Seine Spuren im Saanenland werden bleiben

  18.06.2021 Gstaad

Ernst Andrea Scherz verstarb am 13. Mai 2021 nach langer Krankheit im Alter von 81 Jahren. Von 1968 bis 2001 hatte er das Gstaad Palace geleitet. Doch sein Engagement ging weit über die Führung des traditionsreichen Hauses hinaus.

SONJA WOLF
«Zum 70. Geburtstag bekam er ein E-Bike von der Familie geschenkt. Er hat es geliebt und düste, wann immer er konnte, durchs Saanenland», erinnert sich Andrea Scherz an die letzte Dekade im Leben seines Vaters. «Er kam immer mit viel Karacho um die Ecke und hat die Hotelgäste verschreckt.»

Wir sitzen im ehemaligen Büro des verstorbenen Hotelpatrons. Viele gerahmte Fotografien an den Wänden erinnern an die belebten, meist heiteren, aber auch an einige traurigere Stationen seines Lebens. «E-Bike fuhr er bis an sein Lebensende – und auch Ski. Er liebte die Bewegung und die Natur: den Wasserngrat, den Lauenensee und all die anderen Bergseen», beschreibt Andrea Scherz seinen Vater.

Aber seine Liebe zum Saanenland äusserte sich in so vielem mehr: Aktiv nahm er am sozialen Leben der Region teil, sei es als Mitglied in der Flugplatzgenossenschaft oder im Vorstand des damaligen Tourismusvereins und des Hotellerievereins. Er machte sich stark für den Bau der ersten Personalhäuser oder Zentralwäschereinen. Mitglied war er im Jagdschützenverein und im Oldtimerclub – vor nunmehr über 50 Jahren hat er die erste der jährlich stattfindenden Oldtimerralleys organisiert.

Und wer erinnert sich nicht an die Weltneuheit der Seilwindentechnik auf den Pistenbullys? 1983, also in seiner Zeit als Präsident der Wasserngrat AG, heckte er die Idee zusammen mit Fred Rölli und Konrad Brand aus. Seither ist nicht nur der Tiger Run perfekt präparierbar, nein, die Gstaader Technik ging sogar um die ganze Welt.

Dem Gstaad Palace, seiner Hauptwirkungsstätte, hat Ernst Andrea Scherz unter anderem das Hallenbad hinterlassen, das sich nachts zum legendären GreenGo-Nachtclub verwandelt. Er investierte viel ins Hotel, an Energie und auch materiell. Dabei strebte er nach der Maxime: «Wir investieren nur, was wir auch verdienen.» Und so war stets harte Arbeit an der Tagesordnung, mit der er das Traditionshaus einen Schritt mehr zu dem machte, was es heute ist.

Bei allen Höhen und Tiefen, die er durchlebte, ist ihm aber eines nie abhandengekommen: sein Humor. Andrea Scherz: «Als er wusste, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hat, hat er seinen Lebenslauf eigenhändig in Angriff genommen und auch mir letzte Anweisungen gegeben: ‹Mein Sohn›, sagte er, ‹ich will eine fröhliche Rede für meine Trauerfeier und Ländlermusik – bloss nichts Trauriges!›»


Ein paar Scherz-hafte Erinnerungen an «Poiti»

«Scherz – ist das dein Ernst?» So oder ähnlich muss Papa wohl seinen Vater gefragt haben, als er ihn getauft hatte. Aber für den Rest seines Lebens trug er den nur auf den ersten Blick paradoxen Namen mit viel Stolz und Humor. Denn ein Scherz ist und bleibt ein Scherz. Nomen est omen!

Klein-Ernsts erste Erinnerungen stammen aus den Kriegsjahren – und sie waren geprägt von Butter und Autos. Einmal nämlich hatte sein Vater ein beachtliches Stück Butter ins Chalet Bärglimatt mit nach Hause gebracht. Eine fette Überraschung! Doch ehe sich die Familie umsehen konnte, hatte der kleine Schlawiner auch schon das ganze Stück verschlungen, ratzekahl, alles weg! Womit bewiesen ist: Schon früh war unser Vater ein Bonvivant und wusste haargenau, dass Butter unumgänglich ist für eine gute Küche.

Auch alles, was mechanisch und motorisiert war, hatte es Ernst von Kindsbeinen an angetan. Als sein Vater in den Kriegsjahren manchmal heimlich eine unerlaubte Spritzfahrt über das Oberbort machte, fuhr der Dreikäsehoch gerne mit – selbstverständlich stehend auf dem Rücksitz. Nur mit den Hühnern im Chräwelgässli hatten die beiden auf ihrer Spritztour nicht gerechnet … Und so endete die tierische Vollbremsung mit einer Schnittwunde auf der Stirn des kleinen Rennfahrers. Offiziell hatte er sich diese Blessur natürlich beim Spielen geholt.

Papa hat seine Schulzeit hier im schönen Saanenland sehr genossen. Mit dem Lernen nahm es Ernstli allerdings nicht immer so ernst. Oft lernte er die Französischvokabeln erst auf dem Schulweg ins Ebnit. Das Wörterheft fixierte er jeweils mit dem Daumen am Lenker. «Bon voyage», hat er sicherlich als Erstes gelernt. Dank der guten Beziehungen meines Grossvaters durfte er später im Rosey studieren. Dort schloss er Bekanntschaften, die sich über die ganze Welt erstreckten. So liess er sich beispielsweise während eines Besuchs bei einer Freundin in Texas als neuen Wilhelm Tell feiern: Der Cowboy aus Gstaad hatte es doch tatsächlich geschafft, einen Vogel mit einem Revolver abzuschiessen.

Auch den Prinzen Aga Kahn hat er im Rosey kennengelernt. Dieser hat ihn später nach Sardinien gerufen, um dort mit ihm die Costa Smeralda aufzubauen. Jungvermählt hat ihn meine Mutter Shiwa auf die schöne Insel begleitet – und in einer warmen Augustnacht wurde dort der Grundstein zu meiner Existenz gelegt … Weshalb ich mit Stolz von mir behaupten darf: «I am made in Italy.» «Ernst, ich brauche deine Hilfe!» 1968 ist mein Vater dem eindringlichen Anruf meines Grossvaters gefolgt, ihn bei der Führung des Hotels zu unterstützen. Shiwa und Ernst kehrten heim. Und meine Grosseltern hatten ein sehr grosses Vertrauen in das junge Paar, sodass meine Grossmutter Silvia eines Tages feierlich den grossen schweren Schlüsselbund auf den Tisch legte und sagte: «Das Palace ist nun eures.»

Und so nahm die Erfolgsgeschichte ihren Lauf. Unweit vom Palace, im Chalet Mandi, hat uns mein Vater ein traumhaftes Heim errichtet. Mein Bruder Thierry und ich genossen das schöne Haus, den grossen Garten und das Schwimmbad in vollen Zügen. In der Zwischensaison, jeweils am Samstagabend, war «Poiti» – wie wir ihn liebevoll nannten – dann unser Grillkönig und hat uns zusammen mit meiner Mutter wie Prinzen umsorgt.
Nie liess er etwas anbrennen – auf dem Grill nicht, im Leben nicht. Denn er war ein Mann mit Feuer im Hintern.

Unser Vater war ein sehr talentierter Hotelier, das wissen wir alle. Aber was wenige wissen: Er war auch ein begnadeter Bastler. Man glaubt es kaum, aber er hat eigenhändig und ohne Bausatz und Anleitung einen ferngesteuerten Flieger und Hubschrauber konstruiert. Nur meine Mutter war ob seiner kreativen Ideen nicht immer so erfreut, denn manchmal mussten sogar ihre Blumen-Übertöpfe als Bauteile hinhalten. Die Wochenenden auf dem Flugplatz St. Stephan, wo mein Vater in Jeans und altem Pullover seine Kreationen flog, zählen zu meinen schönsten Kindheitsmomenten. Da war Vater im Element – und er griff nach den Sternen!

Apropos: Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie stolz und beeindruckt ich war, als mir mein Vater als Teenager die Büros der «Leading Hotels of the World» in New York zeigte. Ein Callcenter mit mehr als 50 Mitarbeitenden, das erste Computersystem für weltweite Reservierungen in den besten 5-Stern-Häusern der Welt. Und last but not least eine Geschäfts-Stretch-Limo, in der er, meine Mutter, mein Bruder und ich durch den Big Apple chauffiert wurden. Mein Vater war der coolste Typ of the World!

Wo Sonne ist, ist auch Schatten: Schmerzhaft früh erkrankte meine Mutter Shiwa an Krebs. Mein Vater hat sich sieben Jahre lang unheimlich fürsorglich um sie gekümmert. Das war ein bestes Beispiel von echter Liebe. Danke, Papa!

Danach hatte mein Vater, der durchaus auch ein Tausendsassa sein konnte, leider nicht immer ein glückliches Händchen in der Liebe. Ein grosses Glück aus dieser holprigen Zeit ist allerdings mein Halbbruder Chris. 2004 dann lernte mein Vater seine heutige Frau Yana kennen. Mit Yana durfte er einen sehr erfüllten und glücklichen Lebensabend in Gstaad, Las Terrenas oder auf der Schebra geniessen – so, wie er es auch verdient hat, nach einem sehr bunten Leben. Danke, Yana!

Glück hatte mein Vater immer wieder. Zwei Mal rettete er unser Haus in schweren Krisen. Er hat sich und unseren Palast immer wieder neu erfunden. Ein Riesenschwein sogar hatte mein Vater, als er haarscharf – wortwörtlich genommen – an einer grossen Katastrophe vorbeischrammte. Damals nämlich, als er mit Kollegen in Kanada in eine Lawine geriet. Eine Locke von seinem schönen Haar, welche der Suchtrupp als Erstes sah, hatte nicht nur ihm, sondern auch anderen Betroffenen das Leben gerettet.

Mein Vater war ein liebevoller und grosszügiger Mensch. Er war ein Stehaufmännchen, ein Macher, ein Kämpfer – und er war ein Scherz, durch und durch. Will heissen: Er verstand es, sämtliche Klippen mit Humor zu meistern – bis zuletzt: Als ich ihn vor ein paar Tagen fragte, welcher Spruch denn auf seine Todesanzeige zu stehen kommen sollte, meinte der Scherz voller Ernst: «It was wonderful! I will be back!»

ANDREA SCHERZ

 


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