Stehen Kinder und Jugendliche unter Stress?

  27.10.2020 Gesellschaft

Dass Erwachsene unter Druck stehen, häufig erschöpft sind und mit vielen Aspekten des Lebens gleichzeitig jonglieren, ist in der Schweiz nichts Aussergewöhnliches. Wie sieht es aber bei Kindern und Jugendlichen aus – färbt das Gesellschaftsphänomen «Stress» auf sie ab?

NADINE HAGER
Stress ist ein Gesellschaftsproblem. Überstunden und Erschöpfung sind schon lange kein besonderes Gesprächsthema mehr – unter Druck zu stehen, etwas hinterherzurennen oder die Ferien als rettenden Anker in einem auslaugenden Alltag zu sehen, scheint einfach dazuzugehören. Doch wie sieht es mit den jüngeren Generationen aus? Färbt unser Muster auch auf Kinder und Jugendliche ab – und in welchem Ausmass?

Stress im Saanenland
Um hierauf Antworten zu erhalten, hat der «Anzeiger von Saanen» zwei Fachgespräche geführt. Evelyne Moser-Hänni ist seit drei Jahren Schulsozialarbeiterin im Oberstufenzentrum Ebnit und betreut daneben die Schulhäuser Schönried und Gruben. Dort berät sie das ganze Spektrum zwischen Kindern im Kindergartenalter und Jugendlichen aus der neunten Klasse. Stress und Druck seien Themen, welche immer mal wieder auftauchten, wenn Schülerinnen und Schüler Hilfe bei ihr suchten, sagt sie. «Ich habe das Gefühl, diese Thematik taucht in allen Alterskategorien auf – besonders jedoch bei Übertritten wie Schuleintritt, Wechsel in die Oberstufe und bei der Berufswahl.» Keinesfalls sei dies als Hauptanliegen der Jugendlichen und Kinder zu betrachten: Stress sei einfach eine verbreitete Begleiterscheinung ganz verschiedener Sorgen.

Ähnlich sieht dies Hanspeter Reber, Psychologe und Leiter der Erziehungsberatung Spiez, welcher auch für die Region Saanen zuständig ist. «Stress und Druck sind sehr selten der eigentliche Anmeldegrund für eine Beratung, sondern zeigen sich als Begleiterscheinung», erklärt er. Hanspeter Reber begleitet junge Menschen im Alter von bis zu 20 Jahren und verzeichnet die meisten Anmeldungen auf der Primarstufe, weil dort Schulfragen zum ersten Mal auftauchen. Stress ist also grundsätzlich präsent bei einigen Kindern und Jugendlichen des Saanenlandes. Laut Evelyne Moser-Hänni und Hanspeter Reber ist dieser manchmal auch mit körperlichen oder psychischen Symptomen verbunden: Einige Schülerinnen und Schüler weisen Kopf- oder Bauchschmerzen auf, leiden an Schlaf- und Rastlosigkeit oder legen gestörtes Essverhalten an den Tag.

Ein schweizweites Phänomen
2015 wurde durch die Juvenir-Studie 4.0 der Jacobs Foundation publik, dass der Stress ein Thema in der ganzen Schweiz ist. 2015 gaben 23 Prozent von 1538 Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 21 Jahren selbsteinschätzend an, selten bis nie gestresst oder überfordert zu sein – hingegen fast die Hälfte aller Befragten bezeichnete sich als häufig oder sehr häufig gestresst. Zwischen 1998 und 2014 hat ausserdem eine HSBC-Studie Daten dazu erhoben, wie sich das Stressniveau entwickelt hat. Sie zeigt insgesamt in der Alterskategorie von 11 bis 15 Jahren einen Anstieg bei den als sich gestresst bezeichnenden Kindern.

Hanspeter Reber hält diese Studienergebnisse durchaus für möglich. Während allgemein davon ausgegangen wird, dass der von der Umwelt auferlegte Druck zugenommen hat, ist dies für ihn nur die Hälfte der Wahrheit. «Ich glaube, im Vergleich zu früher kann man einen Rückgang der Frustrationstoleranz bei Kindern und Jugendlichen feststellen», erklärt der Psychologe im Interview. Weniger Frustrationstoleranz bedeutet auch weniger Stressresistenz: Mit herausfordernden Situationen kann weniger gut umgegangen werden. Will heissen: Es ist nicht nur im Allgemeinen mehr Druck da, sondern er wird auch weniger gut vertragen.

Jugendliche werden besonders von vier Anforderungsbereichen unter Druck gesetzt, die da wären: Das Leistungsdenken der Gesellschaft, der technische Fortschritt, die Erziehung und die Pubertät. In einigen dieser vier Faktoren haben sich in den letzten Jahren Veränderungen abgespielt, welche mehr Druck aufsetzen – andere sind gleich geblieben und stellen in gewohnter Form Herausforderungen dar.

Leistungsdenken der Gesellschaft
Anerkennung wird von Leistung abhängig gemacht: Dies ist ein nicht geringfügiger Teil unseres Systems. 2017 haben Thomas Curran und Andrew P. Hill eine Studie zum Thema Perfektionismus veröffentlicht, welche nicht allein dessen herkömmliche Form, sondern auch den von aussen auferlegten Druck untersucht. In dieser Studie ist zu lesen: «Die Struktur der Leistungsgesellschaft beinhaltet, dass Prinzipien der Bildung und des Arbeitens mit dem persönlichen Wert verknüpft werden». Wer «weniger» erreicht, wird auch weniger hoch geachtet – deshalb geniessen Akademiker oft höheres Ansehen als ein Plattenleger.

«In unserer Gesellschaft wird der schulische Abschluss sehr stark gewichtet», bestätigt Evelyne Moser-Hänni das Statement der Studie. «Ich finde es unglaublich gefährlich, nur noch Akademiker wertzuschätzen. Was täten wir ohne unsere guten Berufsleute? Es ist eine sehr bedenkliche Entwicklung, dass nur noch die schulische Laufbahn jene sein soll, die zählt.» Mittelmässige Noten und eine Berufslehre sind nicht gut genug – dieses Denken legt den Jugendlichen eine grosse Last auf. Auch Hanspeter Reber hat diese Entwicklung bemerkt. Für das Saanenland sieht er die Situation jedoch anders: «Da muss ich dem Saanenland und dem ganzen Berner Oberland ein Kränzchen winden. Die Berufslehre hat noch einen viel höheren Stellenwert und eine höhere Anerkennung als andernorts und das Gewerbe schaut hier für qualifizierte Arbeitsplätze.» Mit der alleinigen Anerkennung akademischer Berufe ist auch das Phänomen verwandt, dass Kreativität weniger hoch geschätzt wird als kognitive Fähigkeiten. «In unserem schulischen System wird man sehr stark auf die kognitive Leistung reduziert, das finde ich bedauerlich», erklärt Evelyne Moser-Hänni im Interview. «Jemand kann unglaublich kreativ sein, in der Schule jedoch nicht so gute Noten abliefern – der Kreative wird niemals so hoch gestellt, wie derjenige mit den guten Noten.» Auf diese Weise ist es für Kinder und Jugendliche nur unter der Erfüllung sehr begrenzter Kriterien möglich, Anerkennung zu erhalten. Das kann zu Stress führen.

Leistungsdenken der Eltern
Doch dies sind nicht die einzigen Hürden der Leistungsgesellschaft: Nicht nur die Jugendlichen selbst, sondern auch deren Eltern stecken häufig in diesem Hamsterrad des «Mehrwollens» fest. Damit besteht die Gefahr, dass sie als schlechte Vorbilder fungieren. «Leistungsdruck und Stress bei den Eltern, ja, bei der ganzen Gesellschaft überträgt sich eins zu eins auf die Kinder und Jugendlichen», so Evelyne Moser-Hänni. «Stress und Leistungsdruck sind ein Gesellschaftsproblem, das wir auf die Kinder und Jugendlichen übertragen.»

Ausserdem kann es dazu kommen, dass Eltern ganz unbewusst belastende Anreize setzen: Hanspeter Reber schildert, dass Eltern und Lehrer übermässigem Lernen oft mit viel Anerkennung begegnen. Dadurch falle es Schülerinnen und Schülern schwerer, die Arbeit zur Seite zu legen. Und in der erwähnten Studie von Curran und Hill wird beschrieben, dass Eltern ihre Erziehung je länger je mehr auf den Erfolg ihres Kindes ausrichten. «Sie fühlen sich verantwortlich dafür, dass ihr Kind gute Noten schreibt und einen angesehenen Weg einschlägt. Somit ist es wahrscheinlich, dass sie ihre Kinder vermehrt im schulischen Bereich fördern, wodurch ihnen weniger Zeit bleibt für den Ausgleich.»

Werte durch Erziehung
Eltern haben mit ihrem Verhalten also unbewussten Einfluss auf die Stresssituation ihres Kindes. Noch stärker wirkt sich jedoch die Erziehung aus: Bereits erwähnt wurde, dass Frustrationstoleranz und Stressresistenz mit der Zeit eher abgenommen haben; das ist von der Erziehung abzuleiten. Laut Hanspeter Reber hat sich nämlich der gängige Erziehungsstil verändert. «Die Thematik, den Kindern und Jugendlichen auch etwas zuzutrauen und zuzumuten, und sie nicht aus Bequemlichkeit, Angst oder Konfliktscheu vor Zumutungen und Erfahrungen zu schützen, ist ein sehr häufiges Thema in der Erziehungsberatung.» Oft würde Kindern zu wenig Freiraum gegeben, etwas selber zu machen und die Konsequenzen dafür zu tragen. Dies schränke die Erfahrbarkeit der eigenen Person ein und wirke sich entwicklungshemmend aus, da auf diese Weise nur eingeschränkt Selbstvertrauen aufgebaut werden kann. «Wodurch gewinnt man Selbstwert und Selbstvertrauen? Indem man Hürden überwindet und etwas wagt und schafft, das nicht einfach so funktioniert», erklärt Hanspeter Reber. Mit hohem Selbstvertrauen können Jugendliche Wert aus sich selber schöpfen und sind weniger anfällig für Stress. Somit gründet die Abnahme von Stressresistenz unter anderem darin, dass aus der Erziehung wenig Selbstwert mitgenommen wird.

Herausforderung Pubertät
Gerade in der Pubertät ist es wichtig, ein gesundes Selbstvertrauen zu haben oder zu entwickeln. Dieser hormonelle Umbruch bewirkt ab ungefähr dem zwölften Lebensjahr, dass das ganze Hirn umgebaut und das Denken neu vernetzt wird. Diese Entwicklung übt einen starken Einfluss auf die Gefühlswelt und die Leistungsfähigkeit der Jugendlichen aus. «Ich habe das Gefühl, dass auf diese Umstellung relativ wenig Rücksicht genommen wird. Die Erwartungen sind im Grossen und Ganzen sehr hoch. Ich glaube, dass viele in der Entwicklung einfach noch nicht weit genug sind, um alles zu schaffen», gibt Evelyne Moser-Hänni zu bedenken.

Besonders die Identitätsfrage spielt in der Pubertät eine Schlüsselrolle: Auf der Suche nach der Antwort auf das «Wer bin ich?» orientieren sich die jungen Erwachsenen stark am Aussen. Sie beobachten ihre Wirkung auf das Umfeld und wünschen sich Anerkennung und Verständnis für ihre Person, sind dabei aber häufig verunsichert, weil ihre Identität noch labil und unsicher ist. Diese Unsicherheit ist heikel: «Der verstärkte Anspruch, zu gefallen, bringt mit sich, dass man alles gut machen möchte», so Hanspeter Reber. In der Zeit der Pubertät setzen sich die Jugendlichen deshalb oft selber unter Druck: Beispielsweise durch den Vergleich mit Gleichaltrigen. «Wenn man sich mit anderen vergleicht, schneidet man in der Regel schlechter ab als der andere», erklärt Evelyne Moser-Hänni. Dementsprechend ist das Selbstvertrauen von Jugendlichen in der Tendenz niedrig – was sie abhängiger macht von den Leistungsmechanismen, welche Anerkennung einbringen. Hanspeter Reber bestätigt dies. «Viele Jugendliche machen ihr Selbstvertrauen vom Aussen abhängig. Dadurch versuchen sie, möglichst viele Likes zu erhalten oder orientieren sich an ihrer Followerzahl.»

Aber: Überall gut anzukommen ist anstrengend. Hanspeter Reber fällt dies besonders bei den Mädchen auf. «Ich nenne diesen Faktor ‹Beziehungswesen›. Das ist eine sehr häufige Quelle von Stress. Speziell Mädchen möchten es allen maximal recht machen und haben Ängste und Erwartungen in Bezug darauf, wer mit wem befreundet ist.»

Social Media & Co.
Mit der neusten Technik der sozialen Medien stösst dieses Beziehungswesen kaum auf Grenzen. Hanspeter Reber schildert, dass Social Media ein Vielfaches von Stressoren obendrauf gibt: Die Menge an Kontakten und Informationen, die enormen Möglichkeiten zur Selbstdarstellung, die Angst, etwas zu verpassen, die Dauerpräsenz von Beziehungsfragen, das Vergleichen mit der ganzen Welt ... Die Studie von Curran und Hill thematisiert die sozialen Medien ebenfalls in Bezug auf Perfektionismus: «Das Ausgesetztsein gegenüber perfekten Selbstrepräsentationen der anderen auf den sozialen Medien kann die Sorgen wegen dem Erscheinungsbild des eigenen Körpers und das Gefühl der sozialer Ausgrenzung verstärken.» Dazu kommt der Druck der Dauererreichbarkeit, so Hanspeter Reber: «Wenn eine Antwort länger als zehn Minuten ausbleibt, ist bei Jugendlichen häufig bereits eine Beziehungsaussage, wie zum Beispiel: ‹Ich bin ihr nicht mehr wichtig oder weniger wichtig als andere›»

Ein weiteres Problem sieht Evelyne Moser-Hänni im Suchtpotenzial. «Einige wissen genau, dass sie viel zu tun haben, finden es jedoch sehr schwierig, das Handy zur Seite zu legen.» Dies sorgt auch dafür, dass junge Erwachsene oft nicht bewusst Zeit in Youtube, Instagram und Co. investieren, damit aber insgesamt trotzdem stundenlang beschäftigt sind – Zeit, die später fehlt. Hand in Hand mit dieser Beschäftigung gehe im Übrigen auch eine andauernde Präsenz von visuellen oder auditiven Reizen, merkt Hanspeter Reber an. Dauernd sei man beschäftigt, beispielsweise durch Musikhören oder Nachrichten lesen. Das Gehirn arbeite laufend, was zu Ermüdung, zu weniger Konzentration und zu mehr Stressanfälligkeit führe.

Mehr Möglichkeiten
«Die Zeit reicht nicht für alles.» 89 Prozent aller Jugendlicher, welche sich im Rahmen der eingangs erwähnten Juvenir-Studie 4.0 als gestresst bezeichneten, haben den Druck mit dieser Aussage begründet. Auch Hanspeter Reber sieht darin einen Schlüsselfaktor. «Ich habe das Gefühl, dass in den letzten Jahren nicht primär nur die Anforderungen vonseiten der Umwelt gestiegen sind, sondern dass Kinder und Jugendliche innerhalb der gegebenen 24 Stunden einfach mehr wollen oder mehr unterbringen müssen als früher. Die Möglichkeiten, welche zur Verfügung stehen, sind sehr viel zahlreicher geworden und im Verhältnis auch weniger teuer als früher.» Eine Party, ein Ausflug, schnell verreisen und mehrere Freizeitaktivitäten von Chor bis Judo: Es herrscht Zeitdruck. Man möchte die schulischen – aber auch die eigenen – Erwartungen erfüllen, Sport mit Erfolg betreiben, Freizeit haben, das Beziehungswesen erfolgreich pflegen und bewältigen, die Eltern zufriedenstellen und sich trotzdem gleichzeitig von ihnen lösen. Wenn Kinder und Jugendliche gestresst sind und sich unter Druck gesetzt fühlen – dann wohl durch die Summe all dieser Faktoren.

Perfektionismus
Sämtliche Anforderungen von Privatleben und Ausbildung, von Beziehungen und Selbstfindung wollen auf irgendeine Weise gemeistert werden. Gefährlich wird es für die psychische Gesundheit Jugendlicher und Kinder dann, wenn sie diese Herausforderungen alle gleich gut meistern wollen und sich keinen Raum für Misserfolge einräumen – erst recht, wenn sie dabei davon ausgehen, dass sie alles allein meistern müssen und keine Hilfe anfordern. Der innere Perfektionist führt die vielen Anforderungsbereiche mit hohen Ansprüchen zusammen. «Ich muss alles selber erfolgreich in 24 Stunden schaffen» ist seine Devise: Alles, erfolgreich, ohne Hilfe.

In der erwähnten Studie aus 2017, welche von Thomas Curran und Andrew P. Hill durchgeführt worden ist, wurde zum Perfektionismus in den USA, Kanada und der UK geforscht. Rund 42’000 Studenten wurden während eines Zeitraumes von 27 Jahren vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen Veränderungen zu ihren Ansichten und Einschätzungen befragt. Die Forschungsergebnisse verzeichnen im Zeitraum zwischen 1989 und 2016 einen Anstieg von 10 Prozent des selbstbezogenen Perfektionismus. Auch in der Juvenir-Studie hatten die zweit- und vierthäufigste genannte Begründung für den hohen Leistungsdruck perfektionistische Züge: «Auch unter Druck möchte ich immer alles möglichst gut machen» und «Ich setze mich vor allem selbst unter Druck» wurden von 86 Prozent und 80 Prozent der sich als gestresst bezeichnenden Befragten als zutreffend angegeben. Den Hauptteil des Stresses machen sich die Jugendlichen also selbst. Hanspeter Reber bestätigt die naheliegende Vermutung, dass sie dabei zum Teil den äusserlich zunehmenden Druck internalisiert und zu ihrem eigenen gemacht haben. Laut Curran und Hill hat der sozial auferlegte Perfektionismus in der genannten Zeitperiode nämlich um ganze 33 Prozent zugenommen.

Was tun?
Das Stresspotenzial ist also grundsätzlich für alle vorhanden. Aber: Erziehung und Persönlichkeit haben einen sehr grossen Einfluss darauf, wie letztendlich mit diesem Potenzial umgegangen wird. Das bedeutet, dass Einfluss genommen werden kann darauf, wie der oder die Einzelne mit der vorhandenen Situation umgeht.

Sowohl Evelyne Moser-Hänni als auch Hanspeter Reber sehen den Schlüssel zur Entlastung in der Selbstreflexion der Kinder und Jugendlichen, welche idealerweise von Begleitund Vertrauenspersonen angeregt werden soll. Die Schulsozialarbeiterin führt dies folgendermassen aus: «Kinder und Jugendliche sind darauf angewiesen, dass jemand die andere Seite spiegelt und ihnen zeigt, dass es noch mehr gibt als das andauernde Leisten. Diese Personen sollen die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen begleiten und ihnen helfen, hinzuschauen.»

Fehler machen gehört zum Leben! Wie fühle ich mich? Was stresst mich? Was könnte ich ändern? Wofür entscheide ich mich? Solche Fragen können helfen, einen Überblick über ihre Gefühlslage zu bekommen und zu handeln.

Hanspeter Reber hebt dabei besonders die Unterstützung bei der Priorisierung hervor. «Wir Erwachsenen müssen die Entscheidungsfähigkeit und die Entscheidungsbereitschaft der Jugendlichen fördern.» Wenn der Tag weiterhin 24 Stunden hat, aber alles Mögliche in ihn hineingestopft werden soll, müssen sich Kinder und Jugendliche entscheiden können – was ist wirklich wichtig? Dabei solle man sich auch dafür entscheiden, eine halbe Stunde pro Tag ganz leer zu behalten, sagt Hanspeter Reber.

Ich finde, es wäre gut, wenn sich Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene jeden Tag eine halbe Stunde langweilen würden. Das mag anfänglich schwierig und ungewohnt sein, macht aber kreativ und produktiv.» Evelyne Moser-Hänni bestätigt: «Ungeplante Zeiten sind wichtig für die Entwicklung der Kinder. Sie lernen dabei, sich selber zu beschäftigen und ihre Selbstsicherheit wird gestärkt.» Genau diese Selbstsicherheit schenkt dann wiederum Frustrationstoleranz – und damit Stressresistenz.

Wichtig ist es jedoch nicht nur, aufmerksam zu sein und zu unterstützen. Im Grunde beginnt es mit der Erziehung: Bereits dort können Eltern sich entscheiden, welche Werte sie ihrem Kind vermitteln möchten. Ist es in Ordnung, Hilfe zu beanspruchen oder soll man alles selber lösen? Wird Kreativität gleich hoch geschätzt wie die kognitiven Fähigkeiten? Ist auch eine Berufslehre okay? Evelyne Moser-Hänni spricht einen Appell aus. «Liebe Eltern, liebe Gesellschaft, die Kinder und Jugendlichen brauchen Zeichen der Anerkennung und Aufmerksamkeit ausserhalb des Leistungsdenkens!» Und auch das eigene Verhalten beeinflusst die Werte der Kinder. Hanspeter Reber und Evelyne Moser-Hänni finden es wichtig, sich als Eltern ihrer Vorbildfunktion voll und ganz gewahr zu werden: Stehen sie selbst regelmässig unter Druck, ist es für ihre Kinder schwierig, es später anders zu wählen.

Ein Fazit zum Schluss
Es ist sehr wichtig, in diesem Thema nicht den Teufel an die Wand zu malen. Aussagen wie «Das Burn-out ist im Kinderzimmer angekommen» sind zu allgemein und werden der Individualität der Kinder und Jugendlichen nicht gerecht. Im Grossen und Ganzen bezeichnen sich junge Menschen heute häufiger als gestresst als früher: Druck ist ein Thema, ja, das Potenzial für Stress ist da. Jene Werte, welche Kindern und Jugendlichen mitgegeben werden und deren eigene Persönlichkeit entscheiden aber, – gemeinsam mit der Unterstützung von aussen – ob und wie stark dieser Stress dann tatsächlich eintritt.

Der allgemeine Anstieg des Stressniveaus kann demzufolge hauptsächlich als Anlass genommen werden, sich auf seine Werte zurückzubesinnen. Was zählt – was ist wirklich wichtig? Und wer weiss ... Wenn Eltern, Lehrer, Jugendliche und alle anderen bewusst diese Fragen stellen, hält vielleicht wieder mehr Leichtigkeit Einzug in das Leben Jugendlichen – ja, vielleicht sogar in jenes der Erwachsenen selbst.


STRESS IST PER SE NICHTS NEGATIVES

Nicht jede Art von Stress ist negativ und belastend. Im Allgemeinen werden zwei Arten von Stress unterschieden.

Eustress
Zu wenig Stress führt zu Langeweile, Lethargie und Unzufriedenheit: Ein stressfreies Leben würde keine Herausforderungen an uns richten. Deshalb ist Eustress positiv: Er kann uns motivieren und dazu bewegen, Leistung zu erbringen und eine Aufgabe zu verfolgen. Um produktiv und gefordert zu sein, braucht man ein gesundes Mass an positivem Stress.

Distress
Steigt hingegen unsere Stressbelastung und ist für uns nicht länger angenehm oder nicht mehr zu bewältigen, so entsteht Distress. Oft kann man solche Anforderungen nicht zur eigenen Zufriedenheit bewältigen. Die Folge: Man fühlt sich überbeansprucht und ausgezehrt.

Quellen: NetDoktor, Klaus Grawe Institut, Akademie für Sport und Gesundheit

 


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