«Ehmals und jetzt» – eine Begegnung mit Claudio Abbado

  03.11.2020 Kultur

In jüngeren Tagen war ich des Morgens froh, Des Abends weint ich; jetzt, da ich älter bin, Beginn ich zweifelnd meinen Tag, doch Heilig und heiter ist mir sein Ende.
Friedrich Hölderlin, 1799

Dieser Aphorismus steht in Deutsch und Italienisch eingraviert in Messingtafeln auf einer Sitzbank im Fextal. Die Entdeckung dieses magischen Fleckchens Erde verdanke ich meiner langjährigen Freundin, der Musikerin Sophia Reuter – Sophia Reuter war Studentin in der Menuhin-Akademie (IMMA) und langjährige Assistentin von Alberto Lysy –, vor allem aber auch Gian Clalüna, dem Inhaber der Fuhrhalterei im Fextal, der die entscheidende Rolle in dieser Geschichte spielt. Und das kam so: Sophia erzählte mir, sie spiele Ende August in einem Konzert des Corvus-Oboen-Quartetts im Hotel Waldhaus in Sils im Engadin. «Da komme ich mit!», sagte ich. Gesagt, getan. Schon bald einmal verriet mir Sophia, sie hätte im Fextal noch etwas Wichtiges zu erledigen, etwas mit einer hölzernen Bank. Im Fextal? Natürlich wusste ich, dass Claudio Abbado im Fextal gelebt hatte. Hatte es etwas mit Abbado zu tun?

Nun offenbarte sie mir ihren Plan: Der Flötist Emmanuel Pahud – ein enger Musikerfreund Abbados – hatte Messingtafeln mit eben jenem Lieblingsgedicht des Künstlers auf einer massiven hölzernen Sitzbank an einem traumhaften Fleckchen Erde anbringen lassen.

Bei einem ihrer Besuche im Engadin bemerkte die bekannte Berliner Kulturjournalistin und Freundin Sophias, Maria Ossovsky, dass die Schrift auf den Tafeln beinahe unleserlich geworden war. Ihre Putzversuche im Juli 2020 waren zwar erfolgreich, aber es fehlte die Versiegelung. So bat sie Sophia, dies doch mit «Antique Furniture Wax» nachzuholen. Wunderbare Idee! Auf ins Val Fex!

Nach einer Probe des Quartetts am Mittag machten wir uns auf den Weg. Es goss in Strömen. Von Wandern keine Rede, Autos durften im Fextal nur mit Bewilligung fahren. Also eine Kutsche! André führte uns mit sicherer Hand bergaufwärts, durch Regen, Sturm, Donner und Blitz. Wir sassen eingehüllt in warme Wolldecken und versuchten, etwas von der herrlichen Landschaft zu erhaschen. Die Blicke der talwärts vor dem Regen fliehenden Wanderer bleiben unvergesslich. Was wollen denn diese beiden Weiber bei solchem Wetter im Fextal?

Wir erreichten die Kapelle in Fex Crasta – es stürmte unentwegt weiter. Zu unserem grossen Glück war gerade eine Hochzeit über die Bühne gegangen und wir trafen einen überaus menschenfreundlichen Pfarrer und seinen Adlaten Gian Clalüna. So erhielten wir eine fachmännische Führung durch die um 1500 entstandene, der Heiligen Margaritha gewidmeten Kapelle mit den phänomenalen Wandmalereien.

Gian schien zu merken, dass wir nicht hysterische Abbado-Anhängerinnen waren, sondern wirklich eine Aufgabe zu erledigen hatten. Aber wo war die Bank? Die Beschreibung von Frau Ossovsky war eher verwirrend. Kein Wunder: Man hatte das historische Stück offensichtlich umplaziert. Gian war «en connaissance de causes» und lächelte verschmitzt: «Da werdet ihr nie hinkommen bei diesem Wetter und in Turnschuhen!»

Was tun? Sophia hatte abends einen Auftritt, die Zeit lief und das Wetter war absolut hässlich. Kurzentschlossen packte uns Gian in sein Auto, liess den Pferdeanhänger unterwegs stehen und fuhr über Stock und Stein unserem Ziel entgegen. Nach einem kurzen Fussmarsch erreichten wir die Bank und – oh Freude! – der Himmel klärte sich auf und es nieselte nur noch ganz sacht. Mit Hilfe von Gian wurden die Tafeln gereinigt, poliert und und die Schrift fixiert.

«Wollt ihr wirklich zu Fuss nach Hause gehen?», fragte Gian. Ziemlich erschöpft antwortete ich scheu und leise: «Fast lieber nicht.» Und so landeten wir dank Gian pudelnass und überglücklich wieder im Waldhaus. Wir haben einen wunderbaren Freund gefunden.

FRANZISKA HALDI


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