«Bilder reichen oft nicht als Beweis»

  26.11.2019 Kultur

Lügen Alpinisten – oder sagen sie einfach nicht die ganze Wahrheit?

SARA TRAILOVIC
«Jeder Bergsteiger kommt manchmal in Situationen, in denen er nicht sicher ist, ob er wirklich auf dem Gipfel gewesen ist», sagte Mario Casella am Kulturabend des Wellness- & Spa-Hotels Ermitage vergangenen Donnerstag. Er diskutierte gemeinsam mit Daniel Anker und Luzia Stettler, Literaturredaktorin bei Radio SRF, über sein Buch. «Die Last der Schatten» greift ein wichtiges Tabuthema auf: Lügen und Halbwahrheiten im Alpinsport. «Ich hatte vor der Publikation etwas Angst, eine Lawine auszulösen», gestand der Autor des Buches in Schönried.

Die Kontroverse um Ueli Steck
«Ueli, wo warst du?», betitelte «das Magazin» im Frühjahr 2015 die Kontroverse um Ueli Stecks Erstbegehung des Achttausenders Annapurna. Der Extrembergsteiger hatte die Südwand des Gipfels im Himalaya nach seinen Angaben erklommen, konnte dies jedoch nicht nachweisen, da seine Kamera von einer kleinen Lawine mitgerissen worden war. Doch der fehlende Beweis alleine konnte nicht einziger Auslöser für das Misstrauen gewesen sein. Denn viele Alpinisten dokumentieren ihre Touren nicht akribisch und müssen darauf zählen, dass die Leute im Tal auf ihr Wort vertrauen.

Wenige Tage nach Ueli Stecks Tour vor vier Jahren herrschte in den Medien eine rege Diskussion um die Wahrhaftigkeit seiner Leistung. Kann es sein, dass Steck innerhalb 28 Stunden technisch anspruchsvolle 2350 Meter hinauf- und hinuntergeklettert ist? Mario Casella traf den Sportler während dieser belastenden Zeit und führte ein emotionales Gespräch mit ihm. «Ueli Steck war froh, mit einer fremden Person zu sprechen, die etwas vom Metier verstand.»

Das Menschliche im Vordergrund
«Casella arbeitete nicht wie ein Detektiv», erläuterte Moderatorin Luzia Stettler am Donnerstagabend, «das Menschliche hat ihn interessiert.» Casella bestärkt: «Mich interessiert, wieso die Sportler lügen und was das Misstrauen mit ihnen macht.»

Was hat zum Beispiel Christian Stangl dazu bewogen, ein Bild an zahlreiche Whatsapp-Kontakte zu schicken und darunterzuschreiben, er stünde auf dem K2, obwohl er sich 1000 Meter darunter befand. Anhand der Spiegelung der Bergkette in seiner Skibrille kam die Lüge schnell ans Licht. In einer darauf folgenden Medienkonferenz gestand Stangl weinend: «Ich habe gelogen.» Im Gegensatz dazu beharrt Cesare Maestri bis heute darauf, den Cerro Torre in den patagonischen Anden per Neuroute begangen zu haben, obwohl bewiesen wurde, dass dies nicht stimmt. Daniel Anker wundert sich, «wieso sich Maestri, der als ‹Spinne der Dolomiten› bekannt war und unglaubliche Touren geschafft hat, bis heute an seiner Aussage festkrallt».

Wo liegt die Grenze zur Lüge?
«Träger, die bei Erstbesteigungen im 19. Jahrhundert dabei waren, fand man eigentlich nie auf der Namensliste», empörte sich Daniel Anker, der Alpinhistoriker, welcher das Vorwort in der deutschen Übersetzung von «Die Last der Schatten» verfasst hat. «Das ist zwar nicht gelogen, aber auch nicht die ganze Wahrheit.» Aber auch die aktuellen Gipfelerlebnisse bei kommerziellen Touren in Nepal könnten angezweifelt werden. Casella, der selbst schon in diesem asiatischen Land unterwegs war, weiss: «Die Fixseile enden manchmal 15 Meter unterhalb des Gipfels.» Viele Touristen würden zu Hause bestimmt trotzdem sagen, sie seien ganz oben gewesen.

Casella würde daher eine offizielle Toleranzzone einführen. «In manchen Fällen ist es gar nicht so klar, wo genau sich der Gipfel befindet», sagte der Journalist in Schönried. «Besonders bei schlechter Sicht und unter Einfluss der grossen Höhe können Unsicherheiten und sogar verzerrte Wahrnehmung entstehen.» Der Gipfel des Annapurna im Himalaya erstrecke sich zum Beispiel über mehrere Hundert Meter. Bis heute ist umstritten, ob Steck auf dem Annapurna war oder nicht. «Mir ist es am Schluss nicht wichtig, ob Ueli Steck wirklich oben war», so der Autor. «Er war auch ohne diesen Gipfel ein unglaublicher Bergsteiger.» Auch Daniel Anker stimme es traurig, wenn grossartige Sportler auf solche kontroverse Fälle reduziert würden.

Persönliche Highlights
Luzia Stettler fragte die beiden Alpinisten nach ihren persönlichen Toptouren. Mario Casella nannte nicht etwa den Achttausender Cho Oyu zwischen Nepal und Tibet, den er vor 30 Jahren begangen hatte, sondern die Kaukasus-Traversierung. Und das, «obwohl es sich nicht um einen Berg, sondern um einen Pass handelt, der technisch nicht schwierig ist.» Es sei einfach unglaublich gewesen, als er nach zwei Monaten in Sotschi angekommen sei und zum ersten Mal das Schwarze Meer gesehen habe. Daniel Anker erinnert sich an eine Tour auf den Gastlosen. «Ich kletterte alleine eine unübliche Route zum Dent de Combette – das wurde ein bisschen ziemlich spannend.»

«Bilder reichen nicht als Beweis»
Die «Läsi-Stube» des Hotels Ermitage war gut besucht. Im Publikum waren auch Leute, die selbst Bergführer/ innen oder begeistere Berggänger/innen sind. Nach der Buchdiskussion sassen Gäste und Referenten noch lange in der Hotelbar zusammen, um Erlebnisse auszutauschen. Denn das Thema der Fake News im Bergsport bleibt auch in Zeiten von zuverlässigen Ortungsgeräten und allgemeinem Sharing-Drang aktuell. «Bilder reichen oft nicht als Beweis», so Mario Casella. Das Selfie, welches er selbst auf dem 8200 Meter hohen Cho Oyu geschossen habe, könnte vom Hintergrund her auch im Tessin entstanden sein.

Dass Leistungen nicht wahrheitsgetreu kommuniziert werden, ist nicht nur im Bergsport anzutreffen. Denn alle Sportler stehen unter Druck von Social Media, Sponsoren und dem Trend, dass immer alles schwieriger und spektakulärer werden muss. «Ich wurde von allen möglichen Sportklubs und sogar von Banken für Buchvorträge angefragt», so der Tessiner. Ein Beweis dafür, dass Lügen nicht nur alpinistisch, sondern menschlich ist.

Mario Casella: «Die Last der Schatten. Wenn Alpinisten nicht die ganze Wahrheit sagen». AS Verlag, Fr. 29.80.


ZU DEN PERSONEN

Mario Casella, geboren 1959, ist Journalist, Filmemacher und Bergführer. Er arbeitete viele Jahre hauptberuflich für das Radio und Fernsehen der italienischen Schweiz. Im September 2018 erhielt Casella den Albert Mountain Award für seine Bücher und Dokumentarfilme zum Thema Alpinismus.

Daniel Anker ist 1954 in Schaffhausen geboren und schloss sein Geschichtsstudium in Bern mit einer Arbeit über den Schweizer Alpen-Club ab. Der Alpinhistoriker ist Herausgeber zahlreicher Monografien zu Schweizer Gipfeln sowie Skitouren-, Wander- und Radführer.


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote