdrücklichen Wunsch von Gstaad über die Stiftung Alpenruhe in die Mauritiuskirche Saanen führen, wo er 1957 sein Festival gegründet hatte. Das war gemäss Steiger typisch für Menuhin: Er wollte die beeinträchtigten Menschen miteinbeziehen.

Der Weg hätte im Juni jenes Jahres in Menuhins Beisein eröffnet werden sollen. Aber es kam anders – überraschend verstarb er am 10. März 1999 in Berlin. Und es war passenderweise in der Alpenruhe, wo der erste öffentlicher Gedenkraum für ihn eingerichtet wurde.

Mehr als eine Gedenkstätte
Als die Alpenruhe 2002 den Raum für eigene Aktivitäten benötigte, musste eine andere Lösung gefunden werden. Dank der Grosszügigkeit von Gstaad Saanenland Tourismus, der damals im Erdgeschoss das Tourismusbüro führte, konnte das Menuhin Center den ersten Stock im Salzhüsi in Saanen beziehen und 2003 seine Türen öffnen.

«Das Center ist nicht einfach nur ein Gedenkraum oder Museum. Es soll als Erinnerung an Menuhins Wirken und Familie dienen, aber auch zum Sammeln und Forschen», erläutert Steiger.

Von Rotaryclub und Gemeinde in bescheidener Weise subventioniert, finanziere sich der kleine Verein seither durch Spenden, Bücher-, Karten- sowie Plattenverkauf. Auch die Honorare, die Rolf Steiger als Musikkritiker jahrelang in Zeitungen veröffentlichte, kamen dem Center zugute.

Steiger schätzt vorsichtig, dass ungefähr 500 Personen pro Jahr den Gedenkort besuchen, besonders während dem Festival. Einige Gruppen kämen von weit her, z.B. aus Neuseeland oder China, welches eine wachsende Menuhin-Fangemeinde verzeichne – schliesslich sei einer seiner Schwiegersöhne Chinese. «Bisher sind drei Gästebücher gefüllt worden», hält Steiger stolz fest. Das Center sei sehr wahrscheinlich im Ausland bekannter als in der Schweiz, sinniert er.

Ein Kulturzentrum moderner Art
Letztes Jahr ist das Tourismusbüro aus dem Erdgeschoss des Salzhüsis ausgezogen, um neue Lokalitäten zu beziehen. Rolf Steiger spielte mit der Idee, hier ein breit gefächertes Kulturzentrum ganz moderner Art zu schaffen, das sich im Sinn von Lord Menuhins grossem Beziehungsnetz mit Persönlichkeiten auseinandersetzen sollte, welche die internationale Kunst-, Politund Sportgeschichte im 20. Jahrhundert auch vom Saanenland aus geprägt haben.

Steiger ruft dringlich dazu auf, dass etwas getan werden müsse, damit dieses Erbe, das auf unserem Boden mitentstanden und gewachsen sei, nicht in Vergessenheit gerate. Ein entsprechendes Projekt sei bereits dem Gemeinderat von Saanen, der Eigentümerin des Salzhüsis, vorgestellt worden.


«Es geht um mehr als Tourismus, Bergbahnen und Wanderwege»

Rolf Steiger ist der Gründerpräsident des Menuhin Centers. Er weiss viel zu berichten über Yehudi Menuhin, seine Musik, seine Familie, sein Leben, seine Vision und Philosophie sowie sein enormes Beziehungsnetz, welches in Vergessenheit gerät.

MARTIN GURTNER-DUPERREX

Herr Steiger, wie haben Sie Yehudi Menuhin kennengelernt?
Als Jugendlicher habe ich Menuhin das erste Mal bei einem Konzert in Montreux gehört. 1974, ich war damals Arzt in Gstaad und Vorstandsmitglied des Verkehrsvereins, wurde ich Menuhin durch Gemeinderat Hans Sollberger persönlich vorgestellt. Nach meiner Wahl als Festivalpräsident traf ich ihn natürlich an den Vorstandssitzungen und manchmal bei ihm im Chalet.

Was war Yehudi Menuhin für ein Mensch?
Menuhin war eloquent, mehrsprachig, neugierig, sehr willensstark. Ein gefühlsvoller, unkomplizierter Mensch, der sein Brot wie jedermann in der Bäckerei kaufte, obwohl er zu seiner Zeit neben Charlie Chaplin der bestverdienende Künstler der Welt war. Er lebte mit der missionarischen Idee, durch Musik Frieden zu stiften – wer zusammen musiziert, bekriegt sich nicht.

Wie setzte er das konkret um?
Er wagte zu tun und auszusprechen, was er dachte. Während dem Zweiten Weltkrieg gab er über 500 Konzerte zugunsten der Alliierten. Als nichtpraktizierender Jude machte er – wie sein Vater – keinen Hehl aus seiner kritischen Haltung gegenüber dem Zionismus, seiner Sympathie für die Palästinenser. Andererseits war er einer der ersten Musiker, die nach dem Krieg wieder in Deutschland spielten. Auch zu Künstlern aus dem Ostblock hatte er gute Beziehungen. Er war ein grosser Humanist, der für die Grundrechte der Menschen einstand.

Hatte er auch Schwächen?
Oh ja, Menuhin war nicht ein einfacher Mensch. Als Wunderkind hatte er unter enormem elterlichem Druck gestanden, später erlitt er etliche Tiefs, kämpfte mit einem Burn-out sowie Schulterproblemen und hatte Eheprobleme. Und er konnte sehr ambivalent sein: Einerseits war er gegen Veränderungen, gegen die Öffnung des Festivals, andererseits hiess er diese «à contre coeur» dann doch gut.

Können Sie ein paar Beispiele nennen?
In den Siebzigerjahren war das Festival in der Krise und wurde von der Presse kritisiert. Menuhins Vision vom familiären Kammermusik-Festival mit Freunden musste erweitert werden, wenn es überleben wollte. So erlaubte es Menuhin, den Clown Dimitri und Appenzellermusik im Festivalprogramm aufzunehmen. Oder da waren die zwei Konzerte mit dem Startrompeter Maurice André, der die Kirche in Saanen bis zum letzten Platz füllte. Menuhin gestattete es nur unter der Bedingung, dass seine Schwester Hephzibah zusätzlich am Piano ein Mozartkonzerto spielte. Auch die Übernahme des Festivalzelts von Wengen akzeptierte er nur widerwillig.

Aus welchem Grund ist Menuhin damals ins Saanenland gekommen?
Anfang der Fünzigerjahre, nach der Geburt seiner Söhne Gerard und Jeremy, stellte sich Menuhin die Frage, wo er sich von Kalifornien kommend mit seiner Familie niederlassen sollte. Eigentlich wollte er nach London ziehen, seine zweite Ehefrau Diana zog aber die Schweiz vor. Und da war auch die Lindenhofschwester Marie Blaser, die Emmentaler Nanny seiner Kinder, die wohl Einfluss auf die Entscheidung hatte. Nach einem Aufenthalt in Mürren, der mit einem Krach geendet hatte, zog Familie Menuhin 1954 erstmals in ein Chalet hinter dem Palace ein.

Wie stark waren Menuhins mit dem Saanenland verwurzelt?
Menuhin war fasziniert vom föderalistischen System der Schweiz, er konnte sich schon früh vorstellen, seine Kinder in diesem Land aufwachsen zu lassen. Seine Buben gingen im Chalet Flora an der Krambrücke in den Kindergarten. 1960 schliesslich bauten Menuhins ihr eigenes Chalet «Chankly Bore». Seither kamen sie fast jährlich nach Gstaad, meist im Sommer. Mit dem von ihm 1956 gegründeten Festival hat er hier endgültig Wurzeln geschlagen.

Wie wichtig war Yehudi Menuhin für das Saanenland?
Er war enorm wichtig für die Region. Das Saanenland war damals eine periphere, landwirtschaftlich geprägte Region. Sein Festival und sein pädagogisches Wirken hat es geöffnet und bekannter gemacht. Die Internationale Menuhin-Musik-Akademie ermöglichte es ausserdem vielen jungen Menschen aus der ganzen Welt, hier zu studieren.

Sind denn die grossen Stars und Persönlichkeiten wegen Menuhin ins Saanenland gekommen?
Ich weiss es nicht. Diese Leute kamen sicherlich auch wegen dem internationalen Flair, der Weltoffenheit, der Natur und idealen Höhenlage, der Sicherheit, dem Flugplatz. Es war aber Yehudi Menuhins Verdienst, sie zusammengebracht und vernetzt zu haben.

Menuhin hatte also ein grosses Beziehungsnetz.
Ja, das vergisst man heute. Sein Ziel war es ja, Musik, Kunst und Wissenschaft zu verbinden. Typisch für ihn war, auf die Menschen zuzugehen und sie zusammenzubringen, mit dem Ziel, etwas zu bewirken. Das hat man hier verpasst, heute macht das niemand – ausser vielleicht Marcel Bach und Chaletbau Matti.

Aber warum denn?
Es ist den Saanern nicht bewusst, wie wichtig das ist – mit dem Verkauf von Chalets und Wohnungen ist es leider nicht getan. Chalets leben nicht! Es geht um mehr als Tourismus, Bergbahnen und Wanderwege. Menuhin pflegte Freundschaften zu so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Liz Taylor, Curd Jürgens, die Sachs, Peter Ustinov, Onassis und Yassir Arafat. Aber auch der Vordenker der Vereinigung Europas, Richard Coudenhove-Kalergi, der indische Philosoph Jiddu Krishnamurti und vor allem der Guru und Menuhins Yogalehrer B.K.S. Iyengar gehörten zu seinem Freundeskreis und spielten eine wichtige Rolle im Saanenland.

Was sollte man Ihrer Meinung nach tun?
Die Wichtigkeit solcher Beziehungen sollte wieder bewusst gemacht werden. Wenn diese Leute kommen, müssen sie sich geschätzt fühlen. Es fehlt an Einheimischen, die diese Beziehungen pflegen. Da liegt das Problem! Das Gstaad Symposium mit Margaret Thatcher und Peter Ustinov war damals ein gutes Beispiel. Wenn wir wirklich etwas in der Gesellschaft bewirken wollen, ist Persönlichkeitspflege enorm wichtig. Auch Ihre Zeitung kann dabei eine wichtige Rolle spielen. Schliesslich gehört es zur Aufgabe des Menuhin Centers, alles darüber zu sammeln, zu ordnen und zu bewahren, damit dieses grosse Vermächtnis nicht vergessen geht. Ich hoffe, dass auch die hiesige Bevölkerung Verständnis und Interesse dafür zeigt.


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