Demenz – aktuelles Tabuthema

  21.02.2020 Gesellschaft

Über 150’000 Menschen sind in der Schweiz von Demenz betroffen. Die Tendenz ist steigend. 2040 dürften es bereits 300’000 sein. Auch trifft es zunehmend jüngere Menschen. Dennoch ist Demenz ein Tabuthema.

KEREM S. MAURER
Sie ist heimtückisch und kommt auf leisen Sohlen: Die Krankheit Demenz. Ihr Name leitet sich vom lateinischen Wort «demens» ab und bedeutet so viel wie «ohne Verstand, Denkkraft oder Besonnenheit seiend» und wird oft mit «Nachlassen der Verstandeskraft» übersetzt. Das typische Symptombild der Demenz umfasst Einbussen an kognitiven Fähigkeiten, wobei mit Kognition das Denken in umfassendem Sinn gemeint ist. Demenz ist der Oberbegriff für Erkrankungsbilder, die mit dem Verlust der geistigen Funktionen wie dem Denken, Erinnern, Orientieren und Verknüpfen von Denkinhalten einhergehen. Es werden über 100 Unterformen von Demenz unterschieden. Die Krankheit führt letztlich dazu, dass alltägliche Fähigkeiten nicht mehr eigenständig ausgeführt werden können. Erste Anzeichen sind Vergesslichkeit und zeitliche Orientierungsschwierigkeiten. Auf der Internetseite aktiondemenz.ch wird anschaulich erklärt, wie man sich Demenz vorstellen kann: «Stellen Sie sich vor, Ihre Erinnerungen sind in einem Buch chronologisch festgehalten. Sie können sich nur an das erinnern, was auf den Seiten aufgezeichnet ist. Plötzlich kommt die Demenz und beginnt, von hinten die Seiten ihres Buches auszureissen.»

Dunkelziffer viel höher
In der Schweiz leben aktuell 154’000 Menschen mit Demenz. In den Altersund Pflegeheimen im Saanenland – Maison Claudine Pereira, Pfyffenegg, Betreutes Wohnen im alten Spital und Sunnenbühl – werden gegenwärtig insgesamt 30 Menschen mit mittlerer oder schwerer Demenz betreut. Die Frage, wie viele Menschen im Saanenland von Demenz betroffen sind, ist damit allerdings nicht beantwortet. «Rechnet man jene dazu, die zu Hause gepflegt werden, ist die Dunkelziffer sehr viel höher», vermutet Cornelia Hirtenfelder, Betriebsleiterin im Maison Claudine Pereira in Saanen.

Angehörige kommen an ihre Grenzen
Was läuft noch unter «normaler» altersbedingter Vergesslichkeit und was gilt schon als dement? Wann weiss man, dass ein Familienmitglied betroffen ist? Diese Fragen sind nur individuell zu beantworten, die Grenzen sind fliessend. Es fällt nicht nur den Betroffenen sehr schwer, sich einzugestehen, dass sie dement werden, sondern auch den Angehörigen. Oft wollen diese aus den verschiedensten Gründen nicht wahrhaben, dass ihre Familie von Demenz betroffen ist, wie Angehörige berichten. Für Cornelia Hirtenfelder kommen die Menschen mit Demenz oft sehr spät ins Pflegeheim. Sie sagt: «Oft kommen Menschen mit Demenz erst dann ins Pflegeheim, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, den Alltag alleine zu bewältigen – das ist zu spät.» Ein Mensch mit Demenz brauche oftmals 24 Stunden am Tag Betreuung und Überwachung. «Daher ist es logisch, dass pflegende Angehörige in solchen Situationen an ihre Grenzen kommen», weiss Hirtenfelder aus langjähriger Erfahrung auf diesem Gebiet. Wichtig für pflegende Angehörige in diesem Zusammenhang ist zu wissen, dass es im Saanenland Entlastungsangebote wie Tagesaufenthalte oder Ferienbetten für Demenzerkrankte gibt.

Nicht alle «schauspielern»
«Menschen mit Demenz sind manchmal extrem gute Schauspieler», gibt ein Angehöriger zu bedenken, der nicht namentlich genannt werden will und hier als Werner F. bezeichnet wird. Werner F. weiss, wovon er spricht: Schon vor Jahren ist seine Lebensgefährtin an Demenz erkrankt. Menschen mit Demenz wüssten genau, wie sie ihre beginnende Krankheit überspielen könnten, ohne dass es jemand merke, sagt er. «Oft sogar so gut, dass man an sich selber zu zweifeln beginnt.» Demenzerkrankte lebten in ihrer eigenen Welt, in ihrer eigenen Realität, erklärt Werner F. Und wenn für sie der frisch gekochte Tee in der dampfenden Tasse kalt ist, dann ist er kalt. Nicht heiss. «Es hat dann keinen Sinn, dagegen zu argumentieren», hat er erfahren. Menschen mit Demenz könnten sehr überzeugend so lange etwas Gegenteiliges behaupten, bis man sich selber nicht mehr sicher sei. Unter betroffenen Angehörigen kenne man solche Widersprüche und wisse, dass diese zum Krankheitsbild gehörten. Aber es sei an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nicht jeder Mensch mit beginnender Demenz «schauspielert». Viele sind sich ihrer Situation schlicht nicht bewusst.

Man ist nicht allein
«Der Umgang mit dementen Angehörigen ist extrem schwierig und herausfordernd», sagt Werner F. und ist überzeugt, dass man den Umgang mit erkrankten Personen am besten von betroffenen Angehörigen lernt. Denn nur wer selber betroffen sei, wisse, was diese Krankheit für die Angehörigen bedeute. Für diesen aktiven Austausch unter Angehörigen gibt es hierzulande die Alzheimer Angehörigengruppe Saanenland, welche von Edith Ellenberger geleitet wird und zur Alzheimer Vereinigung Schweiz gehört (siehe Kasten). «Das ist eine geschlossene Gruppe nur für Angehörige von Menschen mit Demenz», erklärt Edith Ellenberger. Das Ziel dieser Gruppe sei der geführte Erfahrungsaustausch unter Gleichbetroffenen. «Hier können Angehörige über ihre alltäglichen Herausforderungen und Probleme sprechen, die nur Betroffene verstehen», sagt die Gruppenleiterin. Für Werner F. ist diese Gruppe eine grosse Hilfe. «Man wird hier verstanden und weiss, dass man mit seinen Problemen nicht alleine ist», sagt er. Dennoch könne man die Anzahl der Teilnehmenden an den regelmässigen Treffen an einer Hand abzählen.

Das Thema ist tabu
Menschen mit Demenz werden – so lange es geht oder eben nicht mehr geht – zu Hause betreut. Oft auch unter Verschluss gehalten, wie Fachpersonen vermuten, weil demente Patienten unter anderem weglaufen und den Heimweg nicht mehr finden oder weil sie unpassend angezogen nach draussen gehen. Laut Cornelia Hirtenfelder neigen Menschen mit Demenz phasenweise nicht selten zu Gewalttätigkeiten, weil auch sie mit ihrer eigenen Situation nicht klarkommen. Sie merken, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, werden zwangsläufig von Familienmitgliedern bevormundet und nicht zuletzt in ihrem Stolz verletzt. Doch warum spricht man so selten über diese Krankheit, die so weit verbreitet ist? Cornelia Hirtenfelder gibt Antworten: «Stellen Sie sich vor, sie müssten aufs Klo und wüssten nicht mehr, wo es ist! Oder sie können nicht mehr sagen, dass Sie müssen! Sie machen sich selber nass, brauchen Inkontinenzeinlagen. Darüber spricht keiner freiwillig oder gar gerne.» Und sie nennt das Kind beim Namen: «Demenz ist nach wie vor ein Tabuthema.» Werner F. bestätigt: «Die Krankheit ist noch nicht beim Volk angekommen. Wie der Krebs früher. Das braucht noch Zeit.» Für ihn ist es wichtig, dass über Demenz gesprochen wird und dass die Angebote, die es für Angehörige gibt, bekannt gemacht werden.

Abschied auf Raten
Das Schlimmste an dieser Krankheit sei der nicht beeinflussbare Abbau von Hirnzellen, erklärt Werner F. «Es ist ein langes Abschiednehmen in kleinen Schritten.» Und es gebe für den Krankheitsverlauf nur eine Richtung: nämlich «abwärts bis zum bitteren Ende». Natürlich hätten die Menschen mit Demenz hin und wieder «lichte Tage» oder «helle Momente», doch diese bedeuteten keine Besserung, sondern seien lediglich ein punktuelles Aufflackern, kleine Fenster in der Dunkelheit. «Demenz ist nicht heilbar und führt über kurz oder lang zum Tod», resümiert Cornelia Hirtenfelder und schätzt den Zeitraum des Krankheitsverlaufs auf plus/minus zehn Jahre. Der Verlauf der Krankheit sei in etwa immer derselbe, das Ende unausweichlich. Woher die Krankheit kommt, ist unklar. Der Lebenswandel spielt für Hirtenfelder mitunter eine entscheidende Rolle. Jahrelanger Überkonsum von Alkohol könne zu Demenz führen. Auch sei eine falsche oder ungesunde Ernährung nicht hilfreich. Bei der Alzheimer-Demenz, der häufigsten Demenzform (sie betrifft zwei Drittel aller Diagnosen), geht laut Alzheimer Schweiz die heutige Wissenschaft davon aus, dass krankheitstypische Eiweissablagerungen im Gehirn für das Sterben der Nervenzellen verantwortlich sind. Was allerdings zu den Eiweissablagerungen im Gehirn führt, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Natürlich gebe es Möglichkeiten, eine Demenz zu verzögern, aber letztlich heilbar sei sie nicht. Tatsache ist, dass es immer mehr Menschen mit Demenz gibt. Das liege einerseits daran, dass die Menschen immer älter werden, andererseits trifft es vermehrt jüngere Menschen. Im Maison Claudine Pereira hat es Platz für vierzehn Menschen mit Demenz, nicht alle Plätze sind jedoch belegt. Warum die freien Plätze angesichts der eingangs erwähnten hohen Dunkelziffer nicht belegt werden, ist teilweise mit der erörterten Scham erklärbar. Zu denken gibt in diesem Zusammenhang ein Nebensatz, den Cornelia Hirtenfelder andeutete, wonach die Abgeltung für die Pflege und Betreuung für Demenzerkrankte zu tief sei. Doch dieser Umstand sei der Direktion für Gesundheit, Soziales und Integration des Kantons Bern (GIS, ehemals GEF) bekannt. Zur Klärung der gerechten Abgeltung habe die GIS eine Arbeitsgruppe eingesetzt.


HILFE ZUR SELBSTHILFE

Die Alzheimer Angehörigengruppe Saanenland bietet Hilfe zur Selbsthilfe für Angehörige einer demenzerkrankten Person. Regelmässig treffen sich Angehörige unter der Leitung von Edith Ellenberger. Sie tauschen Informationen und Erfahrungen aus und profitieren voneinander. Es hilft, frei und ungezwungen zu sprechen und zu merken: Ich bin nicht allein, nicht allein gelassen. Daten der Treffen im alten Spital Saanen jeweils donnerstags von 14 bis 16 Uhr: 20. Februar, 19. März, 16. April, 28. Mai, 18. Juni, 16. Juli, 20. August, 17. September, 15. Oktober, 19. November, 17. Dezember. Kontakt: Edith Ellenberger 033 744 28 01 www.alzheimer-schweiz.ch


ERKRANKUNG ALLE 18 MINUTEN

In der Schweiz leben aktuell 154’000 Menschen mit Demenz. 29’500 kommen jährlich neu dazu. Demnach erkrankt alle 18 Minuten ein Mensch an Demenz. 65% von ihnen sind Frauen. Rund 7400 Menschen oder 5% erkranken bereits vor ihrem 65. Altersjahr. Tendenziell erkranken die Menschen immer früher. Alzheimer Schweiz geht davon aus, dass bis im Jahr 2040 voraussichtlich 300’000 Menschen an Demenz erkrankt sein werden. Als höchstes Risiko gilt das Alter. Die häufigsten Formen der Demenz sind Alzheimer-Demenz, Vaskuläre Demenz, Frontotemporale-Demenz und die Lewy-Demenz.
Alzheimer Schweiz

 


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