Zum Corona-Medienstreit

  19.11.2021 Leserbriefe

Wird das permanente, realitätsfremde Gejammer über die angebliche «Diskriminierung, Ausgrenzung und Bevormundung» der Ungeimpften nicht langsam zur Zumutung für alle, die sich ernstlich darum bemühen, wieder einem einigermassen normalen öffentlichen Leben zum Durchbruch zu verhelfen? Impfgegner werden nicht von uns bedrängt, sondern zwingen uns Massnahmen auf, die wir ohne sie nicht bräuchten. Menschen, die es durchziehen, konsequent auf schulmedizinische Leistungen zu verzichten, nötigen mir zwar Achtung und Respekt ab. Doch nur ein ganz verschwindend kleiner Teil der Impfverweigerer sind wirklich solche. Die Art und Weise, wie hier das Sich-nicht-impfen-Lassen von Leuten als «körperliche Unversehrtheit» zelebriert wird, die sonst jede Menge von Medikamenten schlucken und sich für alles mögliche Spritzen verabreichen lassen, deren Nebenwirkungen sie vorher auch kaum kennen, grenzt an Zynismus. Und für eine Reise in ein tropisches Land unterziehen sie sich problemlos den erforderlichen Impfungen! Mit ihrer Behauptung, ein Impfzwang verstosse gegen unsere Bundesverfassung, «attestieren» sie ja auch unserer Armee ein seit über hundert Jahren verfassungswidriges Verhalten. Oder hat je ein Schweizer Soldat erlebt, dass ihm bei den zahlreichen obligatorischen Impfungen in RS und WKs ein verfassungsmässig garantiertes Recht auf «körperliche Unversehrtheit» zugestanden wurde?

Krankheiten wie Pocken oder Tuberkulose wären ohne Impfzwang in unseren Ländern wohl nie ausgerottet worden. Die Scharfmacher gegen die Corona-Massnahmen täten vielleicht gut daran, sich auch mal die geschichtlichen Fakten zu vergegenwärtigen. Meine Eltern waren aus religiösen Gründen auch Impfgegner. Doch ihnen wurde behördlich aufgezwungen, ihre Kinder gegen Pocken impfen zu lassen. Ich erinnere mich auch noch bestens, wie wir während meiner ganzen Schulzeit in regelmässigen Abständen im Schulhaus auf Tuberkulose getestet wurden. Und wer zu wenig Antikörper hatte, wurde (obligatorisch) nachgeimpft. Impffreiwilligkeit erlebte ich als Kind erstmals bei der Polioimpfung (Kinderlähmung). Als in den Fünfzigerjahren wieder eine Poliowelle das Saanenland heimsuchte, riefen die Behörden die Eltern auf, ihre Kinder in einer Gratisaktion impfen zu lassen. Der Schularzt kam dafür extra in die abgelegenen Schulhäuser. Nur zwei Familien in unserem Tal verboten ihren Kindern das Impfen. Eine davon war die unsere. Ein Jahr später wiederholten die Behörden diese Gratisaktion, doch kam der Arzt nun nicht mehr in die Schulhäuser. Weil unsere Eltern sich mittlerweile auch vom Impfen hatten überzeugen lassen, zottelten wir von-Siebenthal-Geschwister dann an einem schulfreien Nachmittag im Gänsemarsch nach Gstaad in die Arztpraxis. Als Doktor Greter uns sah, rief er aus: «Ah, das si jetz die, wo zerscht hei wele luege, ob i ihri Kamerade tüeji umbringe.»

Wenn sich ausser denen, die dies aus gesundheitlichen Gründen nicht dürfen, alle impfen liessen, bräuchten wir wohl im Inland in absehbarer Zeit keine strengen einschneidenden Vorschriften mehr. Es zeichnet sich aber immer deutlicher ab, dass diejenige politische Seite, die seit Jahrzehnten vor allem davon lebt, Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu beackern und noch zu schüren, auch in der Corona-Krise eine willkommene Möglichkeit sieht, parteipolitisches Kapital zu schlagen, und daher wenig Interesse zeigt, diese nachhaltig zu bekämpfen. Wenn ich all die Streitgespräche in den Medien zu diesem Thema verfolge, werde ich den Eindruck nicht los, dass sich gewisse nationale SVP-Parlamentarier erhoffen, Corona auch 2023 noch als nationales Wahlkampfthema nutzen zu können. Ein höchst fragwürdiges politisches Verantwortungsbewusstsein!
GOTTFRIED VON SIEBENTHAL, AESCHI B. SPIEZ


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