Ist die reformierte Rechtfertigungslehre ein Phantom?

  01.04.2021 Kirche

Aus den grossen Themen von Karfreitag, Ostern und Pfingsten entstand in der reformierten Theologie die sogenannte Rechtfertigungslehre. Für Paulus wie auch für die Reformatoren steht und fällt die Kirche mit der Botschaft von der Recht schaffenden Gerechtigkeit Gottes in Christus. Die Botschaft, die einst einen Sturm entfacht hat, ist in der kirchlichen Praxis auf den ersten Blick zu einem Phantom geworden, zur platten Sündenvergebung. Der Grund für diese Fehlentwicklung ist vermutlich, dass die Rechtfertigungslehre in der kirchlichen Praxis zu sehr eine Reaktion auf das katholische Busssakrament ist. Im Beichtstuhl ging und geht es um Sündenbekenntnis, um Reue sowie um das erlösende Vergebungswort. Das Busssakrament ist eine westkirchliche und mittelalterliche Tradition. Es ist nicht nur Paulus fremd, es ist zum Beispiel auch den orthodoxen Kirchen fremd. Im Busssakrament wird die Macht des Bösen auf menschliche Schuld reduziert. Das Busssakrament gibt keine Antwort auf den ungerechten Zufall, der den einen im jugendlichen Alter sterben, die anderen lebensmüde schier endlos weiterleben lässt. Es gibt keine Antwort auf das Böse, das Menschen zu Opfern durch ungerechte Verhältnisse von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen werden lässt. Das Busssakrament ist einseitig. Es kennt keine aktive Heilung, kein aktives Handeln bzw. Recht schaffendes Handeln Gottes. Das Busssakrament ist täterorientiert und opfervergessen wie einst das römische Recht. Das Busssakrament ist auf Karfreitag fokussiert. Das Kreuz wird in der sogenannten Satisfaktionslehre, die auf Anselm von Canterbury (1033–1109 n. Chr.) zurückgeht, auf eine Wiedergutmachung reduziert: «Christus das Sühnopfer, das hinwegnimmt die Sünden der Welt.» Im Busssakrament geht es in erster Linie um den Täter. Der Täter sucht nach einer Entschuldigung und nach Vergebung der Schuld, um wieder frei leben und atmen zu können, dann wenn es ihm bewusst wird, dass er zu einem willigen Handlanger des Bösen geworden ist, zu einem Sklaven der Gewaltherrschaft, der ohne eigene Identität die ihm aufgetragene schmutzige Arbeit ausführte, dadurch seine Menschlichkeit verloren hat, somit nicht mehr Trauern und Lieben kann und zur wandelnden Leiche geworden ist.

Während das Busssakrament den Täter im Blick hat, geht es Paulus in erster Linie um das Opfer. Wer zum Opfer von Lüge, Ungerechtigkeit und Gewalt wurde, klagt Gott an. Diese Anklage stellt die Frage, ob es den Recht und Wahrheit schaffenden Gott überhaupt gibt. Es ist die Anklage der Menschen, die ihren Lebensweg durch ein Tal der Tränen, der vergeblichen Anstrengungen, der enttäuschten Hoffnungen gehen müssen – dem launischen Zufall, der schieren Willkür ausgeliefert. Es ist der Schrei all der Menschen, die noch immer wie Lazarus hilflos und schwärenbedeckt vor der Tür der üppig tafelnden Reichen liegen, die ihnen noch nicht einmal die von ihrem Tisch herunterfallenden Brotbrocken gönnen.

Die Deutung, dass Jesus als Sühnopfer für unsere Sünden starb, damit sozusagen eine himmlische Bank erschuf, die für unsere Schulden bezahlt, wie bei einem Schuldtransfer von uns zu ihm, das sind mehr oder weniger missglückte Bilder, die den Kern der Sache nicht treffen. Gerechtigkeit als eine ethische Qualität lässt sich nicht übertragen. Dass Gott durch das Opfer versöhnt wurde, ist in den Aussagen von Paulus kaum verankert. Sein Ruf lautet vielmehr: «Lasst euch mit Gott versöhnen. Lasst euch mit Gott zusammenbringen!» Der Mensch muss versöhnt werden, nicht Gott. Jesus ist nicht für unsere Sünden geopfert worden, sondern er ist von seinem Vater in die Abgründe der von Not geplagten Menschen gesendet worden, um selber in diesen Abgründen gegenwärtig zu sein und uns zu einem neuen Leben zu erwecken. Gott überlässt den Menschen nicht seiner selbst verschuldeten Misere. Er holt ihn in seine Nähe zurück. Wie er schon zu Moses im Dornbusch gesagt hat: «Ich habe die Schreie gehört und … bin herabgestiegen, um sie zu erretten. Ich habe das Elende meines Volkes in Ägypten gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger habe ich gehört, ich habe ihre Leiden erkannt und bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand.» (Exodus 3,7)

Auf der einen Seite ist der Täter, auf der anderen Seite ist das Opfer und beide sind untrennbar miteinander verbunden. Wird das Opfer nicht von seinem Leiden befreit, gibt es auch keine Befreiung des Täters vom Bösen. Nur das Recht schaffende Handeln Gottes wird dem Opfer Recht schaffen und den Täter aus seiner Verstrickung in das Böse befreien. Nicht der ist gerecht, dem die Schuld vergeben ist, sondern der, der zu einem neuen Leben erwacht ist. Es geht in der Vergebung der Schuld nicht um die Schuld an sich, sondern um das neue Leben, zu dem Gott uns ruft. Aus der Negation des Negativen ergibt sich nicht von selbst das Positive, die Vergebung ist die Voraussetzung für den neuen Anfang. Wohl aus diesem Grund spricht Paulus fast nie von Vergebung der Schuld. Paulus spricht von der Befreiung aus der Schuld. «Erlöse uns von dem Bösen.» Wenn wir von Vergebung sprechen, geht es nicht um eine Augenblickserfahrung, sondern um einen zukunftsorientierten, dynamischen Prozess. Die Vergebung ist nicht das Ziel. Der Glaubende ist jemand, der von Gott auf ein Ziel hin in Bewegung gesetzt worden ist. So wie Abraham sich in Bewegung hat setzten lassen, obwohl für ihn Gottes Verheissung seine einzige Bürgschaft war. Vergebung ohne Aufbruch in ein neues Leben ist wie jemand, der im Gefängnis sitzt, begnadigt wird und trotzdem im Gefängnis sitzen bleibt, weil er sich an sein Gefängnis gewöhnt hat, weil es sich dort noch ganz gut leben lässt. Und genau das scheint unser heutiges Problem zu sein. Auch an das Kreuz, das uns die ewig ärgerliche und lästige Frage nach unseren Wunden stellt, die wir uns im Kampf gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung zugezogen haben, haben wir uns gewöhnt. Da stellt sich die Frage, ob die Recht schaffende Gerechtigkeit Gottes nicht doch zum Phantom geworden ist? Nein, denn dieses Recht schaffende Handeln Gottes ist keine Möglichkeit, die man ablehnen oder bejahen kann. Und wenn uns jemand fragt, wer das alles denn wahr werden lässt, sagen wir, dass das Osterbekenntnis die Antwort gegeben hat. Gott selber macht diese Geschichte wahr. Gott selber hat sich dafür verantwortlich erklärt, dass die Menschen auf dem Felde, die Reichen und die Armen in unseren heutigen Städten die gute Botschaft sehen und hören werden. Aus diesem Grund ist die Rechtfertigungslehre kein Phantom. Nicht wir führen die Geschichte Gottes weiter, nicht wir lassen sie wahr werden. Wir sind in dieses Geschehen nur eingegliedert, wir werden mitgenommen. Nicht wir schreiben Kirchengeschichte. Nicht wir sind die Lokomotivführer. Die Reformierte Kirche Schweiz ist nur ein Waggon von vielen, der vor einigen Hundert Jahren am Zug angehängt worden ist. Und wenn sich dieser Waggon leeren sollte: Auch leere Waggons werden mitgezogen. Doch wäre es nicht viel spannender, wenn wir als lebendige Mitfahrende die Reise in die Zukunft mitgestalten würden?

KORNELIA FRITZ


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