Glauben Sie an Engel?

  25.10.2019 Kirche

Raffaels Putten
Glauben Sie an Engel? – Engel sind ja beliebte Figuren der christlichen Frömmigkeit. Sie können ganz niedlich erscheinen wie Raffaels Putten, die frech und pausbäckig wie kleine Kinder daherschauen und auf Postkarten und Tassen weit verbreitet sind. Engel können aber auch bedrohlich und grausam wirken: Ein Engel vertreibt Adam und Eva aus dem Paradies und bewacht den Zugang, damit sie nicht wieder zurückkönnen. Engel erscheinen in der Bibel oft als Boten: Maria erfährt von einem Engel, dass sie mit dem Jesuskind schwanger ist. Ein Engel informiert auch die Hirten auf dem Feld von Bethlehem über die Geburt des Heilands.

Engel in der Bibel
Engel tauchen einzeln auf, oft aber auch als Engelchor oder etwas militärischer als Engelheer. Dem einzelnen Botenengel auf dem Hirtenfeld folgt die Menge der himmlischen Heerscharen, um das grosse Gotteslob zu singen, in das wir an Weihnachten mit einstimmen. Eine Vielzahl von Engeln sieht im 8. Jahrhundert vor Christus der Prophet Jesaja in seiner Vision, in der er Gott im himmlischen Thronrat erblickt: «Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: Mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füsse und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!» (Jesaja 6,2-3).

Glauben Sie an Engel?
Aber zurück zur Ausgangsfrage: Glauben Sie an Engel? – Wahrscheinlich nicht an solche Engel wie sie Jesaja oder Maria oder die Hirten auf dem Feld von Bethlehem gesehen haben. Aber auf Engel ganz verzichten wollen oder können Sie vielleicht auch nicht. Sie gehören ganz fest zum religiösen Inventar, ganz gleich ob bei Christen, Juden oder Muslimen.

Engellehre im Mittelalter
Was aber genau sind Engel? – Mit einer ausgebauten Lehre von den Engeln versuchte die mittelalterliche Theologie, verständlich und nachvollziehbar zu machen, wie Gott in der Welt und für die Menschen wirksam ist. Und um das wahrzunehmen, sind unsere fünf Sinne ganz entscheidend.

Ich denke, wir heutigen Menschen leiden oft unter einer zu abstrakten Vorstellung von Gott. Gott ist der ganz andere, der Transzendente. Mit ihrer Engellehre haben die Alten hingegen eine sehr viel präzisere Sprache gefunden, um das Wirken Gottes in der Welt und für uns Menschen zu beschreiben. Sie haben nicht einfach eine abstrakte Theorie oder umfassende Welterklärung entwickelt. Sie haben einfach festgestellt, was Gott ausmacht: Güte und Liebe – wo wir diese entdecken, da ist Gott am Werk. Und jetzt ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Engellehre. Denn Engel sind nichts anderes als die kleinen Formen der Gegenwart Gottes. Engel haben keine Materie, keinen Körper, sie sind an ihren Wirkungen zu erkennen.

Engel erkennt man an ihren Wirkungen
Engel müssen also keine Flügel haben. Engel müssen auch gar nichts Mystisches, Gespenstisches oder Geheimnisvolles an sich haben. Als Engel Gottes kann alles dienen, was uns in der beschriebenen Weise hilft und nützlich ist: wenn uns jemand einen guten Rat gibt; wenn uns jemand zurückhält, damit wir nicht von einem Auto überfahren werden; wenn uns jemand vor einer Gefahr warnt, die wir übersehen; wenn wir traurig sind und uns jemand zu trösten vermag; wenn uns eine gute Nachricht ereilt und eine bedrückende Angst verfliegt; wenn uns verziehen wird; wenn wir Neues erkennen und uns ein Licht aufgeht; wenn wir einen Konflikt unbeschadet überstehen; wenn wir zu Gott beten und spüren, dass uns geholfen wird.

Für all das fehlt uns Heutigen oft die Sprache, es zu würdigen und als geistliche Erfahrung der Gegenwart Gottes zu beschreiben. Die Alten hatten dafür ihre Lehre von den Engeln. Vielleicht sollten wir bei ihnen wieder lernen, was Engel sind.

«Von guten Mächten wunderbar geborgen»
Der deutsche Theologe, Widerstandskämpfer und Märtyrer Dietrich Bonhoeffer war ein Mensch, dem Engel sehr wichtig waren. Weltweit bekannt ist sein Gedicht, in dem es in der letzten Strophe heisst: «Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag, Gott ist bei uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag.»

Dieses Gedicht legte er in verschärfter Gestapo-Haft im Dezember 1944 seinem letzten Brief an seine Verlobte Maria von Wedemeyer bei, bevor er einige Monate später auf persönlichen Befehl von Adolf Hitler hingerichtet wurde.

Ein Brautbrief
Da schreibt Dietrich Bonhoeffer: «Meine liebste Maria! Ich bin so froh, dass ich Dir zu Weihnachten schreiben kann, und durch Dich auch die Eltern und Geschwister grüssen und Euch danken kann. Es werden sehr stille Tage in unsern Häusern sein. Aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit Euch gespürt. Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt.»

In der Stille
Eine Einsamkeit wie Bonhoeffer sie erlebte, werden die wenigsten von uns kennen. Zu laut und umtriebig ist die Welt, in der wir leben. Aber vorstellen können wir es uns schon und manchmal, zum Beispiel im Urlaub oder in einer anderen stillen Stunde, da können auch wir Organe entwickeln und Verbindungen spüren, die uns im Alltag verborgen sind. Einsamkeit, Sehnsucht, auch Trauer können einen sensibel machen für das, was wir sonst übersehen und überhören.

Was können wir spüren?
Dietrich Bonhoeffer beschreibt seiner Maria gegenüber weiter, was für ihn in seiner Situation alles zu spüren ist: «Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr seid mir immer ganz gegenwärtig. Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor. Es ist ein grosses unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat. Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heisst: ‹zweie die mich (zu-)decken, zweie, die mich (auf-)wecken› so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder.»

Engel als «gute Mächte»
Die guten Mächte – das sind also nichts anderes als Engel. Dietrich Bonhoeffer schreibt es an seine Maria in wünschenswerter Deutlichkeit. Während seiner Haftzeit hat er immer wieder überlegt, wie man die alten christlichen Begriffe so sagen kann, dass sie auch für moderne Menschen verstehbar und einleuchtend werden. Für das alte Wort «Engel» hat Bonhoeffer das Wort «gute Mächte» gefunden und tatsächlich ist diese Übersetzung ganz und gar geglückt.

Keine Gespenster
Geglückt ist ihm aber auch noch etwas anderes: Dietrich Bonhoeffer hat mit seiner Beschreibung dessen, was er als Engel und gute Mächte erlebt, an die konkreten Vorstellungen der mittelalterlichen Frömmigkeit angeknüpft. Gottes Engel begegnen ihm nicht als gespenstische Wesen, sondern ganz handfest als seine Braut Maria, als seine Eltern, als Freunde und Schüler: «Ihr seid mir immer ganz gegenwärtig», sagt er. Und seine Aufzählung der Engel, die ihn umgeben, geht weiter: «Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher».

Das alles erlebt Dietrich Bonhoeffer als gute Mächte, als Engel, als kleine Form der Gegenwart Gottes. Und diese Engel, da ist sich Bonhoeffer sicher, brauchen Erwachsene nicht weniger als Kinder.

Gar nicht weltfremd
Die Begleitung durch Gottes Engel heisst nicht, dass uns im Leben nichts Böses passieren kann. Der christliche Glaube ist ja nicht weltfremd, auch Bonhoeffer wurde hingerichtet und hat mit dieser Möglichkeit fest gerechnet, als er sein Gedicht schrieb. Die Begleitung durch Gottes Engel heisst aber, dass wir nicht allein sind, was immer uns geschieht. Die guten Mächte sind um uns am Abend und am Morgen.

Auch in schweren Zeiten
Und noch etwas gilt es zu sagen: Gerade wenn es uns schlecht geht, neigen wir dazu, die Engel und guten Mächte zu übersehen, die um uns sind. So verwundet und verstört sind wir dann manchmal, dass wir Hilfe gar nicht wahrnehmen und nicht annehmen können. In dieser Not kann uns Dietrich Bonhoeffers Gedicht helfen. Seine Botschaft ist: «Nimm wahr, was an guten Mächten um dich ist. Es sind viel mehr Engel da als du glaubst. Höre doch auf die Musik der Engel und ihren Gesang. Du bist nicht allein. Gottes Engel sind bei dir.»

PETER KLOPFENSTEIN


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