Die niederen Karten
25.02.2020 RegionDie Rangordnung bei den Jasskarten ist klar. Die höchste Karte einer Farbe ist das Ass und die niederste die Sechs. Alle Karten vom Zehner aufwärts haben ihren sicheren Wert, doch die 9, die 8, die 7 und die 6 zählen 0 Punkte. Sie sind auf den ersten Blick wertlos und werden darum auch ein wenig geringschätzig «Brettli» genannt. Das war schon immer so. Und es ist auch noch gar nicht so lange her, dass auch beim «Undenufe»-Spiel das Ass 11 Punkte zählte und die Sechs 0 Punkte – obwohl die Sechs in diesem Fall die stärkste Karte ist. Auch vier Siebner oder vier Achter konnten lange Zeit nicht gewiesen werden. Denn viermal 0 ergibt 0. Das ist zwar mathematisch korrekt, aber menschlich unverständlich. Warum sollen vier niedere Karten weniger Wert sein als vier höhere? Denn in einem Spiel vier Könige oder vier Damen zu bekommen, ist ebenso zufällig, wie vier Achter zu bekommen.
Den niederen Karten ist jedoch im Laufe der Zeit etwas gelungen, was in der Mathematik unmöglich wäre: Sie haben sich wertmässig emanzipiert. Die Rangordnung der Jasskarten gilt nur noch, solange nicht gespielt wird. Sobald aber Bewegung ins Spiel kommt, kann alles auf den Kopf gestellt werden. Und je nachdem, was angesagt wird, sind die niederen Karten plötzlich viel wichtiger als die höheren, farbigen Karten. Oder beim «Slalom»-Spiel sind sie mindestens gleich wichtig und wertvoll wie die «höheren». Und wenn der Trumpf-Sechser der letzte Trumpf ist, der noch im Spiel ist, kann er sogar ein Ass stechen. Wer beim Jassen nicht acht gibt auf einen solch kleinen Trumpf, riskiert also, seine höchste Karte zu verlieren – zum Beispiel ein Ass. Der Schweizer Staatsrechtler Carl Hilty (1833–1909) gab darum den Rat: «Achte auf das Kleine in der Welt, das macht das Leben reicher und zufriedener.» Und das gilt auch beim Jassen.
Die Jasstradition ist eine uralte Tradition. Bis sich neue Regeln bei etwas so Urschweizerischem wie beim Jassen durchsetzen können, braucht es normalerweise recht viel Zeit. Denn auch beim Jassen gilt: «Der grösste Feind einer neuen Ordnung ist, wer aus der alten seine Vorteile zog.» (Machiavelli) Aber jetzt werden die neuen Jassregeln immerhin fast überall beachtet und die niederen Karten bekommen die Beachtung, die ihnen zusteht. Das zeigt: Es gibt keine Regel, die man nicht ändern, und keine Situation, die man nicht auf den Kopf stellen könnte. In Afrika heisst es dazu: «Viele kleine Leute in vielen kleinen Orten, die viele kleine Dinge tun, können das Gesicht der Welt verändern.»
Im Gegensatz zum Jassen ist es im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben aber noch viel schwieriger, alte Hierarchien auf den Kopf zu stellen. Aber die Mächtigen zu entmachten und die Gewöhnlichsterbenden mit viel Macht auszustatten, macht die Welt ja auch noch nicht besser. Der Kommunismus hat es versucht und ist dabei kläglich gescheitert. Und das Jassspiel zeigt eindrücklich, warum es wenig verändert, wenn man Hierarchien einfach auf den Kopf stellt, um die Welt zu verbessern. Sobald nämlich beim Jassen die niederen Karten beim «Undenufe»-Spiel plötzlich Macht bekommen, stechen auch sie die anderen einfach aus. Die «Niederen» machen also genau das gleiche, wie die Asse und Könige, wenn sie beim «Obenabe»-Spiel an der Macht sind. Ein Pfarrer aus Angola sagte es mir einmal so: «Wir Schwarzen leben zwar in Armut, aber wir sind nicht besser, als die reichen Weissen. Uns fehlt ganz einfach die Möglichkeit, so zu sein, wie die reichen Weissen!»
Ob beim Jassen die Kartenhierarchie belassen oder auf den Kopf gestellt wird, ob die Asse die höchsten Stechkarten sind oder der Trumpf-Bube oder die Sechs, das entscheidet jeweils das Team, das sagen kann, was gespielt werden soll. Im Alltag ist es nicht so einfach. Aber es wäre ein Segen für die Zukunft, wenn immer mehr die Leute das Sagen hätten, auf die man sich wirklich verlassen kann, denen man voll und ganz vertrauen darf und die ihre Verantwortung auch in schwierigen Zeiten ernst nehmen. Meistens wären das auch Leute, die lieber ein kleines Licht anzünden, als über die Dunkelheit zu schimpfen. Es wären «grosse» Leute, die auch die «kleinen» Leute achten und beachten würden. Sie könnten sich all die Jasser und Jasserinnen, die wissen, dass man auch mit «niederen» Karten gut spielen kann, zum Vorbild nehmen.
ROBERT SCHNEITER