Notre-Dame lässt Mauritiusorgel erstrahlen

  30.07.2019 Kultur

Das Menuhin-Festival-Sonntagskonzert in der Kirche Saanen war ganz und gar der Königin aller Instrumente gewidmet. Olivier Latry gab auf der Orgel Werke von Alexandre-Pierre-François Boëly, Johann Sebastian Bach, Robert Schumann, Franz Liszt, Charles-Marie Widor, Gabriel Pierné und Camille Saint-Saëns zum Besten.

ÇETIN KÖKSAL
8000 Pfeifen verteilt auf 156 Reihen, und 115 Register, die über 5 Manuale plus Pedalerie angespielt werden. Das ist beziehungsweise war das Hauptarbeitsgerät von Olivier Latry. Seit seinem 23. Lebensjahr amtet er als einer von drei Titularorganisten von Notre-Dame de Paris. «Seine» 1868 von Aristide Cavaillé-Coll erbaute, grösste Orgel Frankreichs wurde wie durch ein Wunder vom dramatischen Ereignis am 15./16. April dieses Jahres verschont. Die Flammen zerstörten zwar die kleine Orgel auf der Seitenempore, das tausendstimmige Orchester wäre aber erstaunlicherweise immer noch spielbar gewesen. Die grosse Orgel wird nun für eine Weile geschützt in eine unfreiwillige «Auszeit» gehen, ehe sie uns nach den Renovationsarbeiten von Notre-Dame wieder mit ihrem Wohlklang berühren wird. Bis es soweit sein wird, muss sich der Virtuose Olivier Latry wohl oder übel mit anderen Instrumenten «begnügen». Nun war die Reihe an «unserer» schönen Mauritiusorgel.

Zart, differenziert, verspielt
Worin unterscheidet sich der herausragende Organist von seinen durchschnittlicheren Kollegen? Vielleicht darin, dass die einzelnen Registerstimmen klar ausgearbeitet und nebeneinander hörbar sind. Sie vermischen sich nicht zu jenem Einheitsbrei, der dann als unpräziser, ja manchmal sogar diffuser Klangteppich daherkommt. Dass Olivier Latry eindeutig zu den Herausragenden gehört, durfte der Zuhörer bereits zu Beginn bei der Fantasie und Fuge in B-Dur von Alexandre-Pierre-François Boëly feststellen. Die Mauritiuskönigin erklang in den feinsten Facetten und vermittelte auch wegen der stupenden Präzision des Solisten ein Gefühl von innerer Ruhe und durchdachter Ausgewogenheit. Beeindruckend war auch die leichtfüssige Verspieltheit, welche Olivier Latry der «Marche du veilleur de nuit» von Charles-Marie Widor angedeihen vermochte.

Virtuos, souverän, prachtvoll
Bei Franz Liszts Präludium und Fuge über den Namen B-A-C-H durfte der Konzertbesucher über die Virtuosität des Solisten staunen. Dabei handelte es sich nicht um eine zur Schau gestellte, sich beinahe unangenehm aufdrängende Technikbrillanz – nein – es war jene souveräne Beherrschung sämtlicher Schwierigkeiten, die sich vollumfänglich in den Dienst des Werkes legt. Wie beiläufig erkannte man erst mit der Zeit, wie elegant und selbstverständlich der Solist auch die anspruchsvollsten Stellen so integrierte, dass seine Interpretation zu einem gelungenen grossen Ganzen wurde.

Johann Sebastian Bach hat sich bestimmt aus dem Elysium über die ihm gewidmete Hommage gefreut. Das Publikum tat es ihm gleich und wurde mit zwei Zugaben beschenkt, wobei Rachmaninoffs Transkription für Klavier der 3. Partita für Solo-Violine auf der Orgel ein weiterer Höhepunkt des Abends war. Der völlig zu Recht als einer der besten Organisten unserer Zeit betitelte Olivier Latry brachte die wahre Königin des Saanenlandes zum Strahlen. Sie durfte ihr volles Gefühlsspektrum klangvoll zum Ausdruck bringen. Auf dass ihr bald wieder ein so kundiger Künstlerprinz oder -prinzessin die Aufwartung machen möge!


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