Selbstbestimmt leben (und sterben?)

  14.01.2020 Gstaad

Die Podiumsdiskussion, die im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Leben in Würde und Sterben in Würde» im Kirchgemeindehaus Gstaad stattfand, stiess auf sehr grosses Interesse. Teilweise nahmen die Besucherinnen und Besucher weite, bis sehr weite Wege in Kauf, um zu hören, was Gegner und Befürworter zum Thema assistierter Suizid zu sagen hatten.

VRENI MÜLLENER
Norbert Bischofberger, der aus dem Schweizer Radio SRF bekannte Moderator, verstand es vorzüglich, die kontroversen, aber fairen Diskussionen in eine interessante Richtung zu lenken. «Suizid ist in der Schweiz legal.» Mit dieser Feststellung brach Frau Dr. med. Marion Schafroth eine Lanze für den Verein Exit, deren Präsidentin sie ist. Es brauche Menschen und eine Organisation, die mithelfen, Mitmenschen in unzumutbarer Lage oder mit einer unheilbaren Krankheit auf einem selbstbestimmten Weg zu begleiten. Eher besorgt äusserte sich der Vizepräsident der nationalen Ethikkommission, Markus Zimmermann aus Freiburg. Mathematisch betrachtet, nehme der unterstützte Suizid in der Schweiz zu stark zu. «Gibt es nicht anderes zu tun?», lautete seine provokative Frage. Als katholischer Theologieprofessor nimmt er eine kritische Haltung gegenüber der Freitodbegleitung ein. Zwei Drittel der Patienten, mit denen Dr. Daniel Rauch, Fachverantwortlicher Palliative Care im Spital Thun, zu tun hat, sind Personen in einer Palliativsituation. Rauch, auch Facharzt der Onkologie, betonte, dass es sehr viele Möglichkeiten gebe, Menschen palliativ zu begleiten. Mit immer wieder neuen Medikamenten sowie mit ganzheitlicher, liebevoller Umsorgung könne viel Leid gelindert und eine Alternative zu assistiertem Suizid angeboten werden.

Die einen gehen, die anderen kosten
Die schweizerische Babyboomer Generation ist oder kommt demnächst ins Rentenalter und ist es gewohnt, selbstbestimmt zu leben. Die Möglichkeit, bei Exit die Beratung in allen Fragen des letzten Lebensabschnitts zu bekommen, unterstützt das Menschenrecht (gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts), über den Zeitpunkt des eigenen Todes zu bestimmen. Die Bedenken, dass der Druck zum (freiwilligen) Sterben auf kranke und betagte Menschen zunehme, weil Pflegepersonalmangel, überlastete oder keine Familienmitglieder, die sich Zeit nehmen können und hohe Kosten die Pflege erschwere, verneinte die Befürworterin von begleiteter Sterbehilfe: «Das Gegenteil ist der Fall, es sind meistens die Angehörigen, die sich gegen eine Suizidlösung wehren und die Patienten somit nicht unter Druck setzen.» Auch wenn Sterbehilfsorganisationen dank hohen Mitgliederzahlen boomen, so sei es nur ein verschwindend kleiner Teil, der sich dann tatsächlich für den begleiteten Suizid entscheide. Gegenwärtig seien es 1,6 Prozent aller Todesfälle in der Schweiz.

Leiden Angehörige nach einer Freitodbegleitung?
Damit die Trauernden nicht traumatisiert seien, sei eine gute Begleitung und Aufklärung während den Vorbereitungen zum Freitod wichtig, betonte Frau Dr. Schafroth. Dass bei einem solchen aussergewöhnlichen Todesfall die Polizei, eventuell die Staatsanwaltschaft und ein Amtsarzt den Tatort und den Leichnam untersuchen, müsse genau erklärt werden, dann seien die Trauernden auf einen Unterbruch im Abschiedsprozess vorbereitet. Ein Nachfolgeprogramm für Angehörige nach dem Suizid biete Exit indes nicht an, lautete die Antwort auf eine Frage aus dem Plenum. Die freiwilligen Sterbebegleiter können auf bestehende Hilfsangebote wie Trauerbegleitung, Psychiater und Psychologen hinweisen. «Hilfe in Anspruch nehmen muss jeder selber», stellte die Exit-Vertreterin klar.

Palliative Pflege als Alternative
Palliative Betreuung versteht das Sterben als natürlichen Teil des Lebens. Der Tod wird weder um jeden Preis hinausgezögert, noch willentlich herbeigeführt. Die Betreuung ist individuell auf Betroffene und ihre Angehörigen ausgerichtet und wird von ihnen mitgestaltet. Diese Art der Pflege könne als gute Alternative zum Freitod angesehen werden, findet Daniel Rauch. Der Kanton Bern stehe zwar erst am Anfang der Förderung von Palliative Care, aber ihm sei es ein Anliegen, so der Palliativmediziner.

Sie sehe sich nicht als Gegnerin, sondern als Ergänzung der palliativen Pflege, betonte Marion Schafroth. Seit Jahrzehnten fordere und fördere Exit die Palliativpflege, lasse aber die Variante, sich schlussendlich für den begleiteten Suizid zu entscheiden, als «Sicherheit» für die Patienten stehen.

Solidarität bis zum Schluss
Auch wenn sich die Kirche schwer tut mit dem Gedanken, dass je länger, je mehr Menschen ihr Leben selbstbestimmt beenden, so stellt sie sich doch den anstehenden Fragen. Die reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn wie auch die schweizerische Bischofskonferenz haben Richtlinien ausgearbeitet, um ihre Pfarrpersonen zu unterstützen. Anfänglich herrschte die Meinung, ein Pfarrer gehöre nicht ins Zimmer eines Menschen, der sein Leben eigenhändig beenden wolle, so empfehlen verschiedene Gremien der beiden Landeskirchen den Seelsorgern unter dem Motto «Solidarität bis zum Schluss», sterbewillige Menschen nicht im Stich zulassen.

Ein Blick in die Zukunft
Markus Zimmermann ist der Meinung, dass es Zeit sei, den Blick zu weiten: In der heutigen Gesellschaft werde sehr viel gemacht, um alt zu werden: gesund leben, gute Ernährung, Fitness, dann erfülle sich für viele der Wunsch und sie würden alt. Niemand könne darauf hoffen, jetzt einfach so zu sterben. Eine je länger, je grössere Anzahl Selbstmorde sei auf die Dauer auch keine Lösung. «Unsere Gesellschaft muss Aufgaben schaffen für die über 85-Jährigen», schlug der Ethiker vor. Nur wenig Menschen hätten wirklich den Mut, nach 75 Jahren keine Medikamente mehr einzunehmen. «Das ist auch nicht nötig», konterte der Palliativmediziner. In der Palliativpflege könne Lebensqualität nicht kontra Lebensdauer ausgespielt werden, d. h. Medikamente, die nicht lebensverlängernd seien, können sehr wohl die Lebensqualität verbessern und machen damit auch im Alter Sinn, zeigte sich Daniel Rauch überzeugt.

Alle drei Redner waren sich mit einem Fragesteller aus dem Publikum einig: In der Schweiz muss die Sterbehilfe in den nächsten Jahren gesetzlich geregelt werden, auch wenn mit der gängigen Praxis und Rechtsprechung sehr viele zufrieden sind. Einmal die Möglichkeiten aufgezeigt zu bekommen, das mache diesen Abend interessant und lehrreich, lautete der Tenor unter den Anwesenden. «Jetzt sehe ich bestimmt vieles noch anders, als wenn es mich dann direkt betrifft», brachte es eine Besucherin im Anschluss an die Diskussion auf den Punkt und reflektierte damit bestimmt die Meinung von vielen Zuhörern.


EXIT AUF EINEN BLICK

Gründung: 3. April 1982
Rechtsform: Verein, Statuten letztmals 2016 geändert
Sitz: Zürich
Zweigstellen: Basel, Bern, Giubiasco
Zweck: Selbstbestimmung
Organe: Generalversammlung, Vorstand, Geschäftsprüfungskommission, externe Revisionsstelle; zudem Ethikkommission, Patronatskomitee
Mitarbeitende: 31 Angestellte der Geschäftsstellen und über 40 Freitodbegleitpersonen (Freiwilligenarbeit)
Tätigkeitsbereiche:
– Patientenverfügung
– Beratung (Krankheit, Alter, Demenz)
– Suizidprävention
– Förderung Palliativangebote mit eigener Stiftung
– Freitodbegleitung
Mitglieder: über 120’000, davon 22’000 auf Lebenszeit (Stand Anfang 2019)
Beitrag: Fr. 45.– pro Jahr oder einmalig Fr. 1100.– Jahresrechnung: Buchführung nach allgemein anerkannten kaufmännischen Grundsätzen (Art. 957a ff. OR)
Kennzahlen:
– über 75’000 aktive, hinterlegte Patientenverfügungen
– jährlich rund 3500 Anfragen für Freitodbegleitungen
– etwa 750 Freitodbegleitungen pro Jahr

Quelle: Exit-Broschüre Ausgabe 2019


KOMMENTAR

Grosses Verständnis

Die Frage, ob ein Mensch berechtigt ist, sein Sterben selbst an die Hand zu nehmen, ist eine Glaubensfrage, deren Fundament oft bereits in der Kindheit gelegt wird. Wer nicht an eine unsichtbare Welt, an ein Jenseits und an ein Weiterleben nach dem Tod glaubt, dem kommt es nicht darauf an, ob sein Leben etwas früher oder später ein Ende hat. Er glaubt daran, dass seine Existenz dann aufhört, wenn er stirbt. Seine sterblichen Überreste werden dem Naturkreislauf zurückgegeben und für ihn ist es gut so.
Wer aber glaubt, dass es noch Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die sich mit dem menschlichen Verstand nicht erklären lassen, der entscheidet sich weniger locker, «einfach so» zu gehen. Warum stirbt der todkranke Vater nicht, bevor sein Sohn aus Übersee zurück ist? Wie viel Schuld wird noch an Sterbebetten vergeben, wenn genügend Zeit vorhanden ist? Schwieriges, Unausgesprochenes doch noch formulieren zu können, muss reifen und kann nicht auf Kommando geschehen. Daher wird für mich die Form der palliativen Pflege Vorrang haben. Dennoch habe ich grosses Verständnis und es darf nicht geurteilt werden, wenn ein leidender, todkranker Mensch die Kraft nicht mehr aufbringt, bis auf den natürlichen Todeszeitpunkt zu warten.

VRENI MÜLLENER


WAS BEDEUTET PALLIATIVE CARE?

Im Zusammenhang mit schwer kranken Menschen begegnet man oft den Begriffen Palliativmedizin, Palliativpflege, Sterbebegleitung oder Hospiz. Diese Begriffe sind Teil der Palliative Care. Darunter versteht man alle Massnahmen, die das Leiden eines unheilbar kranken Menschen lindern und ihm so eine bestmögliche Lebensqualität bis zum Ende verschaffen.
Der Begriff Palliative Care wird international verwendet und mehr und mehr auch im nichtenglischen Sprachraum benutzt. Palliative Care leitet sich ab aus dem lateinischen «pallium», was einem mantelähnlichen Umhang entspricht. Das englische Wort «care» bedeutet Pflege, umfasst aber mehr als das: «I care for you» bedeutet auch «Ich sorge mich um dich» oder «Du bist mir wichtig».

Quelle: palliativ.ch


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