An der Zertifikatspflicht scheiden sich die Geister

  16.11.2021 Saanenland

Am Sonntag, 28. November kommt das Covid-19-Gesetz zum zweiten Mal zur Abstimmung. Ein erstes Mal am 13. Juni 2021, nachdem gegen die Fassung vom 25. September 2020 das Referendum zustande kam. Mit einem Ja-Anteil von 60 Prozent wurde das Gesetz angenommen. Das Referendum wurde auch gegen die Änderungen vom 19. März ergriffen. Deshalb kommt es erneut zur Abstimmung. Es ist die Zertifikatspflicht, die am meisten zu reden gibt.

ANITA MOSER

Darf ich fragen: Sind Sie geimpft?
Erich von Siebenthal (EvS):
Ja, ich habe mich im Juni impfen lassen.
Hans Schär (HS): Ich habe mich ebenfalls im Juni impfen lassen.

Erich von Siebenthal, Sie sind gegen das Gesetz, haben sich aber impfen lassen. Weshalb?
EvS:
Ich bin kein Impfgegner, im Gegenteil. Ich hoffe, dass sich noch möglichst viele Menschen impfen lassen. Ich habe so viel Kontakt mit anderen Menschen und ich will nicht immer überlegen, was geht und was nicht. Man hat sonst schon genug zu organisieren.
HS: Mir geht es ähnlich. Für mich bedeutet die Impfung einen kleinen Anteil, den man dazu beitragen kann, um die Pandemie – vielleicht – in den Griff zu bekommen. Man schützt mit der Impfung nicht nur sich selbst, sondern auch die anderen.

Im Juni wurde das Covid-19-Gesetz vom Schweizer Stimmvolk mit einem Ja-Anteil von 60 Prozent angenommen. Nun geht es um eine Anpassung. Weshalb stimmen Sie Nein? Ignorieren Sie damit nicht den Volkswillen?
EvS:
Nein, denn bei dieser Abstimmung geht es um Neuauflagen der Covid-Massnahmen. Ich muss vorausschicken: Der Bundesrat hat die Situation zu Beginn der Pandemie gut gemanagt. Er hat auch früh versucht, die finanziellen Angelegenheiten zu regeln. In den vergangenen Sessionen hat man das Covid-Gesetz laufend angepasst, vieles ist auch notwendig. Aber dann kam die Diskussion rund um das Zertifikat auf. Der Bundesrat hat damals klar gesagt, das Zertifikat sei vor allem für den internationalen (Flug-)Verkehr und für die Grossanlässe gedacht. Das war nachvollziehbar. Aber ich bin gegen die Ausweitung der Zertifikatspflicht auf andere Bereiche. Dass man die Restaurants 3G-pflichtig gemacht hat, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Grossmehrheitlich haben die Gastrobetriebe markant an Umsatz verloren. Ich lehne das Gesetz ab, im Wissen, dass es für Unternehmungen sowie in Bezug auf die finanzielle Unterstützung einiger Branchen wichtig wäre.
HS: Und genau das ist für mich mit ein Grund, dem Gesetz zuzustimmen. Im Gesetz verankert sind nämlich verschiedene wirtschaftliche Unterstützungsmassnahmen wie etwa die ausgebauten Härtefallhilfen für Unternehmungen oder die wirtschaftliche Unterstützung für Kulturschaffende. Auch wurde die Kurzarbeitsentschädigung ausgeweitet oder der Erwerbsersatz für Selbstständigerwerbende. Von diesen Massnahmen profitiert letztlich die ganze Gesellschaft.

Und wie stehen Sie zur Zertifikatspflicht?
HS:
Im Vordergrund steht für mich die Frage: «Wollen wir wieder mehr Einschränkungen oder einen erneuten Lockdown ?» Ich denke, dass ohne die Zertifikatspflicht das Risiko eines erneuten Lockdowns grösser ist als mit Zertifikatspflicht.

Man spricht von einer Spaltung der Gesellschaft. Was befeuert die Spaltung? Es gibt doch zu jeder Abstimmung Pro und Kontra.
HS:
Man lässt sich nicht gerne Gesetze «auferlegen», von denen man nicht überzeugt ist. Man will selbstständig entscheiden und nicht bevormundet werden. Jeder tut seine Meinung kund und versucht, sie durchzusetzen. In diesem Fall lautstarker und härter als üblich.
EvS: Diese Vorlage ist mit keiner anderen Vorlage, die ich bisher erlebt habe, zu vergleichen. Eine Vorlage, die so stark ins Persönliche eingreift, von morgens bis abends. Wenn du aufstehst, musst du dir Gedanken machen, ob du eine Maske dabei hast oder nicht. Diese Massnahmen greifen knallhart ins Privatleben der Menschen ein.

Aber diese Massnahmen haben nichts mit dem Covid-19-Gesetz zu tun. Der Bundesrat kann solche Massnahmen – Maskentragen, Abstandhalten usw. – gemäss dem Epidemiengesetz erlassen.
EvS:
Ja, aber das Zertifikat bestimmt, wo du Einlass bekommst und wo nicht.
HS: Durch die Zertifikatspflicht hat man zwar Einschränkungen, auf der anderen Seite geniesst man aber auch einige Lockerungen, man kann sich freier bewegen. Genesene und Geimpfte können von der Quarantänepflicht befreit werden. Es gibt einem aber auch ein besseres Gefühl, wenn man weiss, dass in einem Restaurant, an einem Konzert nur Genesene, Geimpfte oder negativ Getestete anwesend sind.

Und genau darum, weil Genesene und Geimpfte von der Quarantänepflicht befreit werden können, sprechen die Gegner von einer Zweiklassengesellschaft. Ungeimpfte würden diskriminiert. Ein Argument, das nachvollziehbar ist.
EvS:
Es ist diskriminierend. Zum Beispiel auch für Leute, die draussen arbeiten, für Lastwagenchauffeure oder Jugendliche, die in der Ausbildung sind und die – aus welchen Gründen auch immer – kein Zertifikat haben und sich auch nicht regelmässig auf eigene Kosten testen lassen möchten oder können. Sie alle haben keine Möglichkeit, in der kälteren Jahreszeit die Mittagspause in der Wärme zu verbringen. Dazu kommt, dass der Bundesrat bei Annahme des Gesetzes die Zertifikatspflicht ausweiten kann.
HS: Die Impfung ist eine mögliche Variante, die Pandemie zu bekämpfen. Ungeimpfte Personen sind nicht «zweitklassig» und sie werden nicht diskriminiert. Sie müssen einfach ein paar Einschränkungen in Kauf nehmen.

Der Bundesrat bekomme noch mehr Macht, argumentieren die Gegner. Bekommt er das wirklich oder fehlt dem Parlament das Vertrauen in den von ihm gewählten Bundesrat?
EvS:
Es gilt immer noch die «besondere Lage» und somit hat der Bundesrat hat nach wie vor eine grosse Macht. Grundsätzlich hat er die Pandemie bis jetzt gut gemeistert, indem er das Parlament möglichst einbeziehen will. Aber eigentlich nur in der Nachbearbeitung. Er gibt vor, was passiert, und das Parlament sorgt dafür, dass es sachgerecht umgesetzt wird.
HS: Der Bundesrat hat mit oder ohne Gesetzesrevision gleich viel Macht. Er darf ausdrücklich nicht nur nach epidemiologischen Kriterien agieren, sondern muss wirtschaftliche und gesellschaftliche Konsequenzen bei seinen Entscheiden genauso berücksichtigen. Das Ganze hat mit Machtspielen nichts zu tun.
EvS: Einen gewissen Vertrauensverlust gibt es schon auch. Ich verstehe zwar, dass der Bundesrat vorsichtig agiert. Aber immer, wenn die Fallzahlen gesunken sind, sind keine Lockerungen erfolgt – mit der Begründung auf umliegende Länder, auf Virusvarianten usw. Da macht man sich letztendlich schon Gedanken, wenn man nun diesem Gesetz zustimmen soll.

Reisen in andere Länder werde bei Ablehnung des Gesetzes schwieriger, argumentieren die Befürworter.
HS:
Der Tourismus ist ein wichtiger Wirtschaftsmotor, der internationale Austausch muss funktionieren. Mit dem Zertifikat ist es sicher einfacher. Aber grundsätzlich müssen wir uns den Bedingungen des jeweiligen Staates anpassen. Und im Inland bestimmen wir.
EvS: Etwas mehr Aufwand ist kein Argument. Die Befürworter sagen, es werde aufwendiger, aber nach wie vor möglich, dass der internationale Verkehr funktioniert. Aber man kann doch nicht Erleichterungen an der Grenze einführen und das eigene Volk mit Auflagen strapazieren.

Führt das umfassende Contact-Tracing zu einer kompletten digitalen Überwachung aller Bürgerinnen und Bürger, zu chinesischen Zuständen, wie das Referendumskomitee befürchtet?
HS:
Das Contact-Tracing ist dazu da, die Übertragungsketten zu unterbrechen. Die Kantone hat das viel Manpower und Geld gekostet. Mit dem Gesetz wird es zur Bundessache und das macht durchaus Sinn. Für mich steht aber mehr die Verhältnismässigkeit im Vordergrund. Wir haben früher unsere Daten an vielen Orten analog preisgegeben: zum Beispiel beim Militär, in der Schule, bei Versicherungen, der Steuerverwaltung etc. Heute geben wir sehr viele Daten digital weiter, zum Beispiel via Smartphone. Die Krankenkassen verfügen über unsere persönlichen Daten, die AHV, die Banken und aktuell spricht man vom elektronischen Patientendossier. Die Digitalisierung ist in allen Bereichen ein Thema. Und jetzt haben wir plötzlich ein Problem mit dem Contact-Tracing?
EvS: Es gibt eine berechtigte Sorge den Umgang mit den Daten betreffend. Und es stellt sich auch die Frage, ob das Contact-Tracing die nächsten zehn Jahre und auch für andere Krankheiten zum Einsatz kommen soll. Das Gesetz ist bis Ende 2031 gültig. Zehn Jahre sind für mich definitiv zu lang. Es braucht eine Sorgfaltspflicht im Umgang mit persönlichen Daten. Aber das gilt für alle Bereiche. .
HS: Aber von chinesischen Zuständen, von einer Diktatur, kann doch keine Rede sein. In welcher Diktatur kann das Volk Ja oder Nein sagen? Wir stimmen am 28. November bereits zum zweiten Mal über das Covid-19-Gesetz ab.

Was passiert, wenn das Covid-Gesetz abgelehnt wird?
EvS:
Dann ist die Politik gefragt, für das Volk das Beste aus dieser Situation zu machen. Diesen Auftrag haben der Bundesrat und das Parlament unabhängig vom Ausgang der Abstimmung. Bei einem Nein wird nicht alles, was die Vorlage in Sachen wirtschaftlicher und finanzieller Unterstützung enthält, automatisch Makulatur. Wenn vom Volk Druck kommt und die Politik, d.h. die Kommissionen die Anliegen aufnehmen, ist manches möglich. Das hat man auch schon bewiesen.
HS: Dem kann ich grundsätzlich zustimmen. Das hat man beim CO2-Gesetz gesehen. Es wurde vom Stimmvolk abgelehnt und trotzdem ist man bereit, weiterzufahren. Das wird hier ähnlich sein. Man kann sich bei einem Nein nicht zurücklehnen und denken, nun sei alles erledigt. Aber bei einem Ja auch nicht. Nach wie vor müssen wir die Pandemie bekämpfen.

Was ist die Alternative zum Covid-19-Gesetz, was die Lösung, um aus dieser Pandemie herauszukommen?
EvS: Ich bin der Meinung, man müsste lockern und damit leben. Es ist mir auch klar, dass die Auslastung der Spitäler den Takt angibt. Aber ich appelliere an die Eigenverantwortung. Und ich hoffe, dass sich auch weiterhin Leute impfen lassen.
HS: Ohne Covid-19-Gesetz wird es länger dauern, bis wir zur Normalität zurückkehren können. Verhältnismässige Einschränkungen werden nötig und eventuell auch spürbarer sein.

Viele der Gegner des Gesetzes sind auch Impfgegner. Was sagen Sie ihnen?
EvS:
Nicht alle sind Impfgegner. Das Komitee ist breit abgestützt. Für mich ist die Impfung ein Weg, um aus der Pandemie herauszukommen. Aber es braucht ein Ziel. Es wurde ja einmal gesagt, wenn 80 Prozent geimpft seien, könne man öffnen. So wie der Bundesrat im Moment funktioniert, habe ich meine Zweifel, ob er sich daran halten würde. Aber irgendeinmal müsste man ein Signal spüren. Wenn das Volk mit Sicherheit wüsste, dass der Bundesrat bei 80 Prozent öffnet, bin ich überzeugt, dass sich noch einige impfen liessen und mithelfen würden, dass man auf diese 80 Prozent kommt. Aber dann muss etwas passieren.
HS: Das sehe ich auch so. Damit die Bevölkerung ein Ziel vor Augen hat, muss es festgelegte Lockerungen geben, wenn die Impfquote die noch zu definierende Prozentzahl erreicht hat. Den Impfgegnern sage ich: «Denk daran, das Virus kann jede Person treffen, ohne Impfung kann es dich härter treffen.»

Und wenn sich die Situation verschärft, wenn die Fallzahlen steigen?
HS:
Wenn die Fallzahlen wieder steigen, müssen wir wieder mit mehr Einschränkungen rechnen. Aber das Problem sind die Spitaleinweisungen. Wie können wir die Situation in den Griff bekommen, wenn der Anteil an Covid-Patienten auf den Intensivstationen zu gross wird? Triage ist für mich keine Lösung. Jede Person muss sich so gut wie möglich schützen.
EvS: Wenn man das Covid-Gesetz ablehnt, sind ja nicht alle Massnahmen ausgehebelt. Maskentragen im ÖV, Abstand halten, Händehygiene usw. bleiben. Es ist das Zertifikat, das die Emotionen hochgehen lässt.
HS: Mein oberstes Ziel ist es, die Pandemie zu überwinden, und zwar mit vernünftigen Einschränkungen, damit wir mit dem Covid-Zertifikat Freiheiten zurückerhalten und keinen Lockdown sowie massive Probleme für den Tourismus und für unsere Wintergäste riskieren.
EvS: Natürlich kann man proklamieren: «Lasst euch impfen!» Aber wenn man zunehmend Türen schliesst, schürt das bloss noch mehr Emotionen. Jetzt hat man Gelegenheit, ein Nein einzulegen, damit sich das Parlament und der Bundesrat einmal mehr überlegen müssen, wie man die Massnahmen weiterführen kann, ohne das Volk so einzuschränken, zumindest jene, die eine Impfung nicht als Lösung sehen.


ÄNDERUNG VOM 19. MÄRZ DES COVID-19-GESETZES

Über das Covid-19-Gesetzt wurde bereits einmal abgestimmt, nachdem gegen die Fassung vom 25. September 2020 das Referendum ergriffen worden war. 60 Prozent der Stimmberechtigten stimmten dem Gesetz am 13. Juni 2021 zu. Auch gegen die Änderungen vom 19. März 2021 wurde das Referendum ergriffen Deshalb kommt es am 28. November zur Abstimmung. Die Abstimmung bezieht sich nur auf die Änderungen.

Werden diese vom Stimmvolk abgelehnt, treten sie am 19. März 2022 ausser Kraft. Die restlichen Bestimmungen bleiben unabhängig vom Abstimmungsergebnis in Kraft. Bundesrat und Parlament empfehlen das Gesetz zur Annahme. Im Ja-Komitee vertreten sind FDP, SP, Mitte, EVP, Grünliberale und Grüne sowie verschiedene Organisationen wie Seilbahnen Schweiz, der Schweizerische Gewerbeverband, economiesuisse.

Im Nein-Komitee engagieren sich die SVP, die junge SVP und EDU sowie verschiedene Gruppierungen wie die Freunde der Verfassung, das Aktionsbündnis Urkantone, Alethia.

PD/ANITA MOSER

Quellen: Abstimmungsbüchlein https://covidgesetz-nein.ch,
https://covid19gesetzja.ch


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote