Zum neuen Jahr: Möge Gott gnädig sein

  31.12.2020 Kirche

PETER KLOPFENSTEIN
Nachdem sie über Jahrhunderte gebraucht, aber eben auch missbraucht wurden, sind die meisten religiösen Wörter so abgenutzt, dass sie niemanden mehr richtig ansprechen und sich kaum mehr jemand ernsthaft für sie interessiert. Das gilt nach meiner Erfahrung aber nicht für das Wort «Gnade». Merkwürdigerweise haben Worte aus dem lateinischen Stamm «gratia» sogar einen gewissen Glanz bewahrt, wie man an «grazil,» «graziös» oder «gratis» leicht ablesen kann.

Gnade ist ein Geschenk
Das Besondere am Ganzen ist: Gnade kann man sich nicht selber erwerben. Sie wird einem geschenkt oder eben nicht. Man kann Gnade ebenso wenig produzieren oder sich verdienen, wie man auch den Geschmack von Erdbeeren oder freundliche Blicke des Gegenübers sich nicht verdienen oder gar seine eigene Geburt bewerkstelligen könnte.

Gesunder Schlaf ist eine Gnade, ein Geschenk, wie auch gute Träume. Auch die meisten Tränen sind Gnade, ebenso wie der Geruch von Regen. Wirst du von jemandem geliebt, ist auch das Gnade, ebenso, wie wenn du liebst. Oder hast du schon einmal versucht, jemanden intensiv zu lieben?

Im Zentrum des reformierten Glaubens
Der reformierte christliche Glaube ist im Kern gekennzeichnet durch den ausserordentlich steilen Satz, dass wir Menschen «allein durch Gnade» gerettet werden. Da musst du nichts tun, nichts musst du tun, und tun musst du auch nichts.

Die Gnade, die Gott schenkt, kann so gesehen etwa bedeuten: Hier ist das Leben, das ich dir gegeben habe. Ja, es hätte dich auch nicht geben können. Aber du bist geboren, weil das Fest des Lebens ohne dich unvollständig wäre. Hier also ist die Welt, in der du dich bewegen kannst. Schöne, aber auch schreckliche Dinge werden in deinem Leben geschehen. Aber: Fürchte dich nicht. Ich bin bei dir. Nichts und niemand kann uns trennen. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du gehörst zu mir. Für dich habe ich das Universum geschaffen. Ich liebe dich ohne Ende.

Was zu tun bleibt
Nun ja, es gibt da einen Haken. Wie jedes andere Geschenk auch, so kann auch das göttliche Geschenk der Gnade nur dann dein eigenes werden, wenn du deine Hand danach ausstreckst und es annimmst – aber auch da gilt: Die Fähigkeit, die Hand auszustrecken und danach zu greifen, ist ebenfalls ein Geschenk.

Eine biblische Begriffsklärung
«chesed» (hebräisch) = Freundlichkeit, Güte, Zuwendung, Gnade
«chen» (hebräisch) = Anmut, Wohlwollen, Wohltaten
«chanun» (hebräisch) = freundlich, gütig, gnädig
«charis» (griechisch) = Anmut, Dank, Zuwendung

Eine freiwillige Gabe
Diese Worte und Wortfelder bezeichnen die einander erwiesene freundliche, gütige, herzliche Zuwendung. Chesed ist zunächst die familiäre und nachbarschaftliche Hilfe. Diese Zuwendung, die Familie, Nachbarschaft und das soziale Leben aufrecht erhält, gehört zum Recht und überschreitet es zugleich als freiwillig gewährte freundliche Gabe.

Ein Beispiel: Rut und ihre Schwägerin Orpa haben ihren verstorbenen Männern und ihrer Schwiegermutter Noomi chesed erwiesen, und so wünscht ihnen Noomi, Gott möge ihnen ebenso chesed erweisen (Die Bibel, Rut 1,8). Und so findet Rut dann auch chen in den Augen des Boas (Rut 2,10).

Josef, um ein anderes Beispiel zu nennen, findet chen, Anerkennung, in den Augen Potifars und des Gefängnischefs (Genesis/1. Mose 19,19). Das Wort «Gnade» betont dabei bei der deutschen Übersetzung das Nichtherstellbare, das jeden Verdienst Überschreitende.

Der treue Gott
Auch da, wo von Gottes chesed-Erweisen die Rede ist oder Gott chanun genannt wird, geht es um eine Beziehung. So etwa in der Gottesrede «Ein mitfühlender, gnädiger (chanun) Gott bin ich, langmütig, treu und wahrhaftig» (Exodus/2. Mose 34,7; vgl. Psalm 78,38 oder Exodus 20, 5–6). Gottes chesed und chen stehen für die liebevolle, umsichtige und nachsichtige Treue zum Menschen und zum Volk Israel. Diese Freundlichkeit Gottes ist von Dauer (so der immer wiederkehrende Leitsatz in Psalm 136).

Das griechische Wort charis, von dem «Charme» abgeleitet ist, nimmt im Neuen Testament das Wortfeld chesed und chen auf. Es steht für Anmut (Kolosser 3,16), für die Zuwendung Gottes (Römer 3,21; 5,2; 6,23), die sich bei denen, welchen sie zuteil wird, in der Gabe verwirklichen kann, im Namen Jesu zu wirken (Römer 1,5). Es bezeichnet auch den Dank (Römer 6,17) als Reaktion auf Gottes Zuwendung.

Paulus bringt es auf den Punkt
Besonders deutlich wird das Beziehungsgeflecht, das sich im Wort charis ausdrückt, im 2. Korintherbrief. Hier verbindet der Begriff alle Beziehungsebenen: Die gegenseitigen zwischen Gott und Menschen und die der Menschen untereinander, was das deutsche Wort «Zuwendung» besser ausdrücken kann als das übliche «Gnade». Der Zuwendung Gottes (2. Korinther 1,2) und Jesu (8,9) entspricht die des Paulus zur Gemeinde (1,15). Daraus folgt die materielle Zuwendung als Hilfe für die armen Gemeinden in Jerusalem (8,4.6–7; 9,8). Alles mündet in die Zuwendung zu Gott im Dank aller Beteiligten (8, 16; 9,15).


GEMEINSAMER LEHRGANG ZUR STERBEBEGLEITUNG

Dass die Begleitung Sterbender auch in unserem Bezirk ein wichtiges Thema ist, hat die jüngste Vergangenheit mehr als deutlich gezeigt: Im Saanenland wurde zu einer ökumenischen Vortragsreihe eingeladen, in St. Stephan sind Gemeindeglieder für die Letzte Hilfe sensibilisiert worden, in anderen Gemeinden haben Gesprächsrunden über Sterben und Tod stattgefunden, wie etwa vor dem Lockdown der Corona-Krise in Zweisimmen.

Palliative Care in der Region
Darüber hinaus sind die Pflegeheime in der Region, das Spital Zweisimmen, die Spitex und die lokale Ärzteschaft dabei, die Begleitung Sterbender mit hoher Qualität aller Beteiligten auszubauen und sicherzustellen. Palliative Care ist das Stichwort.

Es gilt, den Sterbenden, aber auch ihren Angehörigen, einen «Mantel» um die Schulter zu legen (lateinisch «pallium» = Mantel). «Care», der zweite Begriff, bedeutet mehr als Pflege. «I care for you» heisst «Ich sorge mich um dich» und «Du bist mir wichtig». So umfasst Palliative Care die Betreuung und die Behandlung, vor allem aber die Begleitung von Menschen mit unheilbaren, lebensbedrohlichen und/oder chronischen Krankheiten.

Ohne Freiwillige geht nichts
Gewiss, das ist Sache von Fachleuten, besonders in unserer sich ständig weiter spezialisierenden Welt. Aber den speziell ausgebildeten Ärzten, Pflegenden, Sozialarbeitern und Seelsorgenden müssen auch «normale» Menschen an die Seite gestellt werden. Darum werden Freiwillige gesucht, Menschen also, die bereit sind, andere, manchmal auch deren Angehörige, in der letzten Lebensphase und darüber hinaus zu begleiten. Um im Bild der Palliative Care zu bleiben: Menschen, die den «Mantel» hinhalten wollen, weil die oder der andere ihnen wichtig ist und für sie sorgen wollen.

Kurs des Roten Kreuzes
Wer dazu bereit ist, braucht Vorbereitung und später auch Begleitung. Dafür konnten wir das Schweizerische Rote Kreuz gewinnen. Das SRK ist sogar bereit, einen solchen Kurs für Freiwillige bei der Sterbebegleitung hier im Bezirk anzubieten. Am 16. Februar 2021 geht es los, der letzte Kurstag ist für den 27. April vorgesehen. Die einzelnen Kurse werden im Gemeindezentrum der katholischen Kirchgemeinde in Zweisimmen, Lenkstrasse 11, gehalten.

Sind Sie dabei?
Ein solcher Kurs ist natürlich nicht umsonst zu haben. Neben Offenheit und Zeit, neben der Bereitschaft, sich in diesem Feld zu engagieren, kostet er Fr. 1280.–. Der Preis reduziert sich aber auf gerade noch Fr. 250.– (!) für Personen mit Wohnsitz im Saanenland und im Obersimmental, dank der finanziellen Unterstützung von lokalen und regionalen Netzwerkpartnern. Auch der Kirchliche Bezirk Obersimmental-Saanenland unterstützt diesen Kurs mit einen namhaften Beitrag finanziell und ideell und begrüsst es, wenn Sie daran teilnehmen möchten.

Weitere Informationen: [email protected]
Telefon 033 225 00 85 von 8 bis 11.30 Uhr. www.srk-bern.ch/oberland

Inofabend
Mittwoch, 13. Januar, 20 Uhr, Zweisimmen. Anmeldung: römisch-katholisches Pfarramt, Tel. 033 744 11 41

 


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