Dynastien in Demoktratien: der Sonderfall Indien

  26.07.2019

Der Rücktritt des Chefs der Oppositionspartei nach einer Wahlniederlage ist in einer Demokratie üblicherweise keine grosse Sache. Etwas anders ist das im Fall von Indien. Wenn nach dem zweiten Wahlsieg des hindu-nationalistischen Premierministers Narendra Modi der Oppositionsführer Rahul Gandhi Anfang Juli den Hut nimmt, dann ist das ein Einschnitt in der Geschichte Indiens. Denn es markiert faktisch das Ende der einst mächtigen Nehru-Gandhi-Dynastie. Und es verweist darüber hinaus einmal mehr auf die Tatsache, dass Dynastiebildung nicht ausschliesslich an die Staatsform der Monarchie gebunden ist. Mehr oder weniger deutliche Restposten dynastischen Denkens gibt es in praktisch allen politischen Systemen, selbst in Demokratien. Man denke bloss an die Kennedys, Bushs und Clintons in den USA. Der Wahlsieg des Konservativen Kyriakos Mitsotakis in Griechenland vor wenigen Wochen unterstreicht diesen Befund: Mitsotakis stammt aus einer der drei einflussreichen Politikerfamilien Griechenlands, die über Generationen hinweg die Politik des Landes massgeblich bestimmen.

In Indien dauerte die Dominanz der Nehru-Gandhi-Dynastie in der Kongresspartei gar über ein Jahrhundert. Insofern steht der Einfluss dieser Familie in der Partei und in einem demokratischen Staat weltweit einzigartig da. Der Stammvater des Familienclans, Motilal Nehru, präsidierte die Kongresspartei noch unter britischer Kolonialherrschaft. Sein Sohn Jawaharlal Nehru war von 1947 bis 1964 der erste Ministerpräsident des unabhängigen Indien. Die Bedeutung eines klingenden Namens in der Politik zeigt sich am Beispiel dieser Familie geradezu exemplarisch. Nehrus einzige Tochter Indira heiratete einen gewissen Feroze Gandhi und nannte sich fortan Indira Gandhi. Mit dem viel berühmteren Mahatma Gandhi, dem Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, bestanden keinerlei familiäre Beziehungen. Diese zufällige Namensgleichheit erwies sich für den Clan als politisch äusserst vorteilhaft, denn Mahatma Gandhi genoss quer durch alle Gesellschaftsschichten höchstes Ansehen. Der Fall zeigt eindrücklich, dass die Strahlkraft eines Namens in der Politik sogar dann stark sein kann, wenn der Familienclan gar keine verwandtschaftlichen Bande zum verehrten Idol hat. Allein der gute Klang des Namens konnte während Jahrzehnten in Millionen von Wählerstimmen umgemünzt werden.

Indira Gandhi war zweimal Ministerpräsidentin. Der älteste Sohn Rajiv war ebenfalls Regierungschef und fiel 1991, wie zuvor schon seine Mutter, einem politischen Attentat zum Opfer, was den Clan in den Status eines Mythos erhob. Rajivs italienischstämmige Frau Sonia Gandhi war bis 2017 Vorsitzende der einst mächtigen Kongresspartei. Ihr Sohn und Nachfolger Rahul, Vertreter der fünften Generation des Clans, galt nie als politisches Genie; schon 2014 erlitt die Kongresspartei eine empfindliche Niederlage.

Es ist kein Unglück, wenn diese dominante Familie langsam von der politischen Bühne verschwindet. Die dynastische Verkrustung und die grassierende Korruption haben die Kongresspartei nachhaltig diskreditiert. Doch waren die Gandhis eben auch die Garanten des von Jawaharlal Nehru begründeten demokratisch-säkularen Staates. Dieses Erbe ist bei den Hindu-Nationalisten unter Narendra Modi nicht in besten Händen. Der religiöse Friede zwischen Hindus und Muslimen ist in Indien ebenso gefährdet wie die einzigartige kulturelle Vielfalt des Subkontinents und generell die demokratischen Institutionen. Der marginalisierten Kongresspartei ist deshalb zu wünschen, dass sie die Kraft findet, einen Neuanfang als starke Oppositionspartei zu wagen, die Ära Gandhi hinter sich zu lassen und mit neuem politischem Personal die Zukunft Indiens mitzugestalten.

JÜRG MÜLLER
mueller@muralt-mueller.ch


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