Sinkende Betreibungen im Corona-Jahr

  18.06.2021 Saanenland, Interview, Coronavirus

Im Jahr 2020 haben die Betreibungsverfahren um 15 Prozent abgenommen. Erklärbar ist dies mit einem Inkassostopp des Kantons Bern.

BLANCA BURRI
Die Pandemie löste viele Aufträge in nichts auf. Die Gastronomie und Eventbranche sind davon bekanntlich besonders betroffen. Leere Auftragsbücher, Kurzarbeit und Entlassungen könnten vermuten lassen, dass die Betreibungsämter alle Hände voll zu tun haben. Dem ist nicht so. «Im Gegenteil, im Jahr 2020 haben insbesondere die Betreibungsverfahren um rund 15 Prozent abgenommen», sagt Daniel Blaser, Vorsteher des Betreibungs- und Konkursamts Oberland. Erklärbar sei das mit einem Inkassostopp, welcher der Kanton Bern in der Zeit vom 19. März bis 30. Juni 2020 verfügt habe, um die Schuldner zu entlasten. Weitere Massnahmen haben diesen positiven Trend begünstigt. «Die Krankenkassen wie auch die Sozialversicherungen waren sehr zurückhaltend mit der Einleitung von Betreibungsverfahren», sagt der Experte. Da rund die Hälfte der eingeleiteten Betreibungsverfahren auf Forderungen von Krankenkassen und Steuern zurückgehen, drückten diese Massnahmen sofort auf die Fallzahlen.

Vor der Pandemie Anstieg
Vor der Pandemie war das Gegenteil der Fall. Die Zahlen sind von 2010 bis 2019 stetig angestiegen. Und war vor wenigen Jahren ein Zahlungsbefehl in vielen Fällen genügend, um die säumigen Schuldner zum Zahlen zu bewegen, wird heute das nächste Stadium des Verfahrens für dasselbe Resultat benötigt. «Immer mehr Betreibungen mussten aufwendiger gestaltet fortgesetzt werden, damit sie zum Erfolg für die Gläubiger führten», gibt Daniel Blaser Einblick. In Zahlen ausgedrückt wurden im Jahr 2010 67 Prozent aller Zahlungsbefehle fortgesetzt (auf Pfändung oder Konkurs), im Jahr 2020 74 Prozent.

Ausnahmefall Corona-Jahr
Ob sich dieser positive Trend nach der Pandemie fortsetzt, ist laut Daniel Blaser schwierig zu beurteilen. Das Corona-Jahr isoliert betrachtet habe sich in eine interessante Richtung entwickelt. «Es wurden mehr Zahlungsbefehle bezahlt.» Möglicherweise hänge dies mit der eingeschränkten Mobilität der Menschen zusammen. Vielleicht hätten weniger Ferien, Reisen und Konsum dazu geführt, dass Ende Monat etwas mehr Geld auf dem Konto übrig geblieben sei.


JÖRG KOCH UND MIRIAM KLEE VOM BETREIBUNGSAMT OBERL AND WEST IM INTERVIEW

«Einfühlsamkeit in die Lage der Schuldner ist wohl das Wichtigste»

Jörg Koch und Miriam Klee geben einen Einblick in die Arbeit von Betreibungsspezialisten. Jörg Koch ist Leiter der Dienststelle Oberland West und Betreibungsweibelin Miriam Klee für das Saanenland zuständig. Beiden sind die Menschen hinter den Schuldscheinen wichtig.

BLANCA BURRI

Weshalb haben Sie diesen Beruf gewählt?
Jörg Koch (JK):
Es ist ein spannender Job. In gewissen Kantonen ist die Voraussetzung für einen Amtsleiter ein abgeschlossenes Jurastudium. Im Kanton Bern nicht. Hier steht der Mensch im Mittelpunkt.
Miriam Klee (MK): Nach ca. 18 Jahren in verschiedenen Tätigkeiten bei der Eisenbahn suchte ich eine neue Herausforderung, aber nicht mehr im 7/7-Schichtbetrieb. Die Stellenausschreibung der Weibelin fand ich spannend. Mir gefällt die Verbindung von Innen- und Aussendienst. Der Kundenkontakt ist für mich ausschlaggebend.

Welches sind Ihre Hauptaufgaben?
JK:
Wir haben oft mit menschlichem und spezifischen Fachfragen zu tun, die das Feld immer spannend halten. Liegenschaftsverwaltungen, Mitarbeiterwesen, Konflikte lösen, es wird nie langweilig. Es ist keine trockene Materie, wie man es von aussen annehmen könnte.
MK: Meine Hauptaufgabe besteht darin, das Geld einzutreiben, das der Schuldner dem Gläubiger schuldet. Deshalb befasse ich mich oft mit Pfändungen. Welche Vermögen besitzt der Schuldner und über welche Einnahmenquellen verfügt er? Was sind die monatlichen Ausgaben? Ist jemand selbstständig tätig oder angestellt? Hierfür besuche ich jeden Schuldner, um die Bestandesaufnahme vor Ort zu vervollständigen und zu bestätigen.

Welche menschlichen Grundvoraussetzungen sollte man als Betreibungsweibel mitbringen?
JK:
Die Person soll das Spannungsfeld aushalten können, das zwischen Schuldner und Gläubiger entsteht. Für den Gläubiger ist man in der Regel zu lasch und für den Schuldner zu streng.
MK: Sprachen sind von grossem Vorteil, vor allem im Saanenland.

Wie sieht es mit anderen Fähigkeiten wie Empathie aus?
JK:
Damit eine Person langfristig Betreibungsweibel bleibt, sind drei Fähigkeiten gefragt: Selbstreflexion, Empathie und Helikopterblick. Wer sich selbst reflektiert, kann herausfinden, was er selbst zu einem positiven Gesprächsverlauf beitragen kann, dann hat er grössere Möglichkeiten, sich nicht zu einer unkontrollierten Aussage hinreissen zu lassen. Wogen können leichter geglättet werden. Bei einer positiven Grundhaltung entsteht die Empathie von alleine. Die Helikoptersicht trägt dazu bei, das Erlebte angemessen einzuordnen und Zusammenhänge zu erkennen.

Können Sie ein Beispiel nenen?
MK:
Manche sind ängstlich oder aggressiv, weil sie mit der Situation überfordert sind. Das versuche ich einzuordnen und niemals nach Hause zu nehmen. Abgrenzung ist das Zauberwort.
JK: Je nach Herkunft der Person bedeutet ein Eintrag im Betreibungsregister einen gewissen Gesichtsverlust. Je höher die Stellung in der Gesellschaft, desto schwieriger kann der Umgang mit dem Eintrag sein.

Was muss man nicht unbedingt erwarten?
JK:
Dankbarkeit und Anerkennung.

Gibt es trotzdem dankbare Momente?
MK:
Ich erlebe jeden Tag dankbare Momente. Meistens sind die Klienten etwas skeptisch, wenn sie mich kennenlernen, aber sie merken schnell, dass ich aufgeschlossen bin und Menschen gern mag. Es gibt interessante und aufschlussreiche Gespräche.
JK: Dankbar bin ich, wenn ich jemanden nicht mehr bei uns sehe. Ich werte es als Zeichen dafür, dass die Person ihre finanzielle Situation wieder im Griff hat.

Ist es einfach, einen neuen Schuldner einzuschätzen?
MK:
Die meisten Unterlagen wie Lohnausweise, Mietvertrag, Krankenkassenpolice und weitere werden schriftlich vorgelegt. Beim Besuch in der Wohnung kann ich rasch einschätzen, wie es um weitere Vermögenswerte steht. Dafür entwickelt man ein Gespür.

Wie finden Sie den Zugang zu den Menschen?
MK:
Einfühlsamkeit in die Lage der Schuldner ist wohl das Wichtigste. Die direkte Beziehung und das Begegnen auf Augenhöhe unterstützen die positive Beziehung. Jedes Gegenüber braucht etwas anderes. Einer Samthandschuhe und der andere Strenge.

Werden Sie auf der Strasse erkannt?
MK:
Ja, wir grüssen uns. Damit es für niemanden unangenehm wird, nennen wir die Namen nicht. Das schützt uns beide.

Wie gehen Sie damit um, wenn immer wieder dieselben Namen auftauchen?
MK:
(lacht) Ich sage dann manchmal: «Ah, Sie schon wieder.» Es gibt Leute, die es nie lernen. Aber ich bin ja nicht ihre Mutter, ich muss sie nicht belehren. Ich versuche es einfach mit Humor zu nehmen. Aber es gibt viele Personen, deren Lohn gepfändet wird und die nicht mehr viel Spielraum haben. Das ist auch häufig ein Grund, weshalb man auf die gleichen Menschen trifft.

Wie gehen Sie mit schwierigen Begegnungen um?
JK:
Wenn es Konflikte gibt, versuchen wir diese immer nachhaltig zu lösen. Wir tolerieren keine Drohungen oder andere unausgesprochene Themen, die im Raum stehen. Da helfen Aussprachen, beispielsweise mit dem Regierungsstatthalter als Moderator oder Mediator.

Was ist der schwierigste Punkt im Austausch mit den Schuldnern?
JK:
Da würde jede Person, die im Aussendienst arbeitet, eine andere Antwort geben. Ich finde das Nichteinhalten von Terminen ist schwierig, weil es die Verfahrensdauer verlängert. Die Gläubiger möchten alles möglichst rasch erledigt haben, die Schuldner möglichst lange hinauszögern.
MK: Wenn Schuldner Angst haben, dass ich bei der Bestandesaufnahme sofort etwas mitnehme. Das mag früher so gewesen sein, ist aber heute nicht mehr der Fall. Ich versuche, die Abläufe offenzulegen und so zur Beruhigung der Situation beizutragen. Ich verstehe diese Ängste, vor allem, wenn es um Gegenstände wie Autos geht, die im Alltag wichtig sind – gerade in einem ländlichen Gebiet.

Im Saanenland geht die Schere zwischen Normalverdienern und Wohlhabenden weit auseinander.
MK:
Im Saanenland gibt es in der Tat alle Arten von Schuldnern. Reiche und arme aus diversen Nationen.

Was sind die Gründe für die Schuldenfalle?
MK:
Bei den Wohlhabenden geht die Zahlung manchmal vergessen. Da spielt die Sprache sicherlich auch eine Rolle, weil viele eine andere Muttersprache als die Amtssprache Deutsch sprechen. Deshalb werden Zahlungsbefehle manchmal auch missverstanden. In diesem Fall rufe ich die Schuldner in der Regel an, was Klärung bringt.

Und über alle Schuldner gesehen?
MK:
Es gibt Menschen, die über ihre Verhältnissen leben. Sie haben nicht in der Rechnung oder sind überfordert damit, dass die Steuern und die Krankenkassen bezahlt werden müssen. Für junge Menschen ist das Ausfüllen der Steuern ein grosser Holperstein.

Diejenigen, welche die Steuern nicht ausfüllen, werden amtlich eingeschätzt und das kann teuer kommen. Es gibt auch Schicksalsschläge. Beispielsweise, wenn jemand in der Familie jung stirbt und Schulden hinterlässt. Es ist lange nicht jeder selbst an einer Pfändung schuld. Schade finde ich, dass sie sich vorher nicht informieren, welche Möglichkeiten es gibt, sondern warten, bis wir eingeschaltet werden. Beispielsweise kann ein Erbe, das mit Schulden belastet ist, ausgeschlagen werden.

Wie kann ein Betreibungsbeamter unterstützend wirken?
MK:
Wir klären auf, dass es absolut Sinn macht, mit dem Gläubiger in den Kontakt zu treten, um eine Direktzahlungsvereinbarung auszuhandeln. Zudem gibt es verschiedene Schuldenberatungsstellen und eine Fachstelle für Schuldensanierungen.


BETREIBUNGSWEIBEL

Der Begriff Betreibungsweibel gilt vor dem Gesetzt zwar nach wie vor, ist jedoch etwas veraltet. Heute wird der Begriff Sachbearbeiter/in im Innen- und Aussendienst verwendet.

VERFAHRENSSCHRITTE
– Betreibung
– Pfändung
– Konkurs

BERATUNGSSTELLEN
– Berner Schuldenberatung: www. schuldeninfo.ch
– Caritas Schuldenberatung: www. caritas-schuldenberatung.ch
– Fachstelle Berner Schuldensanierung: www.schuldensanierung-ffs. ch

 

 


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