«Ich habe Fakten gesucht und Menschen gefunden …»

  20.11.2020 Saanenland, Soziales

Heute vor 100 Jahren wurde der Verein Pro Senectute Saanenland gegründet. Die Vereinsgeschichte ermöglicht tiefe Einblicke in die Lebensumstände der hiesigen Gesellschaft.

SONJA WOLF
«Da sass ich dann, mit hundertjährigen Protokollen, handgeschrieben», berichtet Karin Zingre im Gespräch mit dieser Zeitung. «Vieles konnte ich zuerst gar nicht entziffern, und ständig schlägt mir dieser feine hundertjährige Staub entgegen, der mich in der Nase kitzelt.» Karin Zingre fühlt sich sofort zurückversetzt in die dreimonatige Schaffensphase der Chronik, die sie zum 100-Jahr-Jubiläum des lokalen Vereins Pro Senectute Saanenland verfasst hat. «Ich habe Fakten gesucht und Menschen gefunden», beschreibt sie ihre Erfahrung mit leuchtenden Augen. Das Vorstandsmitglied des Vereins war als ehemalige Rechtsanwältin juristisch-pragmatisch an die Sache herangegangen und wurde letztlich tief berührt.

Denn die Situation der älteren Menschen zur Gründungszeit des Vereins im Jahr 1920 war mehr als prekär. Die spanische Grippe wütete, das Saanenland litt zusätzlich unter Viehseuchen, viele Betriebe und Privathaushalte waren wirtschaftlich am Ende. Es gab natürlich Senioren, die das Glück hatten, in eine Familie eingebunden zu sein, welche sich um sie kümmern konnte. Aber was passierte mit den anderen, welche eine solche Unterstützung nicht hatten, mittellos waren und nicht mehr fähig, zu 100 Prozent für ihren Lebensunterhalt zu sorgen? Renten und Altersheime gab es noch keine.

Zusammen mit Vorbestraften und Säufern
Da kam von Bern die rettende Idee, älteren Menschen zu helfen, die sonst bei teilweiser Pflegebedürftigkeit in gemeindeeigenen Armenanstalten gelandet wären. Anlässlich eines Referates im Landhaus Saanen im Jahr 1920 fand ein Vertreter des Vereins für das Alter im Kanton Bern, seines Zeichens Pfarrer, deutliche Worte: «Es ist eine bittere Sache, wenn ein alter Mann, der zeitlebens fleissig gearbeitet hat, ein altes Mütterchen, das sich redlich durchgeschlagen, nun die alten Tage in einer Armenanstalt zubringen soll, wo Vorbestrafte, Säufer, Bösartige, unappetitliche Idioten und Geistesgestörte untergebracht sind ...»

Geburtsstunde der Seniorenhilfe
So entstanden ab 1920 in allen Amtsbezirken des Oberlandes Vereine zur Unterstützung hilfsbedürftiger Senioren und Seniorinnen – der Verein ist einer der ältesten im Saaneland. Er wurde am 20. November 1920 unter dem damaligen Namen «Verein für das Alter des Amtes Saanen» gegründet. Seine beiden Hauptaufgaben waren, die Idee von gesicherten Altersheimplätzen umzusetzen und ältere Menschen finanziell zu unterstützen. All die neu gegründeten lokalen Hilfsvereine sammelten Geld, auch der Bund überwies ihnen einen kleinen Betrag zur Ausschüttung an die Senioren/innen. Diese Gelder konnten die Vereine dann in Form von kleinen regelmässigen Renten auszahlen. 1935 schliesslich baute der Verein das Altersheim Pfyffenegg und übernahm die Trägerschaft.

Nach der Einführung der AHV im Jahr 1948 brauchte sich der «Verein für das Alter des Amtes Saanen» nicht mehr um die Rentenzahlungen zu kümmern. Die Führung des Altersheims hingegen blieb viele Jahre noch bestehen, genauer bis zum 11. Dezember 2007. An jenem Tag fand die Gründungsversammlung des Vereins Altersund Pflegeheim Pfyffenegg statt und Pro Senectute Saanenland übergab das Altersheim dem neuen Trägerverein mit Sitz in Saanen.

Minutiöse Detektivarbeit
Um das Bemühen des Saaner Vereins, den älteren Menschen eine gute Lebensgrundlage zu bieten, nachzeichnen zu können, brauchte Chronistin Karin Zingre Material – möglichst lückenlos von 1920 bis heute. Und das gab es natürlich nicht als fixfertiges Archiv. Die Mitglieder des Vereins mussten in minutiöser Detektivarbeit die Protokolle der Hauptversammlungen und der Vorstandssitzungen ausfindig machen und zusammentragen sowie alte Fotos aufstöbern. Mit Erfolg: Sie stiessen auf Texte und mit spontaner Hilfe einer aussenstehenden Person sogar auf Bilder von Jakob Zingre, dem Präsidenten des Vereins, unter dem das Altersheim Pfyffenegg gebaut wurde. Oder fanden Bilder von Magdalena Fuhrer, der ersten Hausmutter des Altersheims, einer starken Frau und – seinerzeit recht revolutionär – geschieden.

«Besonders die früheren Sitzungsprotokolle 1920 bis 1960 haben das wahre Leben widergespiegelt», berichtet Karin Zingre. «Es ging um ganz konkrete Fragen wie: Soll man Schweine anschaffen fürs Altersheim? Darf die Hausmutter Beeren sammeln oder übersteigt das ihre Kräfte? Wie viele Tage dürfen die Heimbewohner ausserhalb des Heims arbeiten, um Kost und Logis bezahlen zu können?» Die Chronik geht also über eine reine Faktenansammlung weit hinaus und lässt tief in die Lebensumstände der einheimischen Senioren/innen während lebhafter 100 Jahre Vereinsgeschichte blicken.

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben
Heute nun, am 20. November 2020, wird der «Verein für das Alter des Amtes Saanen», der seit 2001 Pro Senectute Saanenland heisst, 100 Jahre alt. Eigentlich hätte eine Jubiläumsfeier stattfinden sollen, die aber aufgrund der angespannten Corona-Situation um genau ein Jahr verschoben wird. Dann wird der Verein das 100-Jahr-Jubiläum aufgrund einer Reorganisation bei Pro Senectute unter dem neuen Namen «Förderverein Pro Senectute Saanenland» begehen.

« Together 2021»
Im Rahmen dieser Reorganisation namens «Together 2021» werden alle vier Regionalorganisationen (Berner Oberland, Region Bern, Emmental-Oberaargau, Biel/Bienne-Seeland) im Kanton Bern zu einer Gesamtorganisation fusioniert. Das bedeutet also die Auflösung des Vereins Pro Senectute Berner Oberland. Die sieben Lokalvereine des Oberlandes haben sich zu entscheiden, in welcher Form sie per 1. Januar 2021 weiter existieren wollen. Pro Senectute Saanenland wird mit geänderten Statuten weiterhin Pro Senectute verpflichtet bleiben und als Förderverein autonom weiterbestehen. Eine Zusammenarbeitsvereinbarung zwischen Lokalvereinen und der Stiftung Kanton Bern wird erstellt und die Geschäftsstelle Berner Oberland in Thun wird zentral durch die Stiftung Pro Senectute Kanton Bern geführt. Die finanziellen Mittel bleiben beim lokalen Förderverein in Saanen. Die bisherigen Angebote von Pro Senectute bleiben vollumfänglich erhalten und können sogar ergänzt oder verbessert werden.

Körperliche und geistige Fitness
«Vom bisherigen Gesamtangebot wird die soziale Beratung am meisten in Anspruch genommen.» erklärt Urs Bach, Präsident des Organisationskomitees der Jubiläumsfeier und Kassier des Vereins. Die Beratung findet in Thun, in Gstaad im Kirchgemeindehaus oder auch daheim statt. Ältere Menschen und deren Angehörige können sich beispielsweise bezüglich Wohnformen im Alter oder Finanzierung der Pflege informieren. Regen Anklang finden laut Bach auch die FitGym-Kurse, die von einheimischen ausgebildeten Sportgruppenleiterinnen geleitet werden. Das Angebot geht aber noch weiter: In der Computeria können sich Senioren/ innen von Mentoren in Eins-zu-eins-Betreuung bei individuellen Problemen mit Notebook, Smartphone und Co. helfen lassen. Beliebt sind auch die Vorträge, die Pro Senectute mit «Zwäg ins Alter» und anderen Organisationen zusammen im Kirchgemeindehaus zu Themen wie Demenz oder Mobilität im Alter veranstaltet.

«Natürlich müssen wir zurzeit coronabedingt mit einem Grossteil des Angebotes aussetzen, grundsätzlich aber bleibt das Programm bestehen und kann noch ausgebaut werden», versichert Urs Bach mit einem Blick in die Zukunft der Pro Senectute.

www.be.prosenectute.ch
Die 100-Jahre-Festchronik wird den Mitgliedern 2021 zugeschickt und anschliessend auch käuflich erwerbbar sein.


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