Der letzte Stich
25.08.2020«Wär dr Letscht macht, cha jasse!» Diesen Spruch hört man etwa an Jasstischen. Denn der letzte Stich ist matschentscheidend und immer fünf Bonuspunkte wert. Den letzten Stich braucht es, um einen Matsch zu machen, und es braucht ihn, um einen Matsch zu verhindern. Das Team, das ausser dem letzten keinen anderen Stich gemacht hat, kann sich trösten mit dem Spruch: «Wär dr Letscht macht, cha jasse!» Und das Team, das nach acht sicheren Stichen auch noch den letzten macht, kann sich mit diesem Spruch «auf die eigenen Schultern klopfen».
Die Hoffnung, im Laufe eines Spiels doch noch einen Stich zu machen, stirbt mit dem letzten Stich. Wenn man beim zweitletzten Stich noch zwei Bockkarten für den letzten Stich in der Hand hält, aber nicht weiss, welche Karte man geben und welche man für den letzten Stich aufsparen soll, braucht es Nerven. In solchen Situationen ist es hilfreich, wenn man das Spiel gut im Kopf hat. Aber manchmal bleibt es eine reine Lotterie. Und da hilft nur der Abzählreim der Kinder: «Ich und Du – Müllers Kuh – Müllers Esel – Der bist Du.» Und wenn man dank einem klugen Entscheid oder dank Glück die richtige Karte behalten hat, den letzten Stich macht und so einen Matsch verhindert hat, dann darf man sich herzhaft freuen und laut sagen: «Wär dr Letscht macht, cha jasse!»
Manchmal tönt dieser Spruch zwar nicht besonders freudig, sondern eher wie «schwarzer Humor». Aber der schwarze Humor ist ja letztlich auch die beste Antwort auf den Ernst des Lebens – oder eben auf den Ernst des Jassens (nach Ernst Koch). Wenn man immer nur schlechte Karten bekommen hat, hilft dieser Spruch, aus allem doch noch das Beste zu machen und zufrieden zu sein, mit dem, was man hat. Und in dieser Genügsamkeit steckt letztlich ein Stück Lebenskunst. Denn Genügsamkeit ist ein grosser Gewinn (Sprichwort). Und Goethe, der zu seiner Zeit alles wusste, schrieb: Das wahre Glück ist die Genügsamkeit.
Es ist klar: sich mit wenigem zu begnügen ist schwer. Und wenn man beim Jassen in einem Spiel nur den letzten Stich macht, ist das keine echte Genügsamkeit, sondern aufgezwungene Bescheidenheit. Wer jasst, will schliesslich immer mehr haben als die anderen. Wer jasst, will gewinnen. Und gewinnen kann man nur, wenn man mehr als nur den letzten Stich macht. Es ist darum überhaupt nicht lustig und auch nicht spannend, mit Leuten zusammen zu spielen, die nicht gerne gewinnen möchten und einfach zufrieden sind, wenn sie in jedem Spiel immer nur den letzten Stich machen. Wenn man zwischendurch mit dem letzten Stich einen Matsch verhindern kann, wird einem aber vielleicht bewusst, dass wenig manchmal mehr sein kann, dass das, was man hat, mehr wert ist, als das, was man gerne auch noch gehabt hätte.
Niemand ist gerne «der Letzte» oder «die Letzte», aber alle, die andere mit ihren Argumenten überzeugen möchten, haben gerne das letzte Wort. Und alle, die gerne Jassen, machen gerne den «letzten Stich». Das, was zuletzt kommt, hat also auch etwas Gutes. Denn ohne das letzte Wort würde endlos debattiert. Und ohne den letzten Stich beim Jassen könnten die Karten nicht wieder neu verteilt werden. Das heisst: Ohne den letzten Stich gäbe es keinen neuen ersten Stich. Der letzte Stich beim Jassen ist darum immer auch schon der Anfang eines neuen Spiels. Auch beim Jassen gilt: In jedem Ende liegt immer auch schon ein neuer Anfang. In diesem Sinn ist es gut, dass alles vorübergeht und ein Ende hat. «Panta rhei» – alles fliesst – sagten darum schon die Griechen. Das, was einem Freude bereitet, geht vorüber, und das, was man ersorgt oder schmerzhaft ist, geht vorüber. Und die wahre Lebenskunst besteht darin, dass man das, was vorbei ist, loslassen kann. Zum Beispiel auch den Frust, wenn man beim Jassen den letzten Stich schon wieder nicht gemacht hat.