Reise ans Ende der Nacht

  24.01.2020 Kultur

Man kann den kontrovers diskutierten Autor Louis-Ferdinand Céline und seinen anarchistischen Roman «Voyage au bout de la nuit» mögen oder auch nicht. Die für das Theater adaptierte Version von Franck Desmedt aber, die er vergangenen Montag im Gstaad Palace als Schauspieler selber auf die Bühne brachte, war in jeder Hinsicht bemerkenswert.

SONJA WOLF
Franck Desmedt spielte die Lebensreise des anfangs 20-jährigen Medizinstudenten und späteren Arztes Ferdinand Bardamu durch alle Finsternisse dieser Welt: durch den Ersten Weltkrieg, durch psychiatrische Kliniken, ins finstere Herz des französischen Kolonialismus in Afrika, durch die Spelunken New Yorks, die monotone Fliessbandarbeit bei Ford in Detroit und als Armenarzt durch das Elend der Pariser Vorstädte.

Herausfordernde Umsetzung
Keine einfache Aufgabe: Das Team um Desmedt hat sich bei der Bühnenadaptation dazu entschieden, alle diese Lebensstationen des Bardamu aus der über 650 Seiten starken Romanvorlage in nur einer Stunde zu zeigen. Dies schaffte er in einer beeindruckenden Vielseitigkeit und Wandelbarkeit. Bewusst war die Bühnendekoration minimalistisch gehalten: Sie bestand gerade einmal aus einem Garderobenständer und einer Mülltonne. Diese Tonne diente dem Schauspieler als Sitzgelegenheit, als Floss oder als Auffangbecken des Regens, den sich Desmedt symbolisch aus einer Karaffe über den Kopf schüttete. Zwischen den einzelnen Stationen gab es Musik oder Dunkelheit. Generell waren die Licht- und sparsam eingesetzten Toneffekte die einzige Unterstützung des Schauspielers, der alle Personen des Romans selber authentisch wiedergab. «Je minimalistischer die Ausstattung, desto besser funktioniert die Vorstellungskraft bei den Zuschauern», war der Mime im Gespräch nach der Vorstellung überzeugt.

«Die Reise ans Ende der Nacht» ist aber nicht nur eine physische Reise durch die Lebensstationen des Helden Bardamu. Es ist auch eine Reise vom Leben in den Tod. Der mit dem Molière-Theaterpreis ausgezeichnete Schauspieler Desmedt interpretierte es so: «In jeder Reisestation engagiert sich der Held, er ist dabei aber zu optimistisch, erwartet zu viel von den Menschen und deshalb wird er enttäuscht und fällt immer tiefer und tiefer.» Im letzten Tableau – man sieht laut Desmedt inzwischen fast autobiografisch den Autor Céline selber – ist der Tiefpunkt erreicht. «Es gibt keine Hoffnung mehr, alles ist schwarz» und deshalb ende das Bühnenstück auch symbolisch: «Das Licht ist nicht mehr ihm gegenüber, sondern hinter ihm«, resümierte der Schauspieler und Direktor des Theaters Huchette in Paris, wo diese Adaptation entstand.

«Kleine Juwelen»
Das gesellschaftskritische und anarchistische Stück wurde im Rahmen der Le Rosey Concert Hall aufgeführt, dessen Jahresprogramm Pascale Méla zusammenstellt. Méla organisiert auch das einwöchige «Festival de Théâtre aux Jardins» jeden Juni und ist Verwaltungsdirektorin der International Menuhin Music Academy auf dem Campus des Le Rosey in Rolle.

Sie besucht regelmässig die Pariser Theater und das Festival d’Avignon, um «kleine Juwelen» herauszupicken, sei es in Form von modernen oder klassischen Konzerten sowie Theaterstücken. Für die drei Monate Winteraufenthalt der Schule in Gstaad wird jeweils ein Theaterstück ausgesucht; das erste Gstaader Concert-Hall-Event war Stefan Zweigs «Schachnovelle» vor drei Jahren. Die Aufführungen richten sich an die Öffentlichkeit, es waren bei der diesjährigen Gstaader Aufführung aber auch wieder einige Le-Rosey-Schüler im Saal.

Kontrovers diskutiert
Auf die Frage, warum Pascale Méla gerade dieses nicht ganz einfache Stück ausgewählt habe, erklärte sie, es sei vor allem wegen seines Stils ein Meilenstein der französischen Literatur geworden. «Die Sprache des Romans war für das französische Lesepu blikum bei seiner Veröffentlichung 1932 eine absolute Neuheit – fast wie ein Schock.» Keine zehn Jahre, nachdem Proust das literarische Hochfranzösisch habe aufblühen lassen, tue Cé- line das absolute Gegenteil: «Er schreibt, wie das Volk der Vororte spricht, in ordinärster Umgangssprache.» Er beschreibe – wie Zola – die menschliche Misere, aber «bei Céline hat man das Gefühl, direkt bei den Menschen dabei zu sein, alles mit ihnen mitzuerleben, bedrückend von unten, aus der Sicht der Erniedrigten.»

Und zur Auswahl des Schriftstellers Céline, der nur fünf Jahre nach der «Reise» offen antisemitische Pamphlete veröffentlicht hatte, die seinen Ruf stark beschädigt haben, ergänzte Méla: «Man muss den Menschen vom Künstler trennen. Etwas Ähnliches passiert gerade mit Polanski: Er ist ein grosser Cineast. Aber man will sicher nicht unbedingt mit dem Menschen Polanski befreundet sein und wissen, was er in seinem Privatleben macht.» Auch Céline müsse man als schaffenden Künstler würdigen, welcher der französischen Literatur etwas fundamental Neues gebracht hat.


LE ROSEY CONCERT HALL

«Die ursprüngliche Idee der Le Rosey Concert Hall in Rolle war, den eigenen Schülern die Kultur näherzubringen», erklärt Eventkoordinatorin Gisela van Bulck das Konzept. «Die Schüler der höheren Klassen sind dazu aufgefordert, pro Jahr drei Aufführungen in der Concert Hall zu besuchen, sei es ein Jazzkonzert, klassische Konzerte, Ciné-Konzerte mit Film oder ein Theaterstück, die Auswahl ist gross.» Für ein besseres Verständnis der Kunst würden die Inhalte der Aufführungen in den Klassen vorgängig besprochen. «Dann gab es Anfragen aus der Region, die Aufführungen für ein breiteres Publikum ausserhalb der Schule zu öffnen», so die Eventkoordinatorin. Die Concert Hall fasst etwa 900 Personen und existiert seit sechs Jahren. Laut van Bulck wird mit speziellen Angeboten für bestimmte Berufsgruppen, Kinder, Behinderte usw. darauf geachtet, dass ein breit gefächertes Publikum die kulturellen Anlässe wahrnimmt – ganz nach dem Motto «Kultur ist für jedermann zugänglich».


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