«Hört man denn je von einem Spital, das unbeschädigt geblieben ist?»

  08.02.2022 Interview

Der gebürtige Gstaader Benno Kocher arbeitet beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Wir haben ihn gefragt, wie Westeuropa Kriege im Nahen Osten beeinflussen kann und wie das IKRK von der Pandemie betroffen ist.

BLANCA BURRI

Benno Kocher, Sie arbeiten seit über 20 Jahren beim IKRK. Was hält Sie dort?
Zwei wesentliche Punkte halten mich beim IKRK: erstens, das Wissen, Teil von etwas sinnvollem Grösseren zu sein. Mit anderen Worten: Auch wenn ich nur eine kleine Rolle im globalen Netzwerk der Rotkreuz-Bewegung spiele, ist es ein dankbares Gefühl, an einer sinnvollen Tätigkeit beteiligt zu sein. Die Bewegung hat sehr positiven Einfluss auf die ganze Welt. Und zweitens hält jeder Tag Überraschungen bereit und es gibt immer wieder Neues zu entdecken.

Was genau sind Ihre Aufgaben als Verantwortlicher für Westeuropa?
Ich bin für die Beziehungen zu gewissen Ländern in Westeuropa zuständig, so zu Frankreich, dem Vereinigten Königreich und zu Deutschland. Ich arbeite eng mit unseren Büros in Paris und London sowie den Kolleginnen und Kollegen in Genf zusammen. Durch unseren regelmässigen Austausch versuchen wir Einfluss auf die humanitären Strategien und die Politik dieser Länder zu nehmen. Wir möchten erreichen, dass sie neutrale, unabhängige und prinzipientreue humanitäre Arbeit in Ländern, wo Krieg herrscht, unterstützen.

Meinen Sie ausschliesslich die Arbeit des IKRK?
Nicht nur. Ich denke auch an die Beiträge anderer Organisationen wie die der nationalen Rotkreuz-Gesellschaften. Zusätzlich gibt es einen entscheidenden Punkt, den wir immer wieder bearbeiten: Wir wollen einflussreiche westeuropäische Länder davon überzeugen, in Gesprächen und Operationen sicherzustellen, dass das humanitäre Völkerrecht auf der ganzen Welt respektiert wird. Ganz im Sinne der Genfer Konvention von 1949. Darin verpflichten sich die Unterzeichner, sich für die Einhaltung des Völkerrechts einzusetzen.

Verbuchen Sie Erfolge?
Nicht nur die Medien, sondern auch wir hören immer wieder in erster Linie von Verletzungen des Völkerrechts. Aber: Diese Berichte schliessen nicht aus, dass das Völkerrecht oft eingehalten wird. Hört man denn je von einem Spital, das unbeschädigt geblieben ist? Von einem Gefangenen, der korrekt behandelt wurde? Wohl kaum! Doch all diese einzelnen Elemente bilden die Grundlagen für nächste Schritte. Sie sind auf politischer Ebene die Basis für eine Annäherung und später für ein Friedensabkommen.

Wie können wir uns Ihre Arbeit konkret vorstellen? Gehen Sie beispielsweise mit einer Ministerin oder einem Minister zum Lunch?
Wie bereits erwähnt, ist meine Arbeit ein Teil von einem grossen Puzzle. Das IKRK spricht mit Staatsvertretern auf verschiedenen Ebenen: in Hauptstädten, in Botschaften vor Ort, an Konferenzen. Meine Arbeit besteht aus einem engen Dialog mit den ständigen Vertretungen in Genf, welche sich mit den Landesregierungen austauschen. Manchmal begleite ich unseren Präsidenten Peter Maurer auf eine Reise, beispielsweise nach Berlin, wo er sich mit Ministern trifft. Aber nein, Minister treffe ich leider nicht zum Mittagessen.

Früher waren Sie für das IKRK in Ländern wie Jemen oder Äthiopien unterwegs. War das eine wertvolle Vorbereitung für Ihre jetzige Arbeit?
Diese Erfahrungen in Ländern waren wichtig. Sie erlauben mir, die Arbeit auf diplomatischer Ebene mit konkreten Beispielen zu untermauern, also mit dem, was in den Krisengebieten wirklich geschieht. Vertreter des IKRK sprechen im UNO-Sicherheitsrat und erzählen von ihren Erfahrungen beispielsweise an der Frontlinie von Jemen oder vom Nordosten Syriens, wo sie wenige Tage zuvor noch die Lage vor Ort beobachtet haben. In der Diplomatie zu verstehen zu geben, was man persönlich in umkämpften Gebieten gesehen und erfahren hat, ist wichtig und dies können sonst nur ganz wenige Akteure tun.

Viele Gebiete sind umkämpft und schwierig zugänglich. Weshalb kann das IKRK vor Ort sein?
Weil es sich die Akzeptanz aller Kriegsparteien tagtäglich erarbeitet. Eine Fahne mit rotem Kreuz zu zeigen, reicht in der heutigen polarisierten Welt nicht mehr aus, um Zugang zu Krisengebieten zu erhalten. Damit uns dieser humanitäre Raum auch in Zukunft erhalten bleibt, müssen wir seine Gestaltung beeinflussen. Wir machen dabei auch vor neuen Fragestellungen nicht halt: Kann man ein Spital im digitalen Bereich schützen? Wie wendet man das humanitäre Völkerrecht im Cyberspace an?

Die Arbeit des IKRK in Westeuropa ist wenig bekannt. Weshalb?
Die diplomatische Arbeit in der Öffentlichkeit darzustellen ist in der Tat nicht ganz einfach, da wir ja nicht über den Inhalt der Gespräche berichten wollen, denn das würde Verhandlungen gefährden. Anders sieht es mit der Arbeit in Krisengebieten aus: Die vom Krieg betroffenen Personen leben zum allergrössten Teil in Ländern, von denen in den Medien tagtäglich berichtet wird, so beispielsweise in Syrien, Südsudan, Äthiopien, Myanmar, der Ukraine und vielen mehr. Um unser diplomatisches Handeln besser bekannt zu machen, müssen wir gezielter über unsere Arbeit dort berichten.

Ist es einfach, Geldgeber zu finden?
Wie alle humanitären Organisationen ist auch das IKRK von Geldern abhängig. Da das IKRK keine Mitgliedsorganisationen hat, sind diese Gelder freiwillig. Dies bedingt auch, dass wir jedes Jahr weltweit auf Staaten zugehen und sie bezüglich Gelder anfragen. Staaten finanzieren mehr als 90 Prozent unserer Ausgaben. Private Geldgeber weiss das IKRK auch sehr zu schätzen, da uns diese aus persönlicher Überzeugung unterstützen und dem IKRK ermöglichen, noch weitere Programme umzusetzen. Auch hier müssen wir auf sie zugehen.

Welchen Teil Ihrer Arbeit muss man sich unbedingt merken oder vielleicht auch finanziell unterstützen?
Gute Frage, die schwierig zu beantworten ist, denn um vom Krieg betroffenen Personen zu helfen, muss man die Probleme in den Regionen ganzheitlich angehen. Eine Stärke des IKRK ist, dass wir Betroffenen in vielen Bereichen helfen, oft gemeinsam mit der nationalen Rotkreuz- oder Rothalbmond-Gesellschaft. Das IKRK ist in vielen langandauernden Konflikten präsent, zum Teil weit länger als 30 Jahre, was auch bedeutet, dass wir die humanitäre Arbeit langfristig planen müssen. Auch sind heute – mehr als früher – Städte vom Krieg betroffen, wo das Überleben von Wassersystemen, der Energieversorgung und Gesundheitssystemen abhängig ist. Diese zu erhalten und zu unterstützen ist effizienter als ein paralleles System zu errichten. Kurz gesagt: Die finanzielle Unterstützung unserer Geldgeber fliesst sowohl in Notversorgung wie auch in längerfristige Projekte oder ins Training zum Völkerrecht. Denn am besten ist es immer, wenn das humanitäre Völkerrecht eingehalten wird.

In unserer sicheren Schweiz vergessen wir manchmal, dass wir Waffen herstellen und exportieren. Wie gehen Sie damit um?
Zunächst einmal muss ich feststellen, dass das IKRK keine Friedensorganisation ist. Es ist eine Tatsache, dass es in Konfliktgebieten zahlreiche Waffen gibt. Es ist schwierig, sicherzustellen, dass diese nicht im Krieg eingesetzt werden. Deshalb sollten Waffen nur mit Zurückhaltung exportiert werden.

Sanktionen sind immer wieder beliebte Mittel, um Regime gefügig zu machen. Sie sind aber auch ein zweischneidiges Schwert. Einerseits wird die Handlungsfähigkeit einer Regierung beschränkt, andererseits treffen sie die Zivilbevölkerung direkt, sie fördern den Schwarzmarkt und so weiter.

Was ist Ihre Meinung zu Sanktionen?
Sanktionen sind zwar nach wie vor ein legitimes politisches Instrument, aber das IKRK muss, wie auch andere humanitäre Organisationen, weiterhin in der Lage sein, vor Ort zu arbeiten. Unsere Geber, Lieferanten und Banken würden sich ebenfalls beruhigt fühlen, wenn unsere Aktivitäten ausdrücklich von Sanktionen ausgenommen wären.

Noch ein Wort zu Corona: Bietet das IKRK eigene Impfaktionen in Krisengebieten an?
Das IKRK konzentriert sich auf die humanitären Auswirkungen von Konflikten. Diese werden durch den Klimawandel zunehmend verschärft und die Lebensgrundlagen der Menschen sind bedroht. Die Coronapandemie ist ein zusätzlicher erschwerender Faktor, der die Menschen in Krisengebieten noch verwundbarer macht. Wir unterstützen Gesundheitsministerien in der Bewältigung der Pandemie dort, wo es notwendig und möglich ist. Beispielsweise in Regionen, wo die Ministerien keinen Zugang haben. Wir unterstützen sie beim Transport von Medikamenten oder beim Verhandeln über einen Zugang für staatliches Gesundheitspersonal.

Was ist die besondere Herausforderung der Pandemie?
In vielen Ländern ist Corona eine Krankheit unter vielen anderen – und eines von vielen anderen Problemen, auf das man sich lange nicht so stark konzentrieren kann wie in den Industriestaaten. Anders gesagt, auch wenn man Covid-19 bekämpfen muss, so darf dies beispielsweise nicht auf Kosten von Impfungen gegen Masern gehen, denn sonst verschieben wir das Problem einfach. Oft löst die Coronapandemie eine ökonomische Krise aus, denn nur in wenigen Ländern gibt es staatliche Nothilfen. Es stellen sich viele Fragen. Hier ein Beispiel: Wie verdient eine Familie heute ihr Geld, die auf dem lokalen Markt landwirtschaftliche Produkte verkauft hatte, wenn es diesen Markt wegen des Ausgangsverbots nicht mehr gibt?

Schränkt Corona die Arbeit des IKRK ein?
Die Welt lernt jeden Tag besser mit Corona zu leben. So auch wir vom IKRK. Das Wichtigste ist, dass wir weiterhin die Menschen treffen können, die vom Krieg betroffen sind, um sie zu unterstützen. Das hat bisher gut geklappt. Viele Treffen finden heute virtuell statt, das erschwert manchmal leider die informelle – aber eigentlich sehr wichtige – Kontaktpflege.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was wünschten Sie sich?
Weniger Arbeit fürs IKRK und mehr Bewusstsein, dass wir in Europa nicht auf einer Insel leben. Viele Kriege auf dieser Welt können mit unserer Mithilfe gelöst werden. Sollten sie weiterhin andauern, so werden auch wir immer stärker davon betroffen sein.


ZUR PERSON

Benno Kocher ist in Gstaad aufgewachsen. Seine Eltern führten ein Uhren- und Bijouteriegeschäft an der Promenade. Nach der Schulzeit absolvierte er eine Lehre als Kaufmännischer Angestellter bei der Vereinigung der Bergbahnen. Danach studierte er Geisteswissenschaften. Heute lebt der 53-Jährige in Rolle, ist verheiratet und hat eine Tochter. Zurzeit arbeitet er am Hauptsitz des IKRK in Genf, wo er für Beziehungen zu verschiedenen Ländern Westeuropas zuständig ist.


DIE FÜNF GRÖSSTEN OPERATIONEN DES IKRK

1. 176,0 Mio. Franken: Syrien
2. 146,8 Mio. Franken: Afghanistan
3. 134,0 Mio. Franken: Jemen
4. 116,8 Mio. Franken: Südsudan
5. 100,8 Mio. Franken: Irak

42% des Gesamtbudgets wird für Afrika eingesetzt, gefolgt vom Nahen und Mittleren Osten.


WAS IST DAS IKRK?

Das IKRK, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, ist eine unparteiliche, neutrale und unabhängige Organisation, deren ausschliesslich humanitärer Auftrag es ist, Leben und Würde von Opfern bewaffneter Konflikte und sonstiger Gewaltsituationen zu schützen und ihnen Hilfe zu leisten. Seinen Hauptsitz hat es in Genf und betreibt in Westeuropa drei Aussenbüros: London, Paris und Brüssel. Das Büro in London deckt neben Grossbritannien auch Irland ab. Die Mitarbeitenden in Paris sind ebenfalls für Spanien, Italien, Portugal, Malta, den Vatikan, San Marino, Andorra und Zypern verantwortlich. Insgesamt arbeiten etwa 60 Personen in diesen Büros. Haupttätigkeiten des IKRK: Familienzusammenführung, Gefangenenbesuche, Identifikation von Vermissten, Schutz der Zivilbevölkerungen, Unterstützung von Spitälern, Lieferung von Nahrungsmitteln, Unterstützung durch Bargeld, wo der Markt dies erlaubt, Instandhalten von Wassersystemen ganzer Städte, Kurse zum Völkerrecht für Armeen oder nichtstaatliche bewaffnete Gruppen, humanitäre Diplomatie.

Das IKRK in Zahlen
21’400 Mitarbeitende
100 Delegationen und Missionen
100 Länder


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