«Diese hohen Ansprüche können im Privatleben manchmal stören»
26.05.2021 InterviewDer gebürtige Saaner Patrick Jungi holte sein berufliches Rüstzeug im Gstaad Palace. Bereits mit 31 Jahren ist er Co-CEO im bekannten Gastronomieunternehmen Hiltl in Zürich. Im Interview erzählt er, weshalb das Gstaad Palace ein Türöffner ist.
BLANCA BURRI
Patrick Jungi, Sie wuchsen im Saanenland mit zartem Simmentaler Fleisch auf. Mochten Sie es und mögen Sie es heute noch?
Ja, ich mochte Simmentaler Fleisch und auch andere Fleisch- und Fischspezialitäten und denke, ich würde einige davon heute immer noch mögen. Ich würde sie aber heute nicht mehr essen.
Mit der oben genannten Frage möchten wir natürlich testen, ob Sie als Chef einer vegetarischen Gastronomieunternehmung selbst Vegetarier sind …
Ja, das bin ich. Seit über zehn Jahren mittlerweile. Das ist jedoch kein Einstellungskriterium bei Hiltl. Unsere Mitarbeitenden ernähren sich so vielfältig wie unsere Gäste. Ich selbst versuche, mich sogar, wenn immer möglich, vegan zu ernähren, mache jedoch zwischendurch Ausnahmen für Käse. Natürlich oft im Saanenland, jedoch auch bei Freunden oder an speziellen Anlässen.
Was hat Sie dazu gebracht, Vegetarier zu werden?
Ich bin nach meiner kaufmännischen Lehre im Gstaad Palace nach Venedig gereist, um während drei Monaten Italienisch zu lernen. Dort hatte ich neben der Schule viel Zeit, die Stadt zu erkunden und musste aufgrund meines beschränkten Budgets oft in Take-aways essen. Irgendwann einmal habe ich mich gefragt, weshalb ein Döner oder eine Pizza mit Salami dort unter fünf Euro erhältlich ist. Bedenkt man, dass neben dem vermeintlich teuren Fleisch noch andere Zutaten sowie Betriebs- und Personalkosten dazukommen, ist das viel zu günstig.
Was kam bei den Recherchen heraus?
Ich bin auf Jonathan Safran Foers neues Buch «Tiere essen» gestossen. Die Bewertungen klangen gut. Als ich das Buch bestellt hatte, dachte ich: «Hoffentlich werde ich wegen dem Buch nicht Vegetarier.» (Lacht.)
Weshalb?
In dem Buch geht es vor allem um die Zustände in der Massentierhaltung in Amerika und teilweise in Europa sowie deren Auswirkungen auf die Natur und den Preis. Ich habe mir vorgenommen, in Venedig kein Fleisch und Fisch mehr zu essen. Zurück im Saanenland beabsichtigte ich, wiederum Fleisch zu essen, weil ich wusste, dass die Zustände im Saanenland viel besser sind. Trotzdem fand ich es schliesslich unnötig, dass Tiere sterben müssen, damit ich Fleisch zu Fleisch komme. Daher verzichte ich seither konsequent auf Fleisch und Fisch.
Wie sind Sie zum Gastgewerbe gekommen?
Ich wusste schon sehr früh, dass ich in den Dienstleistungsbereich wollte. Das Palace als Wahrzeichen von Gstaad und als eines der besten Luxushotels der Welt faszinierte mich schon als Kind. Als klar war, dass ich eine kaufmännische Lehre machen und dabei richtig gefordert werden wollte, habe ich mich im Palace beworben.
Sie sind im Gastgewerbe geblieben …
Genau. Da ich nach meiner Rückkehr aus Venedig ins Palace schnell zum Shift-Leader befördert und dort immer öfter mit betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen konfrontiert wurde, habe ich mich für die Hotelfachschule Luzern entschieden. Ich habe nach meinem Küchenpraktikum in der Villa Honegg, das ich für die Hotelfachschule absolvierte, jedoch bewusst nicht mehr nach Fünfsternebetrieben gesucht. Ich wollte die «normale», etwas unkompliziertere und zugänglichere Gastronomie kennenlernen. Gäste zu begeistern, fand ich schon immer super und als ich mich für ein Kaderpraktikum im Hiltl beworben und die Stelle als stellvertretender Geschäftsführer des Hiltl am Strand in einer der grössten Badis von Zürich erhalten habe, ging für mich ein Traum in Erfüllung.
Wie hat Sie die Lehre im Palace in Gstaad geprägt?
Die Lehre und anschliessende Anstellung an der Rezeption waren der beste Einstieg in die Berufswelt, den ich mir hätte wünschen können und eine unglaublich gute Lebensschule. Meine Zeit im Palace hat mir vor allem Gästeorientiertheit, Exzellenz, Diskretion, Liebe zum Detail sowie eine sehr hohe und dienende Servicequalität gelehrt. Es gab damals keine Werte, die ich nicht gemocht habe. Heute wollte ich aber nicht mehr jeden Tag im Anzug zur Arbeit gehen oder mich auch nicht mehr täglich rasieren müssen. Ausserdem sind meine Haare nicht mehr so akkurat geschnitten wie damals …
Ist die Lehre in einem Fünfsternehaus ein Türöffner für die weitere Karriere?
Ja, das glaube ich. Die dort vermittelten und fast perfektionistischen Werte und die guten Fremdsprachenkenntnisse tragen wesentlich dazu bei. Wenn man auf ein so hohes Niveau getrimmt ist, hat man fast überall höhere Ansprüche an sich selbst als andere und leistet oft die berühmte Extrameile, was den Vorgesetzten und Gästen auffällt. Diese hohen Ansprüche an die Hotellerie, Gastronomie und sich selbst können im Privatleben manchmal stören. Weil ich bemerke, wenn eine Dienstleistung oder ein Produkt besser sein könnte, bin ich beim Konsum manchmal schneller nicht ganz zufrieden – oder sogar etwas enttäuscht.
Was ist in der Zwinglistadt aus gastronomischer Sicht anders als im Saanenland?
Sehr viel. Erstens gibt es Restaurants mit ausschliesslich veganem oder vegetarischem Angebot. Ausserdem findet man eine fast grenzenlose Auswahl an verschiedenen Konzepten in jeder Preisklasse. Pop-up-Restaurants und Konzepte für eine schnelle, aber trotzdem hochwertige und gesunde Verpflegung, wie wir es im Hiltl Sihlpost anbieten, sind ein grosses Thema. Der Anspruch an die Kulinarik ist in einer Stadt aber komplett anders als in einer Bergregion. In einer Bergregion erwartet man Hobelkäse, Fondue, Fleisch und traditionelle Gerichte. Aus diesem Grund ist die Auswahl an verschiedenen Konzepten viel kleiner. In der Stadt ist der Anspruch an Vielfältigkeit schon nur aufgrund des Einzugsgebietes und der verschiedenen Herkünfte und Bedürfnisse der Bewohner anders. In Zürich gibt es zahlreiche alternative Bars und Restaurants mit bunt gemischten Tischen und Stühlen aus der Brocki, täglich wechselnden Menüs und Öffnungszeiten sowie zum Teil merkwürdigem Interieur. In der Stadt sind solche Angebote voll im Trend und sehr gut besucht. Im Saanenland ist der Qualitätsanspruch an Interieur und Möblierung generell eher hoch. Nicht vergessen darf man, dass vor allem junge Gäste andere Konzepte aber auch im Berggebiet schätzen.
Das Hiltl beschäftigt 250 Personen aus 80 Nationen. Eine grosse Verantwortung – gerade in Corona-Zeiten.
Absolut. Wir sind aktuell so gefordert wie schon lange nicht mehr. Für viele unserer Mitarbeitenden war und ist die Corona-Zeit sehr schwer. Sie können nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen in ihre Heimatländer, verdienen merklich weniger und es herrscht eine gewisse Unsicherheit. Wir haben im ersten Lockdown zusammen mit Coople eine Aktion auf die Beine gestellt, bei der unsere Mitarbeitenden auf den Feldern Gemüse ernten konnten – als Beschäftigung und um die 20 Prozent Lohnausfall durch die Kurzarbeitsentschädigung ausgleichen zu können.
Wie begegnen Sie den erwähnten Unsicherheiten?
Wir haben in der Geschäftsleitung in diversen Strategie-Workshops die Milestones für die nächsten Jahre gesetzt und werden diese nun in Onlinepräsentationen unseren Mitarbeitenden kommunizieren. Wir präsentieren einen klaren Fahrplan, der aufzeigen soll, wo es hingeht. Er zeigt, dass wir bewusst handeln.
Wie sind die Stadtbetriebe durch das vergangene Jahr gekommen?
Nur sehr schwer. In der Stadt fehlen neben allen Pendlern, die im Homeoffice arbeiten, die zahlreichen Touristen. Anders als in Bergregionen machen Schweizer selten Ferien in den Städten. Wir haben bereits im Februar 2020 mit langfristigen Folgen von über zwei Jahren gerechnet und dementsprechend geplant, Projekte gestoppt und gesteuert. Wir konnten zum Glück auf einige Reserven zurückgreifen. Trotzdem haben wir uns Ende 2020 intensive Gedanken zu unseren Geschäftsfeldern gemacht. Wir werden uns in Zukunft aufs Kerngeschäft konzentrieren und bewusst Innovationen vorantreiben. Wir sind nicht nur das älteste vegetarische Restaurant der Welt, sondern wollen auch das Führende sein und bleiben.
Was erwarten Sie vom Sommer?
Ich hoffe auf ganz viel Sonne. Wir betreiben seit acht Jahren zwei Restaurants in Freibädern in Zürich. Ganz wie im Saanenland rentieren sie aufgrund der kurzen Saison nur, wenn die Wetterverhältnisse entsprechend gut sind. Ausserdem erhoffe ich mir, dass bald noch mehr Lockerungen möglich sind und wir mit den Fortschritten der Impfungen weniger Schutzmassnahmen durchsetzen müssen. Dann können wir uns wieder viel mehr auf unsere Gäste statt auf Schutzkonzepte konzentrieren. Wir blicken jedoch zuversichtlich in die Zukunft. Persönlich würde ich mich natürlich auf freuen, wieder unkomplizierter zu reisen.
Mit welchem Bild möchten Sie Schulabgänger inspirieren, der Gastronomie eine Berufschance zu geben?
Die Hotellerie und Gastronomie sind unglaublich vielfältig. Nirgendwo treffen so viele Kulturen, verschiedene Menschen, konzeptionelle, organisatorische und kulinarische Meisterleistungen im Team aufeinander. Gerade während des Lockdowns haben wir bemerkt, wie stark das Sozialleben vom Gastgewerbe abhängt. Begeisterte Gäste geben mir auch unglaublich viel zurück und ich behaupte jetzt einmal, dass der Zusammenhalt im Team nirgends so stark ist wie in der Hotellerie und Gastronomie – und ganz besonders im Hiltl.
WAS IST DAS HILTL?
1898 gegründet, ist Hiltl laut «Guinness World Records» das älteste vegetarische Restaurant der Welt. Heute wird der Zürcher Familienbetrieb mit rund 250 Mitarbeitenden aus über 80 Nationen in vierter Generation geführt. Die Vision lautet: «Gäste mit vegetarischem und veganem Genuss begeistern.» Im Stammhaus an der Sihlstrasse sind unterschiedliche Kompetenzen zusammengefasst. A-la-carte-Restaurant mit Buffet, Bistro, Take-away, Seminarräume und eine vegetarische Metzgerei. Ebenfalls im Stammhaus ist die Hiltl-Akademie, ein Kompetenzzentrum für vegetarischen und veganen Genuss, untergebracht. An den bekannten Hiltl-Buffets verpflegen sich die Gäste an sieben weiteren Standorten. Im Sommer ist das Angebot zudem in zwei Badi-Restaurants am Zürichsee und ab Juni in Kemptthal erhältlich. Hiltl betreibt ebenfalls ein Catering.
Quelle: Hiltl
ZUR PERSON
Patrick Jungi ist in Saanen geboren. Seine Familie lebt in Gstaad und Lauenen. Nach der Ausbildung zum Kaufmann im Gstaad Palace absolvierte er die Hotelfachschule in Luzern. Im kommenden Oktober beginnt der 30-Jährige die berufsbegleitende Ausbildung zum Executive Master of Business Administration an der Hochschule für Wirtschaft Zürich. Seinen beruflichen Rucksack füllte er mit Erfahrungen in Ennetbürgen, Luzern, Zürich, Venedig und Mexiko. Patrick Jungi lebt mit seinem Freund in Zürich. In seiner Freizeit wandert und reist er gerne und befasst sich mit Kulinarik. Er ist ein Naturfreund und Kuhpate von Lenny auf dem Lebenshof Aurélio im luzernischen Büron.