Perfekte Steilpisten dank Gstaader Erfindung
02.07.2019 GstaadDas weltweit eingesetzte Seilwindengerät auf den Pistenmaschinen wurde 1983 für den Tiger Run am Wasserngrat entwickelt. Die Idee dazu hatten Ernst Andrea Scherz, Fred Rölli und Konrad Brand.
BLANCA BURRI
Für den Genussskifahrer gibt es nichts Schöneres, als die erste Gondel zu nehmen und anschliessend über die präparierte Piste zu gleiten. Gerade steile Hänge konnten aber bis in die 1980er-Jahre nicht präpariert werden. Wilde Buckelpistenfahrten waren die Folge. Dann aber wurde die Seilwindentechnik auf Pistenfahrzeuge angepasst. Sie verhilft, steile Hänge glatt zu pressen und mit perfekten Rillen auszustatten. Und wer hat die Seilwindentechnik für Pistenbullys und Co. erfunden? Es war Teamarbeit: Konrad Brand, Leiter Technik an der Wasserngratbahn, und Fred Rölli, Besitzer der Fred Rölli Garage, gelten als die kreativen Köpfe. Mit an Bord waren aber auch Ingenieur Wiederkehr der Plumettaz AG, Herr Brändli, BIBUS Hydraulik AG, sowie die Firma Gebrüder Würsten in Gstaad.
Die Lösung: Seilwinde im Zentrum
Ernst Andrea Scherz erinnert sich noch gut an jenen Samstagabendtreff 1983 in der Oldenbar. «Ich fragte Fred Rölli nach einer Idee, wie man die Wasserngratpisten im Winter attraktiver machen könnte.» Ernst Scherz war damals Präsident der Wasserngrat AG und suchte nach neuen Quellen für Mehreinnahmen, denn: «Die Bahn stand in diesen Jahren finanziell immer auf unsicheren Beinen.» Fred Rölli war sich bewusst, dass einige der attraktiven Skihänge am Wasserngrat für die Pistenpräparation zu steil waren und deshalb nur als anspruchsvolle Buckelpiste im Einsatz waren. Er empfahl Scherz, den späteren Tiger Run mechanisch zu bearbeiten und lieferte auch gerade die Idee dazu: Die Seilwindentechnik, welche auch bei Panzern oder Jeeps eingesetzt wurde. Diesen Gedanken hatte auch Konrad Brand, der sich seit vielen Jahren mit dem Thema auseinandergesetzt hatte. Tests zeigten, wie schwierig es war, eine qualitativ hochstehende Pistenpräparation mittels Seilwinde zu bewerkstelligen.
Erst verfolgte das Team die Idee, eine stationäre Seilwinde im Gelände zu montieren. Davon kam man aber schnell wieder ab, weil es zu viele Unsicherheiten gab. Ein Mitarbeiter hätte nämlich am Hang stehen müssen, um die Maschine zu bedienen. Die Kosten wären also sehr hoch gewesen. Daneben befürchtete man, dass die Seilwinde nicht gleich schnell wie das Pistenfahrzeug war und der Zug sich dauernd veränderte. Die Kommunikation zwischen dem Pistenbully-Fahrer und dem Seilwindenbediener wäre eine Herausforderung gewesen. Eine zweite Variante war, die Seilwinde direkt auf dem Fahrzeug, und zwar am Heck oder an der Front zu befestigen. Doch auch hier stellten sich zu viele Fragen. Klar war, dass das Pistenfahrzeug bei dieser Variante nicht steuerbar gewesen wäre. Nur eine Pistenbreite wäre präpariert worden, bevor man das Seil in einen neuen Anker eingehängt hätte. Erst nach langem Tüfteln stellte sich heraus, dass die Seilwinde im Zentrum des Pistenfahrzeugs befestigt werden muss. So war das Fahrzeug jederzeit lenkbar, auch wenn es durch das Seil gesichert war.
Tüfteln und Schrauben
Fred Rölli legte bei Ernst Scherz ein gutes Wort bezüglich Entwicklungskredit ein. Nach einigem Hin und Her sicherte die Wasserngrat AG ein Budget von 30’000 Franken zu. Sofort bestellten Fred Rölli und Konrad Brand eine Winde mit 400 Metern Seil, die auf zwei Tonnen Gewicht ausgerichtet war.
Die nächste Herausforderung lag im Antrieb der Seilwinde. Wie die Raupen und die Schneefräse wird auch die Seilwinde hydraulisch gesteuert. Doch wie bewerkstelligt man, dass das Seil bei jeder Geschwindigkeit denselben Zug aufweist? Das aus der Schifffahrt bekannte Mooringsystem schaffte Abhilfe. «Das ist ein sehr raffiniertes System und wurde mir von einem Techniker der BIBUS Hydraulik AG empfohlen», erinnert sich Konrad Brand. Nachdem der Cheftechniker den Plan dafür erhalten hatte, folgte weiteres Tüfteln und Bauen.
Puzzleteile zusammensetzen
Den Rahmen zur Befestigung der Winde und weitere Elemente stellten die Gebrüder Würsten in Gstaad her. Die Montage übernahm Konrad Brand gemeinsam mit dem Konstruktionsschlosser Michael Perreten. «Bei der Jungfernfahrt war mir schon mulmig zumute», verrät Brand. Grund war nicht nur die neue Technik: «Die Seilwinde wurde ohne Notbremse geliefert!» Zwar habe Brand noch diverse Anstrengungen unternommen, die Notbremse vor der Wintersaison einbauen zu lassen, doch das wollte aus verschiedenen Gründen nicht klappen. Also präparierte er die damals steilste Piste des Saanenlandes ohne Notbremse. «Das Räumschild hatte ich immer ‹ufem Passuf›», verrät er. Er war also stets bereit, das Räumschild zu senken und damit die alternative Bremse einzusetzen. Im folgenden Sommer wurde die Notbremse noch nachgerüstet. «Nüwschti» (zum Glück) brauchte er sie in seinen 40 Jahren bei der Wasserngratbahn nie einzusetzen. Über die neue Technik stand im «Anzeiger von Saanen» am 6. April 1984: «Dank hydraulischem Antrieb und vollautomatisierter Regulierung des Seilzugs zieht sich die Pistenmaschine selbst den Hang hoch und ist auch gesichert für die Talabfahrt.» Passend zum Nervenkitzel auf der Talabfahrt erhielt die Piste den Namen Tiger Run, sie galt lange Zeit als die Attraktion des Saanenlandes.
Zu günstig verkauft
Die neue Erfindung sprach sich schnell herum. Ingenieure und Pistenchefs von weither besuchten den Wasserngrat, um die Weltneuheit zu begutachten. Die Konkurrenz liess nicht lange auf sich warten. Bereits im folgenden Winter setzte das Schilthorn die neue Technik ein. Konrad Brand half bei den Vorbereitungen zum Bau des zweiten Prototyps. Die Wasserngrat AG kassierte dafür 50’000 Franken. «Das war für unsere schwachen Finanzen Gold wert», blickt Ernst Scherz zurück. Fred Rölli bedauert: «Wir hätten besser einen Stückvertrag statt eine Pauschale ausgehandelt, dann wären wir heute gemachte Leute.» An einer Medienkonferenz stellte das Schilthorn die Neuheit einer breiten Öffentlichkeit vor. Der damalige Konzernchef von Kässbohrer meinte laut Brand: «Das System setzt sich niemals durch!» Trotzdem sprang der Hersteller auf den Zug auf. «Bereits ein Jahr später gab es eine Viererserie, drei Jahre später folgte eine 40er-Serie», erinnert sich Brand. Gerne hätte Fred Rölli die Erfindung patentieren lassen, was nicht gelang, denn es wurden nur Teile verwendet, die es bereits gab. Die in Gstaad erfundene Technik wird heute von allen Pistenfahrzeugherstellern rund um die Welt eingesetzt.