Petitionäre verlangen eine Neubeurteilung
18.08.2020 SaanenlandIm Kanton Bern werden die amtlichen Werte der nichtlandwirtschaftlichen Grundstücke und Wasserkräfte rückwirkend auf den 1. Januar 2020 angepasst. Die drei Gemeinden im Saanenland sind von der Erhöhung massiv betroffen. Die Liegenschaftsbesitzer in Gsteig und Lauenen haben die Eröffnung bereits erhalten. Mit einer von Privatpersonen lancierten Petition will sich eine Delegation aus dem Saanenland am 25. August in Bern Gehör verschaffen.
ANITA MOSER
«Dicke Post für Liegenschaftsbesitzer» – so titelte der «Anzeiger von Saanen» in der Ausgabe vom 15. Mai. Saanen, Gsteig und Lauenen sind durch die Neubewertung der nichtlandwirtschaftlich bewerteten Grundstücke massiv betroffen. Im Durchschnitt steigt der amtliche Wert in Lauenen um 134 Prozent, in Gsteig um knapp 100 Prozent und in Saanen rechnet man mit einer Erhöhung von 154 Prozent. Einzelne Liegenschaftsbesitzer wird es weniger hart treffen, andere dafür umso mehr.
Die Liegenschaftsbesitzer in den Gemeinden Gsteig und Lauenen haben die Eröffnung der Neubewertung bereits im Juli erhalten (die Liegenschaftsbesitzerinnen und -besitzer in der Gemeinde Saanen erhalten sie im September). Die befürchteten Auswirkungen sind eingetroffen, teils auch übertroffen worden. Auch das Ehepaar Martina und Hansueli Reichenbach ist von der Erhöhung betroffen, und zwar ungerechtfertigt hoch, wie Hansueli Reichenbach betont. Ihr Haus liegt abgelegen auf der Wolfegg auf 1400 Metern über Meer.
Die Neubewertung sei unfair, ein Schreibtischentscheid, so Reichenbach. Nur in Einzelfällen habe es einen Augenschein gegeben. Er sei nicht grundsätzlich gegen eine Erhöhung des amtlichen Wertes, aber nicht in diesem Ausmass, so Reichenbach. Ein Plus von maximal 80 Prozent würde er persönlich in Kauf nehmen. «Aber alles, was über 100 Prozent liegt, ist überrissen», sagt er dezidiert.
Viele Reaktionen
Die Gemeindeverwaltungen in Lauenen und Gsteig wurden mit Anfragen überhäuft und mussten viele Grundstücksprotokolle herausgeben. Die beiden Gemeinden haben sich mit Briefen an die Regierung gewandt und auch die Petition findet grosses Echo. «Nie im Traum hätten wir eine solche grosse Unterstützung von Privaten, von der Politik und dem Gewerbe erwartet», freut sich Hansueli Reichenbach. Am 25. August werden die bis dahin gesammelten Unterschriftenbögen durch eine Delegation aus dem Saanenland Regierungsrätin Beatrice Simon übergeben. Sie wird die Oberländer zu einer Aussprache treffen. Das Ehepaar Reichenbach will – nach dem Motto «Steter Tropfen höhlt den Stein» – in Bern mehr als ein Zeichen setzen, auch wenn zwei bisherige Aussprachen zwischen einer Delegation aus dem Saanenland und Kantonsvertretern nichts gefruchtet haben. «Wir sind hartnäckig», zeigt sich Reichenbach kämpferisch. Verlangt wird nichts weniger, als dass «die vom Regierungsrat eingesetzte Schatzungskommission über die Bücher geht, eine Neubeurteilung macht».
Bis zu mehreren Tausend Franken mehr
Die Schatzungskommission habe das Augenmass verloren, betont Hansueli Reichenbach. Die neuen amtlichen Werte führten zu einer enorm höheren Steuerbelastung – bis zu mehreren Tausend Franken im Jahr –, zu Nachteilen bei Sozialleistungen, zu überteuerten Verkehrswerten und zu ungewissen Auswirkungen für die Zukunft. Mit dieser Neubewertung giesse der Staat Öl ins Feuer, er fördere die Spekulation, ein weiteres Ansteigen der (Miet-)Preise und provoziere eine Abwanderung einheimischer Familien. Dem Artikel 56 des bernischen Steuergesetzes, wonach der amtliche Wert unter Berücksichtigung der Förderung der Altersvorsorge und des Wohneigentums massvoll festzulegen sei, werde nicht ausreichend Rechnung getragen.
Landrichtwert: Gsteig und Lauenen vor Thun
Zahlreiche Kriterien zählen für die Neuberechnung. Aber es sind vor allem der Landrichtwert und die Mietwertkategorie, welche die grössten Auswirkungen haben. «Als Grundlage für die Festsetzung der Landrichtwerte pro Gemeinde bzw. Gemeindekreis (BFS-Nr.) dienen die erhobenen Kaufpreise aus der Bemessungsperiode (2013 bis 2016) und/oder der relative Landwert gemessen an Mehrfamilienhäusern», heisst es in den Bewertungsnormen. In Saanen gilt gemäss diesen Normen ein Landrichtwert von Fr. 2000.–/m2, in Lauenen 860 Franken und in Gsteig 1390 Franken. In Gsteig sorgt der Betrag für Kopfschütteln. Zum Vergleich: Thun und Spiez haben einen Landrichtwert von Fr. 800.–, die Stadt Bern Fr. 1670.–, Lenk Fr. 600.–, Zweisimmen Fr. 400.–. Es sei unverhältnismässig, die Norm anhand von einzelnen, zugegebenermassen überrissenen Kaufpreisen festzulegen, sagt Reichenbach.
Mietwertkategorie: Saanen vor und Lauenen knapp hinter Bern
In keinem Verhältnis stehe auch die Mietwertkategorie (Marktverhältnisse in der Bemessungsperiode 2013 bis 2016). Saanen führt mit Kategorie 25 die Rangliste an – noch vor der Stadt Bern. Diese findet sich – je nach Lage – in den Kategorien 22 bis 24 (Altstadt). Lauenen ist in der Kategorie 22 und damit gleichauf mit Teilen der Stadt Bern oder mit der Gemeinde Muri. Gsteig ist in der Kategorie 19 und damit ebenfalls noch vor Thun (16), Lenk (ebenfalls 16), Zweisimmen oder Spiez (beide 14). «Lauenen war zuvor in Kategorie 10 von 22, jetzt in der 22. von 25», empört sich Hansueli Reichenbach. Schon im Herbst letzten Jahres habe er in Bern telefonisch vorgesprochen und erklärt, dass das Saanenland trotz Bekanntheitsgrad immer noch eine Randregion sei. Immerhin verfüge die Region über einen Airport, habe man ihm lapidar geantwortet.
«Keine Gleichbehandlung»
Ziel der Neubewertung ist die steuerliche Gleichbehandlung der Personen mit Grundeigentum unterschiedlicher Regionen und die Gleichbehandlung zwischen Personen mit Grundeigentum und solchen mit beweglichem Vermögen. Dieses Ziel werde verfehlt, betont Reichenbach: «Bei einem gewinnbringenden Verkauf einer Liegenschaft profitieren die Standortgemeinde und der Kanton mit sehr hohen Einnahmen bei der Grundstücksgewinnsteuer. Wer aber mit Wertpapieren grosse Gewinne macht, versteuert keinen Franken – es gibt bis anhin keine Kapitalgewinnsteuer.» Ungerecht sei auch die immer grösser werdende Differenz zwischen einem Bauernbetrieb und einer vergleichbaren nichtlandwirtschaftlichen Wohnung. Er habe nichts gegen Landwirte, im Gegenteil, sein Bruder sei auch Landwirt, aber diese Differenz sei nicht mehr erklärbar.
Unverständlich sei ebenfalls, weshalb viele Landwirte für etliche ihrer Grundstücke eine Neueröffnung erhalten hätten – was zu einer unnötigen Papierflut führe –, obschon die Neubewertung im Prinzip nur nichtlandwirtschaftliche Grundstücke betreffe.
«Einsprachen ernst nehmen»
Die Einsprachefrist beträgt 30 Tage – sie ist nicht verlängerbar. Den Steuerpflichtigen werde einiges zugemutet, so Reichenbach. «Die Materie ist kompliziert, man muss sich durch die Bewertungsakten kämpfen, alles vergleichen und begründen.» Die Kantonsbörde rate von Einsprachen ab, ausser die Neubewertung enthalte nachweisbare Mängel. «Fehler muss man mit Fakten belegen», so Reichenbach. Und gegen die allgemeine Neubewertung und gegen die Bewertungsnormen könne man keine Einsprache erheben. Das lasse er nicht gelten. Und genau dem wolle er mit der Petition Nachdruck verleihen. Der von den Behörden erlassene «krasse Entscheid» betreffe eine ganze Region und Hunderte Grundstücke. «Würde eine Bank den Hypothekarzins über Nacht verdoppeln oder verdreifachen, wäre der Aufschrei gross. Macht es der Staat, budgetieren die Gemeinden nach und sonst bleibt es lange verdächtig ruhig …»
Er erwarte, so Reichenbach, dass auch allgemein gehaltene Einsprachen ernst genommen werden. «Wir hoffen, dass alle von einer Neubeurteilung und damit von einer tieferen Einschätzung profitieren und nicht nur jene, die Einsprache erheben.»
Ein Zeichen setzen
Grossrat Hans Schär unterstützt die Petition. In einem Leserbrief in dieser Zeitung rief er die Bevölkerung dazu auf, die Petition zu unterschreiben und damit ein Zeichen zu setzen. «Es sei wichtig, dass auch die Saaner Bevölkerung die Petition unterschreibt, auch wenn die Auswirkungen in der Gemeinde Saanen noch nicht bekannt sind», sagt Hans Schär. Auch ihm stossen der Landrichtwert und die Mietrechtkategorie sauer auf. Er fordert: «Es muss eine deutliche Differenz geben zwischen Lauenen, Gsteig und der Stadt Bern.» Höher als die Stadt Thun dürften die beiden Gemeinden auf jeden Fall nicht eingestuft werden. «Damit würden die Werte deutlich gesenkt.»
«Es gibt Härtefälle»
Es werde Härtefälle geben, weiss der Gstaader Treuhänder Jürg Horn. Eine Erhöhung von einem halben bis einem Monatslohn treffe Liegenschaftsbesitzerinnen und Liegenschaftsbesitzer im Tieflohnsektor hart. Besonders betroffen seien auch Eigentümer/innen, die auf Ergänzungsleistungen angewiesen seien oder Witfrauen, deren Ehemänner noch keine Pensionskasse hatten. Jürg Horn rät aber von «Einsprachen um der Einsprache willen» ab. «Sie sind chancenlos.» Einsprachen müssen anhand der vielen Bewertungskriterien gut begründet werden können. «Etwa, wenn es sich um einen Fehler im Aufnahmeprotokoll handelt.» Er erklärt: «Gemäss Peter Jaussi, Teamleiter Bewertung nichtlandwirtschaftliche Bewertungen, kann gegen die allgemeine Neubewertung und die nichtlandwirtschaftlichen Normen keine Einsprache gemacht werden.» Man könne höchstens auf politischem Weg etwas erreichen, so Horn. Er teilt hingegen die Einschätzung von Hansueli Reichenbach betreffend des Artikels 56 des kantonalen Steuergesetzes. «Mit der neuen Bewertung wird diesem Artikel nicht nachgelebt.»
Um die Auswirkungen etwas abzufedern, haben die Gemeinden Lauenen und Saanen ihre Liegenschaftssteuern gesenkt. Lauenen von 1,5 auf 0,6 Promille, Saanen von 1,5 auf 1 Promille. «Lauenen hat es löblich gemacht», sagt Jürg Horn. «Mit dem tieferen Satz bleiben die Liegenschaftssteuern in etwa gleich.» Die Gemeinde Saanen hätte aus seiner Sicht die Liegenschaftssteuer noch tiefer ansetzen können. Gsteig hat hingegen auf eine Senkung verzichtet. Man wollte die Auswirkungen abwarten. Wie Finanzverwalter Karl Graa im Mai erklärte, wird eine Anpassung aber spätestens an der Dezember-Gemeindeversammlung ein Thema.
Region hat auch profitiert
Dass die Neubewertung das Saanenland dermassen trifft, hat auch damit zu tun, dass der Kanton 20 Jahre lang keine Anpassung gemacht hat. In diesen Jahren hat das Saanenland aber auch stark vom Immobiliensektor profitiert. «Unter anderem hat man auch dank den teuren Chalets sehr viele Arbeitsplätze geschaffen und damit Wertschöpfung generiert», so Horn.
Infos unter https://tinyurl.com/y33boqrz
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PETITION
Die von Martina und Hansueli Reichenbach lancierte Petition liegt in den drei Gemeindeverwaltungen Lauenen, Gsteig und Saanen sowie in verschiedenen Geschäften auf. Unterschreiben kann die Petition jede Person, unabhängig von Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeit. Die Unterschriftenbögen können auf den Gemeindeverwaltungen abgegeben oder direkt an die Initianten der Petition, an das Ehepaar Martina und Hansueli Reichenbach, geschickt werden. Am Dienstag, 25. August werden die Unterschriftenbögen den Kantonsbehörden in Bern überreicht. Die Unterschriftensammlung dauert jedoch über dieses Datum hinaus, da die Liegenschaftsbesitzer in der Gemeinde Saanen die Eröffnung der Neubewertung erst im September bekommen.
ALLGEMEINE NEUBEWERTUNG
«Mit der allgemeinen Neubewertung 2020 soll die steuerliche Gleichbehandlung gemäss den gesetzlichen Vorgaben wiederhergestellt werden. So sollen alle Liegenschaften steuerlich korrekt bewertet werden, egal in welcher Region (Stadt Bern, Saanen oder Courtelary) sich die Liegenschaft befindet, oder um welche Gebäudeart (bspw. Ein-, Zweioder Mehrfamilienhaus) es sich handelt. Ebenso sollen Personen mit Grundeigentum und solche mit beweglichem Vermögen (bspw. Bankkonti) steuerlich wieder vergleichbar belastet werden», schreibt der Kanton als Ziel der Neubewertung. Zur Berechnung der neuen amtlichen Werte wurden im Oktober 2018 von der Kantonalen Schatzungskommission die neuen «Nichtlandwirtschaftlichen Normen» verabschiedet.