Damit sich Mutterkühe und Wanderer nicht in die Quere kommen

  22.05.2020 Landwirtschaft

Dieses Jahr dürften mehr Schweizerinnen und Schweizer im Inland ihren Urlaub verbringen. Auf immer mehr Alpen weiden Mutterkühe, was für Konflikte und gefährliche Situationen sorgen kann. Beachtet man einige Verhaltensregeln, gestalten sich die Begegnungen friedlich.

Im Mai und Juni werden in der Schweiz die Alpaufzüge durchgeführt. Im Wallis und anderen Kantonen bleiben die Sennen und Älplerinnen in diesem Sommer zwar wahrscheinlich unter sich: «Aufgrund der Coronavirus-Epidemie finden die diesjährigen Alpaufzüge ohne die Öffentlichkeit statt.» Anderswo, wie in Adelboden, hat man die Hoffnung nicht aufgegeben, aber: «Achtung: Während des Alpaufzugs wird auf der Alpaufzugstrecke jede Haftung abgelehnt!»

Jedes Jahr mehrere Vorfälle mit Verletzten
«Jede Haftung abgelehnt» – das werden die Halter der Tiere während der Sömmerung nicht mehr in jedem Fall sagen können. Auf der Alp lauern viele Gefahren: Ein Tier kann abstürzen, einem Blitzschlag zum Opfer fallen oder – und darum geht es in diesem Artikel – einen unvorsichtigen Wandervogel verletzen. Die Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft (BUL) empfiehlt den Bauern deshalb unbedingt eine Haftpflichtversicherung (in vielen Fällen sogar obligatorisch) und allenfalls eine separate Rechtsschutzversicherung mit eingeschlossenem Strafrecht. Genaue Zahlen für unliebsame Begegnungen zwischen Mensch und Tier sind nicht in Erfahrung zu bringen, doch manchem mögen noch Meldungen aus dem letzten Jahr in Erinnerung sein: Am Berninapass wurde ein 55-jähriger Italiener von einer Mutterkuh angegriffen und schwer am Kopf verletzt. Bei Silvaplana GR wurden drei Frauen und ihr Hund von einer Kuh angegriffen. Alle drei mussten mit der Rega und einer Ambulanz ins Spital gebracht werden. Bei der Bannalp NW kam es im Sommer 2019 gleich zu zwei Vorfällen: Im Juli wurde ein Hund von einer Kuhherde zu Tode getrampelt, der Hundehalter zog sich Verletzungen zu. Einen Monat später wurden zwei Wandergruppen von einer Kuhherde angegriffen, zwei Personen wurden mittelschwer verletzt und mussten mit der Rega ins Spital geflogen werden.

«Wenig bis gar keine Kenntnisse»
Wie können solche Zusammenstösse verhindert werden? Eine Möglichkeit ist die rabiate Art, die meistens dann gewählt wird, wenn die politisch Verantwortlichen jegliches Risiko ausschliessen möchten: man verbietet. So wurde in Nidwalden vorübergehend der Wanderweg gesperrt, danach wurde ein Hundeverbot erlassen und schliesslich wurden die Hirten angewiesen, ihre Herde auf eine Wiese ausserhalb des Wandergebiets zu verlegen und mit den Tieren möglichst bald wieder zu Tal zu fahren. «Wir können das Risiko von weiteren Konfrontationen zwischen Kühen und Wanderern nicht mehr tragen», so damals der Gemeindepräsident am Radio. In der Regel wird jedoch versucht, ein friedliches Nebeneinander von Nutztieren und Freizeitsportlern zu ermöglichen. Das beginnt mit den Vorbeugungsmassnahmen durch die Landwirte und Älpler: Aggressive und verhaltensgestörte Tiere sollen gar nicht erst gesömmert werden, auch müssen Hinweisschilder oder Umleitungen die Risiken von Anfang an minimieren. Und: «Bei der Risikobeurteilung ist immer davon auszugehen», heisst es in einem Ratgeber zur Unfallverhütung, «dass Wegbenutzer über wenig bis gar keine Kenntnisse im Umgang mit Rindvieh verfügen.»

Eine Mutter schützt ihre Kinder
Das Prinzip ist theoretisch einfach zu verstehen: Eine Mutter will immer ihre Kinder schützen. Das ist bei Menschenkindern so, aber auch dann, wenn eine Katze einem Vogelnest zu nahe kommt. Nicht anders halten es die Kühe, wenn sie die Weiden mit ihren Kälbern teilen. In einem anderen Punkt soll hier kein direkter Vergleich mit dem Menschen angestellt werden, obwohl dieses Verhalten auch ihm nicht ganz unbekannt ist: «Stiere verteidigen Kühe vor allem in der Brunst gegen vermeintliche Konkurrenten – auch gegen Menschen.»

Generell kann also gesagt werden, dass angesichts einer Begegnung zwischen Mensch und Tier eine Sicherheitsdistanz nicht unterschritten werden darf, wobei diese nicht in Metern gemessen werden kann, sondern je nach Tier und Situation unterschiedlich ist. Schliesslich kennt auch jedes menschliche Individuum dieses Gefühl: Kommt ein Unbekannter zu nahe, fühlt man sich unwohl und überlegt sich schon mal, wie man den «Eindringling» auf Distanz halten kann. Junge Tiere wecken immer und überall einen «Jöö»-Effekt. Bei jungen Kälblein ist das nicht anders. Man fühlt sich zu ihnen hingezogen und möchte sie streicheln. Aber Kühe mögen es so wenig wie Menschenmütter, wenn Wildfremde ihren Nachwuchs betatschen. Auf Flugblättern wird denn auch unmissverständlich gewarnt: «Nähern Sie sich den Kälbern nicht und berühren Sie sie auf keinen Fall.»

Jeder Hund ist für eine Kuh ein Raubtier
Das «dritte Gebot» lautet: Hunde an der Leine führen! Für Rinder ist ein Hund in jedem Fall ein Raubtier – unabhängig von seinem Aussehen und seiner Grösse. Insbesondere Mutterkühe gehen deshalb in Angriff über, wenn sie ihre Kälber bedroht sehen. Hund und Hundehalter sollten eine Herde deshalb möglichst ruhig und weiträumig umgehen, wobei der Vierbeiner in solchen Gebieten immer angeleint sein soll. Das gleiche Verhalten ist übrigens auch dort angebracht, wo das Vieh durch Herdenhunde beschützt wird. Kommt es jedoch zu einem Angriff durch Kühe, empfiehlt Ursula Freund von Mutterkuh Schweiz, die Leine sofort loszulassen, sodass sich der Hund schnell in Sicherheit bringen kann. Die Kühe fühlten sich nämlich weniger durch den Menschen als durch einen Hund bedroht.

Wie stark Mutterkühe auf Hunde reagieren, hat Biobauer Niklaus Hari aus Reichenbach im Kandertal schon selber erlebt. Sogar der eigene Hofhund, den die Kühe kennen, kann als Bedrohung empfunden werden. «Das kann eine Kuh so wild machen, dass sogar ich nur noch beiseitetreten kann.» Nach seiner Meinung sei aber nie die Kuh schuld, wenn es zu einer unfreundlichen Begegnung komme, sondern immer der Eindringling – also ein frei laufender Hund oder ein unvorsichtiger und vorlauter Wanderer. Gravierende Vorfälle gab es mit seinen Mutterkühen bis jetzt allerdings noch nie. Zum einen deshalb, weil ein Teil seiner Tiere den Sommer in einem Gebiet verbringt, wo sich kaum je ein Wanderer verirrt. Die andere Herde weidet auf einer Alp in der Nähe des beliebten Ausflugsbergs Niesen am Thunersee. Der von ihm beauftragte Hirte habe ihm jedoch noch nie von einer ernsthaft gefährlichen Situation berichtet.

Kühe reagieren auf die Anwesenheit von Wölfen
Noch kein Thema – im Gegensatz beispielsweise zu einigen Gebieten im Kanton Graubünden – sind im Berner Oberland vorerst die Wölfe. Diese würden für eine Kuhherde erst gefährlich, so Niklaus Hari, wenn sie im Rudel aufträten. Für Schafe und Ziegen allerdings könnte bereits ein einziger Wolf gefährlich werden. «Stimmt», ergänzt Ursula Freund von Mutterkuh Schweiz: «Risse von Kälbern sind nicht unbedingt die grösste Gefahr. Wenn es jedoch zu einem Kontakt mit Wölfen kommt, kann die Herde extrem nervös reagieren und noch tagelang sehr gefährlich sein, wenn Menschen – und sei es der eigene Hirt – in die Nähe kommen.»

LID, MARTIN LEUTENEGGER

Weitere Informationen unter www.mutterkuh. ch und www.bul.ch/Alpwirtschaft.htm.


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