«l – u – c – k – y»

  14.09.2021 Kultur

Jade Eagleson buchstabierte «lucky» und lud das Publikum ein, es ihm gleich zu tun. Was es noch so gerne tat, denn alle waren glücklich an dieser Country Night: Die Musikfans genossen den Abend ohne Maske und dicht gedrängt im Festivalzelt, die Künstlerinnen und Künstler fühlten sich hör- und sichtbar wohl bei ihrem so lang ersehnten Auftritt und die Helferinnen und Helfer waren noch hilfsbereiter als je zuvor. Die Country Night 2021 hat allen Beteiligten gezeigt, wie wichtig der Anlass für unsere Lebensfreude, unser Wohlgefühl und Glück ist. Herzlichen Dank Country Night 2021, du warst Balsam auf unsere pandemiegeschädigten Seelen.

THOMAS RAAFLAUB
Karl Valentin, der Münchner Kabarettist, hat folgenden Spruch gesagt: «Kunst kommt von können, denn wenn sie von wollen käme, würde sie Wunst heissen.» Es waren ausnahmslos einzigartige Könnerinnen und Könner, die auf der Bühne in Gstaad auftraten. Beginnen wir mit dem Hauptact, mit «Emmylou Harris & The Red Dirt Boys». Die 1947 in Birmingham (Alabama) geborene Country-, Folk- und Rocksängerin hat bis heute über vier Millionen Tonträger verkauft und wurde 13 Mal mit dem Grammy ausgezeichnet. «Aufhören will ich noch lange nicht», sagte sie unter aufbrandendem Applaus des sehr aufmerksam zuhörenden Publikums. Ein Umstand, der für Gstaad typisch ist.

Der Auftritt der Countrylegende auf ein Bild übertragen würde einen langsam treibenden Fluss im Abendlicht zeigen. Voller Harmonie die Sängerin, begleitet von den «Red Dirt Boys», deren Spiel eine wahre Freude war. Will Kimbrough mit exquisiten Häppchen und zurückhaltenden Soli, Phil Madeira pendelte zwischen Akustikgitarre, Honky-Tonk-Piano und Akkordeon, Rickie Simpkins fiedelte und mandolinierte, Chris Donahue wechselte von der Bassgitarre zum Kontrabass und Bryan Owings bediente sein Schlagzeug mit fein dosierter Zurückhaltung: kaum zu überbietende Präzision und Harmonie. Nicht vergessen wird dieser magische Moment, als Emmylou Harris alleine auf der Bühne stand, sich mit der Akustikgitarre begleitend ein Solo vortrug und das Publikum so andächtig zuhörte, als wäre es bei einem Konzert mit klassischer Musik. Die Countrylegende revanchierte sich ihrerseits und dankte für den Empfang in Gstaad, den auch sie nie mehr vergessen werde.

Aaron Watson will in Gstaad bleiben
Aaron Watson, der Singer-Songwriter, Ehemann und Vater von drei Kindern, fuhr wie ein amerikanischer Güterzug auf der Bühne ein und war auch danach nicht mehr zu bremsen. Die Platzanweiserinnen begannen ab den ersten Takten zu tanzen. Der Texaner ehrt auf seinem Weg zum Countrystar die Tradition, ist aber zugleich offen für Experimente – und wie!

Frech und respektlos fuhr der Watson-Express durch Stile und Epochen und machte auch nicht vor einer Cover-Version eines «ACDC»-Hits Halt. Nur sein Antlitz auf der Grossleinwand und die dünne Luft im bergigen Gstaad machten ihm Angst, denn Texas ist hauptsächlich flaches Tiefland. Allzu gross kann diese Angst nicht gewesen sein, denn er erzählte, dass er seiner Mutter am Telefon gesagt habe, er werde in Gstaad bleiben … Zeitweise bremste der Zug ab und liess Raum für ein begeisterndes Banjo-Solo oder Betrachtungen über den Verlust von lieben Menschen – zum Beispiel Aarons Tochter Elsi oder des Ehemanns der Künstlerbetreuerin. Der Auftritt bestand aus Teilen von Traurigkeit, Freude, Nostalgie, Hoffnung, familiärer Liebe und Stärke. Das ist typisch Aaron Watson, der den Gospel «Amazing Grace» mit Hard Rock verbinden kann, Besinnliches mit mitreissenden Rhythmen, Traditionen mit der Suche nach Neuem.

Blues heiratet Country und alle freut es
Philipp Fankhauser spielt zwar keine Countrymusik – was nicht ganz stimmt, denn in Gstaad machte er eine Ausnahme –, doch er und seine Band machen Musik, auf die er und wir mit ihm als Schweizer und Berner stolz sein dürfen. Das Publikum nahm den Bluesmusiker begeistert auf.

1974 zog Fankhauser als Zehnjähriger mit seiner Mutter ins Tessin. Dort begann er im Alter von elf Jahren Gitarre zu spielen und entwickelte eine Liebe zu schwarzer Musik, insbesondere zum Blues. Er gründete in Locarno seine erste Schülerband, bevor er nach Thun zurückkehrte. Humorvoll und teilweise auf Berndeutsch führte er die Stücke ein und schmückte sie mit Episoden aus. Auch wenn Philipp Fankhauser mit Herz und Seele Bluesmusiker ist und bleibt, bot die Musik immer wieder Überraschendes – musikalisch, stilistisch und sprachlich. Er entwickelt sich weiter und gewinnt immer mehr an Statur.

Die begeisterte Reaktion des Gstaader Publikums und der Umstand, dass drei Konzerte von Philipp Fankhauser in der Mühle Hunziken innert Minuten ausverkauft waren, beweisen diese Aussage.

Sehr jung und sehr talentiert
Den Abend eröffnete Jade Eagleson – und wie! Wer gedacht hätte, der Junior spiele unter dem Niveau der Musikerveteranen und Emmylou Harris, wurde rasch eines Besseren belehrt. Traditionell, kreativ, innovativ und abwechslungsreich zog der Kanadier das Publikum von allem Anfang an in seinen Bann. Das Multitalent bot einen überraschenden Stimmumfang vom Bass zum Bariton und eine Begleitband, die neben umfangreicher und schulterlanger Haarpracht auch vollen Musikgenuss bot.

Eagleson war auf der Farm seiner Grosseltern in Ontario aufgewachsen, wo er auf dem Feld und im Stall arbeitete, bevor er im Alter von 19 Jahren auf der Suche nach Arbeit nach Alberta ging. Er entschied sich dann, nach Ontario zurückzukehren und eine Karriere in der Countrymusik zu beginnen, die dank der Talente des Künstlers sehr vielversprechend aussieht. Das Konzert in Gstaad unterstrich diesen Eindruck: Jade Eagleson bot ein breites Spektrum, das von ruhigen Balladen zu schnellem Rockabilly wechselte, von wunderschönem Sologesang zu stampfendem Honky-Tonk. Und eben – er lieferte die Überschrift zu diesem Text, indem er «glücklich» buchstabierte: «l – u – c – k – y».

Vor dem Auftritt von Emmylou Harris nahm sich Mister Country Marcel Bach Zeit für eine kurze Ansprache. Neben dem traditionellen Dank an das Publikum, die Sponsoren, Helferinnen und Helfer konnte er die erfreuliche Neuigkeit verkünden, dass die BKW als Hauptsponsor dem Anlass für die nächsten drei Jahre treu bleiben wird.


ESTASYMPA GOES COUNTRY

Der traditionelle Ausflug von estasympa 2021 führte 14 Teilnehmende von Estavayer nach Gstaad. Letztes Jahr gab es über 30 Anmeldungen für die Country Night – dann wurde die Veranstaltung abgesagt.

Die Gründe für die geringe Teilnehmerzahl dieses Jahr sind unklar: Kamen die Ungeimpften nicht, haben die Menschen Angst vor einer Ansteckung, haben sie kein Geld mehr? Sicher ist, dass die Abwesenden unrecht hatten. Gstaad und die Country Night zu entdecken war ein wahres Vergnügen für die Teilnehmenden des Integrationsprogramms. Sie lobten die Unterbringung in Zimmern mit WC und Dusche; die Atmosphäre in der Tennishalle mit ihren Speisen, Getränken und Geschäften und die nummerierten und bestuhlten Plätze im Festzelt; und natürlich die vier Konzerte, die die Staviacoises und Staviacois zum Staunen brachten. Zitate: «Lebendig – fröhlich – melancholisch – tragisch – supercool!» Alle Teilnehmenden waren sich einig: «Wir kommen 2022 wieder!»

THOMAS RAAFLAUB
www.estasympa.org

 


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