Was kommt, wenn sich alle Bilder verbraucht haben?

  05.06.2020 Kirche

Gibt es ein schöneres Bild als «Die Erschaffung Adams» von Michelangelo? Ein Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle. Zu sehen ist Gottvater mit grauem Haar und Bart und mit ausgestrecktem Zeigefinger. Mit dieser Berührung erweckt er den Menschen zum Leben. Unter dem linken Arm von Gott schaut Eva etwas schüchtern auf Adam.

Dieses Bild wäre nicht entstanden, wenn sich Michelangelo an das zweite Gebot in der Bibel gehalten hätte: «Du sollt dir kein Bildnis machen.» Seit dem Bildersturm zur Reformationszeit folgte ein Bildersturm nach dem andern. Mit dem Tod der Grosseltern verschwanden auch ihre Bilder aus den Schlafzimmern. Jesus mit langen Haaren, ein kleines Schaf auf seinen Schultern. Unter ihm tosendes Wasser in einer tiefen Schlucht. Oder Jesus, wie er über das Wasser schreitet und dem sinkenden Petrus in letzter Sekunde seine Hand entgegenhält. Dem äusserlichen Bildersturm folgte der innerliche. Die Trost und Mut schenkenden Bilder, aus deren Ressourcen viele Generationen vor uns Kraft geschöpft hatten, wurden durch Wissen und präzise Informationen ersetzt. Doch dieses Wissen ist totes Wissen. Es sind oft Informationen, die uns hoffnungslos und ratlos zurücklassen. Sie erwecken keine Träume, verleihen keine Flügel. Wir haben uns auch die inneren Bilder von den Wissenschaftlern stehlen lassen. Seitdem wirken die biblischen Bilder und kirchlichen Rituale in der säkularen Gesellschaft auf uns wie Relikte aus einer fremden, versunkenen Epoche. Aus der Sphäre der Märchen stammend, höchstens noch in religiösen Randgruppen beheimatet. Die Neuankömmlinge auf dieser Erde werden mit Sozialpädagogik, Psychologie und viel Bildung erzogen. Wir lernen, sie zu analysieren, zu hinterfragen und zu kritisieren. Das ist auch gut so. Dank Wissen und Technik sind wir in der Lage, menschlichem Leiden zu begegnen und Strategien zu deren Linderung zu entwickeln.

Es ist nur einseitig. Es ist ein Lebensmodell auf dem kalten Boden einer erforschten und gemessenen Welt, in der alles eine vernünftige Erklärung hat, in der alles nutzbar ist. Und über dem Sternenhimmel sind unendliche Räume, die schweigen, die grau, kalt und leer sind. Mit anderen Worten: Religion und Alltag haben kaum noch etwas miteinander zu tun.

Und nun taucht plötzlich wie aus dem Nichts ein neues Bild auf, blickt uns entgegen: das Bild des Virus, penetrant und unausweichlich. Ein Virus, dem wir völlig egal sind. Ein Produkt der Evolution. Ein Virus, das die Börsen verrückt spielen lässt und uns daran erinnert, dass ein grosser Teil unseres Wohlstandes auf einem programmierten Spiel von Algorithmen aufbaut. Ein Virus, das uns die Einsicht aufzwingt, dass unser Leben noch anderen Rhythmen und Gesetzmässigkeiten unterworfen ist und wir nicht Gott sind. Dass unser Leben auf einer Schöpfung aufgebaut ist, die nicht uns gehört und deren Gesetzmässigkeiten nicht wir bestimmen können. Wie sollen wir ein Virus bewältigen, das unsere menschlichen Selbstverständlichkeiten, unsere Ansprüche relativiert. Wir alle müssen uns in eine Rolle einüben, auf die uns niemand vorbereitet hat, die wir nicht gelernt haben. So wie der Bundesrat gesagt hat: «Wir haben kein Lehrbuch für den Umgang mit diesem Virus.» Wir wissen auch nicht, was nach der Pandemie kommt. In welche Richtung sich die Gesellschaft entwickeln wird. Im Moment ist alles im Fluss.

Doch wollen wir überhaupt zurückkehren? Zurück in die Welt der Erstarrung, der Optimierung, der endlosen Steigerung und des Aufschwungs? In eine Welt, die mit ihren alltäglichen Problemen, mit den Flüchtlingsströmen und der Klimaerwärmung schon mehr als genug überfordert ist? Wollen wir zurück in eine Welt, in der ein Donald Trump die älteste Demokratie der Welt mit seiner Selbstverliebtheit bis zur Lächerlichkeit zerlegt und mit Fake News gezielt und erfolgreich Wahlkampf betreibt? In eine Welt, in der viele die kalte Nüchternheit, die Leere einer erforschten und gemessenen Welt, in der alles eine vernünftige Erklärung hat, nicht mehr aushalten? Sind wir nicht froh, dass wir neue Wege suchen müssen? Dass wir umdenken müssen? Denn wir wissen doch alle, dass es so – ob mit oder ohne Virus – nicht ewig weitergehen kann.

Einfach zu früheren Bildern und Denkmodellen zurückkehren können wir zwar nicht. Doch wir könnten von den biblischen Geschichten und Bildern lernen, wenn wir sie in ihrem geschichtlichen Zusammenhang verstehen und sie in unsere Gegenwart hinein übersetzen würden. Denn frühere Generationen waren weder dümmer noch abergläubischer als wir heute. Sie wollten einfach die zwei Welten, die berechenbare und die messbare Welt, und die Welt der Sehnsucht und der Unendlichkeit zusammenhalten. Mit ihren Ritualen gelang es ihnen, immer wieder an frühere Orte zurückzukehren, so Gelerntes zu bewahren und Erfahrenes vor dem Vergessen zu schützen. Sie versuchten, mit Hilfe von Bildern und Ritualen ihre Existenz in der Welt zu deuten und auszudrücken. Mit ihren symbolischen Handlungen ihren Hunger nach dem himmlischen Brot und Trank zu stillen, ihre Hoffnung auf ewige Liebe, ihre Angst vor dem Tod auszudrücken und die Knotenpunkte ihres Lebens wie Geburt, Erwachsenenwerden, ewige Liebe und Tod mit einer ganz anderen Welt zusammenzuschliessen. Jede Religion mit ihren Ritualen bildet ja nur die Strukturen von Lebenswelten ab, die versuchen, die Zeiten, in denen sich alles transformiert und verflüssigt, zu überleben und wieder in eine neue Form zu bringen.

Wie gesagt, wir wissen nicht, was nach der Pandemie kommt. Wir können nur hoffen, dass es uns gelingt, den Rat aus dem 1. Brief an die Thessalonicher 5 zu befolgen: «Prüfet alles, das Gute behaltet.»

KORNELIA FRITZ,


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote