Eine unvergessliche Begegnung an Heiligabend

  22.12.2020 Region

Der in Interlaken wohnhafte Rolf Burgermeister erinnert sich an eine Begegnung mit dem Saaner Scherenschneider Christian Schwizgebel zur Weihnachtszeit.

Meine Frau wollte mir zu Weihnachten einen «Schwizgebel» schenken. Wohlwissend, dass Christian sich nicht drängeln lässt, bestellte sie den Scherenschnitt bereits im Spätherbst. Er werde uns benachrichtigen, versprach er. Die Tage wurden kürzer und kürzer, Bericht aus dem Trom blieb aus. Mitte Dezember eine schüchterne Anfrage. Er habe zwar noch nicht angefangen, aber wir sollten kurz vor Weihnachten vorbeikommen. Das war nicht ganz einfach, wir hatten unsere Reise ins Saanenland erst für Heiligabend vorgesehen. Das störte Christian nicht im Geringsten, er erwarte uns am 24. Dezember.

Unsere Abreise verzögerte sich, es wurde später und später. Wir riefen ihn an und wollten den Besuch verschieben. Aus seiner Stimme klang Enttäuschung. Er gehe immer spät zu Bett, wir könnten auch noch um neun Uhr kommen.

Es wurde eine unvergessliche Begegnung. Er war mutterseelenalleine in seiner kleinen Wohnung und begann aus seinem Leben zu erzählen. Spannend schilderte er drei Verletzungen des Copyrights, ohne diesen Ausdruck zu verwenden.

Die Firma Loeb dekorierte ihre Schaufenster mit riesigen Vergrösserungen seiner Scherenschnitte. Er hörte davon und rief die Firma an, er wolle mit dem Chef sprechen. Herr Loeb sei beschäftigt, er werde zurückrufen. Tatsächlich: Kaum eine Stunde später rief Herr Loeb an. Christian schilderte sein Anliegen. Herr Loeb fiel aus allen Wolken. Er wusste nichts davon und versprach, sofort seiner (bescheidenen) Forderung nachzukommen.

Ähnlich verhielt sich die Swissair. Zur Einweihung eines neuen Restaurants im Flughafen Kloten verwendeten sie eines von Schwizgebels Motiven auf den Tischsets. Kein Problem, die Swissair entschuldigte sich – und bezahlte.

Ganz anders eine ausländische Firma. Auf der Karte, mit welcher sie den Kunden ihren Umzug bekannt gab, sah man einen von Schwizgebels unvergleichlichen Alpaufzügen – allerdings etwas abgeändert. Die Kühe trugen Umzugszeugs wie Schreibmaschinen, Pulte, Bürostühle. Ein Mitarbeiter der Firma nahm Schwizgebels Beschwerde zur Kenntnis und versprach, jemand werde bei ihm vorbeischauen, um die Sache in Ordnung zu bringen. Ein paar Wochen später hielt eine Luxuskarosse (seine Bezeichnung) vor seinem Haus. Ein Mann stieg aus, und mit herablassender Mine entnahm er seinem dicken Portefeuille eine Fünfzigernote. Das werde wohl genügen, meinte der Fremde und fuhr davon. Es genügte nicht, auf Anraten eines Bekannten klagte Christian vor Gericht. Es kam zum Prozess. Die Angeklagten konnten argumentieren, wie sie wollten, der Richter gab Schwizgebel recht. Die 50 Franken wurden um ein Mehrfaches erhöht. Am Schluss der Verhandlung sagte der gestrenge Richter, er möchte gerne wissen, wie es einem Zimmermann mit seinen klobigen Fingern gelinge, so etwas Filigranes herzustellen. Christian meinte, man solle ihm ein Blatt Papier geben, er habe immer ein «Scherli» dabei. Der Richter bot ihm seinen Stuhl an und alle Anwesenden scharten sich um den Saaner. In kürzester Zeit überreichte er dem staunenden Richter ein papierenes «Rehli». Der Richter meinte, so eine Beweisführung habe er in seiner ganzen Karriere noch nie gesehen.

Es war nach Mitternacht, als wir Schwizgebels Haus verliessen.

ROLF BURGERMEISTER, INTERLAKEN


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