Mehr Sicherheit für die Holzarbeiter

  26.11.2021 Gstaad

Um Arbeitsunfälle im Wald zu verhindern, gilt ab 1. Januar 2022 die Kurspflicht für Waldarbeiter ohne Berufsausbildung. Dass Bäumefällen ein komplexes Unterfangen ist, zeigt ein Besuch im Wald.

BLANCA BURRI
In den holzverarbeitenden Betrieben der Schweiz kommt es jährlich zu rund 12’000 Arbeitsunfällen, schreibt die SUVA. Um Unfällen vorzubeugen, hat die Eidgenössische Koordinationskommission für Arbeitssicherheit (EKAS) 2017 verbindliche Richtlinien verabschiedet. Mit einer Übergangsfrist von fünf Jahren treten sie am 1. Januar 2022 in Kraft. Doch was bedeutet das für Personen, die im Wald tätig sind?

Ausbildung durch Wald Schweiz
Alle Personen, die im Auftragsverhältnis Waldarbeiten ohne Berufsbildung als Forstwartin oder Forstwart ausführen, müssen einen Kursnachweis vorlegen, wenn sie von Dritten engagiert werden. Das gilt beispielsweise für Landwirte, aber auch für Angestellte und Lernende in der Landwirtschaft ebenso wie für Personen aus anderen Bereichen. In der Praxis müssen alle, die mit der Kettensäge im Wald arbeiten (nicht nur Auftragnehmer) einen Nachweis von Kurs E29 erbringen – ausser Forstwarte. Denn das Arbeiten mit der Kettensäge gilt als Arbeit mit besonderen Gefahren und unterliegt der Verordnung über die Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten. «Wer die Kettensäge bedient, ohne diesen Kurs absolviert zu haben, muss bei einem Unfall mit Konsequenzen beim Unfalltaggeld rechnen», hält Hans Lehmann fest. Er ist Forstunternehmer und Kursleiter für Wald Schweiz, dem Verband der Waldeigentümer. Hans «Housi» Lehmann ist spezialisiert auf die Gebirgsholzerei. Kein Wunder also fand der Kurs in einem sehr steilen Waldstück im Flüemad statt. Dort bildete Hans Lehmann vergangene Woche fünf einheimische Männer weiter. Darunter befanden sich Landwirte und Werkhofmitarbeiter der Gemeinde Saanen. «Alle weisen ein hohes Fachniveau aus, jedoch haben sie unterschiedlich viel Praxiserfahrung», beurteilt Lehmann ihre fachliche Qualifikation.

Einschätzen und beurteilen vor Sägen
Den Hauptfokus legte der Kursleiter auf den praktischen Teil: das Beurteilen eines Baumes, der gefällt werden muss. Neben dem fachgerecht gewarteten Arbeitsmaterial und sicherer Bekleidung ist das «Ansprechen» nämlich Grundvoraussetzung für einen unfallfreien Holzertag. Ansprechen heisst betrachten, einschätzen und beurteilen. Der Holzfäller stellt sich Fragen wie: Steht der Baum gerade? Hat er Zug? Beispielsweise, wenn er schräg steht oder nur auf einer Seite Äste trägt. Welche Fälltechnik wähle ich? Wohin soll der Baum fallen? Gibt es Gefahren wie morsche Bäume, Steinschlag? Wie steht es um die Sicherheit von Gebäuden, Strassen und Wanderwegen? Das Beantworten dieser Fragen führt zum Entscheid, mit welcher Schnitttechnik der Baum gefällt wird und wohin er fallen soll.

Millimeterarbeit mit der Kettensäge
Im Flüemad wurden mehrere Bäume gefällt, ein Paradebeispiel sei hier kurz erwähnt. Im Holzschlag lag ein Baumstamm horizontal in den Baumwipfeln, er war vielleicht bei einem Sturm umgefallen. «Unter einer Gefahrenquelle wie dieser wird nicht gearbeitet!», schärfte der erfahrene Housi Lehmann den Männern ein. Deshalb sollte der morsche Querbaum beseitigt werden. Eine Fichte stand rund 20 Meter oberhalb des Querbaums. Die Fichte sollte gefällt werden und ebenfalls den Querstamm zu Boden reissen und damit die Gefahrenquelle eliminieren. Kursteilnehmer Armin Müllener und seine Motorsäge führten diesen Auftrag in wenigen Minuten aus – konzentriert und millimetergenau. Erst halte ein Warnruf, dann dröhnte die Säge und schliesslich wurde es still, als die beiden Männer – Armin Müllener und Kursleiter Housi – zum sicheren Rückzugsort rannten. Für ein paar Sekunden fühlte es sich an, wie es im Auge eines Hurrikans sein muss: spannungsgeladen geräuschlos. Die Tanne schien sich nicht zu bewegen. Nur ganz langsam neigte sie ihr Haupt zum Tal, bekam Fahrt und stürzte endlich krachend auf den Querbaum und schliesslich zu Boden. In den Baumwimpfeln wurde aufgeräumt: Es folgten Äste und Herbstblätter.

Note zwischen fünf und sechs
Schliesslich gings zum Debriefing. Anhand des Holzstrunks beurteilte Housi Lehmann die Qualitäten des Holzfällers. Er attestierte ihm eine grosse Erfahrung und mäkelte nur an Kleinigkeiten herum. Eine Sechs gab es für den Prüfungsbaum trotzdem nicht: «Es ist gefährlich, eine Sechs zu geben, das macht unvorsichtig, weil man das Gefühl bekommt, die Holzarbeiten zu beherrschen.» Im Wald dürfe man sich nie zu sicher wähnen, sondern immer aufmerksam bleiben. «Jeder Baum ist anders und braucht die volle Aufmerksamkeit!», warnte er. Neben den Erfahrenen seien auch die jungen Holzfäller mit wenig Erfahrung gefährdet. Housi Lehman sagte: «Zur Sicherheit gehört es auch, einmal das Handtuch zu werfen und zuzugeben, dass man einen Baum nicht fällen kann.»

Prüfungsexperte erhielt gute Noten
Der Forstunternehmer und Landwirt Armin Müllener besuchte den Fünftageskurs, weil er selbst Lernende ausbildet. Obwohl er Forstwart mit unzähligen Weiterbildungen ist, muss er in seinem Zweitberuf als Landwirt dafür den Kurs E29 vorweisen. Er belegte nicht nur den Kurs, sondern stellte auch den Holzschlag sowie den Traktor und weitere Arbeitsgeräte wie eine Seilwinde. Wie beurteilt er den Kurs? «Housi Lehman ist noch erfahrener als ich, ich konnte also einiges lernen.» Auch die anderen Kursteilnehmer gaben dem Ausbildner gute Noten. «Ich überlege mir nun noch besser, wie ich einen Baum fälle als bisher», sagte Adrian Aellen. Für die Gemeindearbeiter Peter Friedli und Kurt Jungen ist der Kurs besonders hilfreich: «Ohne Kurs E29 dürfen wir nur Bäume bis 15 Zentimeter fällen. Das ist nichts, besonders im Herbst oder Winter, wenn Bäume wegen Stürmen oder Schneelast auf die Strasse fallen. Dann dürfen wir die Strasse nicht selbst räumen.» Mit dem Kurs dürfen sie sie nun selbst fällen und wegschaffen. Vielleicht werden blockierte Strassen deshalb künftig noch schneller frei werden als bis jetzt.

 


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