Dauerstress in einer Welt der Reizüberflutung

  18.02.2022 Interview

SONJA WOLF

Ada van der Vlist Walker, Sie sind Organistin …
Entschuldigung, dass ich gleich unterbreche. Könnten wir uns bitte duzen? Unter «Frau van der Vlist» verstehe ich meine Mutter und beim «Sie» fällt es mir schwer, es auf meine Person zu beziehen.

Selbstverständlich. Ada, du bist Organistin bei mehreren Kirchengemeinden, Chorleiterin, gibst Privatunterricht in Orgel und Klavier und bist Autistin. Stellt dich das in deinem täglichen Leben manchmal vor Schwierigkeiten?
Ja. Ich habe den High-Functioning-Autismus. Das bedeutet, ich habe unter anderem Probleme damit, die Gesichter anderer Menschen zu lesen, Gesprächen zwischen mehreren Menschen zu folgen und allgemein Strukturen und Arbeitsabläufe zu verstehen. Auch kleine Dinge des täglichen Lebens fallen mir schwer wie Bankgeschäfte, Steuererklärungen oder die modernen Medien: Da strömt zu viel auf einmal auf mich ein. Die Reizüberflutung generell ist mein Hauptproblem: Wenn nur im Zug jemand sein Pausenbrot auspackt oder sich im Gottesdienst Besucher leise miteinander unterhalten… Andere Menschen können unwichtige Randgeräusche ausblenden, ich nicht. Das heisst, alle Geräusche, Lichter oder Gerüche strömen ungefiltert gleich stark auf mich ein und zehren an meiner Energie. Es ist ein riesiger Stressfaktor. Ich muss mich gut vorbereiten, bevor ich aus dem Haus gehe und bin komplett ausgepowert, wenn ich zurückkomme.

Hast du Hilfe, die du in Anspruch nehmen kannst?
Ja, ich habe einen Psychiater, mit dem ich einmal im Monat rede. Es ist übrigens der Schwiegersohn von Hans Asperger, nach dem das Asperger-Syndrom benannt ist. Er erklärt mir Dinge im Zusammenhang mit Menschen, die ich missverstanden habe. Würden sich Menschen immer nach festen Regeln verhalten wie etwa im Strassenverkehr, wäre das Leben für mich viel einfacher.

Und wer hilft dir im täglichen Leben?
Da gibt es viele Menschen, die vielleicht keine ASS-Experten sind, aber sich trotzdem gut in mich hineinversetzen können. Die erklären mir dann die Zusammenhänge in meinem Umfeld und die Reaktionen der Mitmenschen. Marianne Kellenberger ist für mich so eine «Übersetzerin», das kann aber auch eine Sekretärin im Pfarrhaus oder eine Angestellte bei der Bank sein. Ich lerne inzwischen immer besser, an wen ich mich wenden kann.

Wann bist du diagnostiziert worden?
2007, ich war damals schon 46 Jahre alt. Da habe ich dann den Namen für meine Schwierigkeiten erfahren und endlich verstanden, warum ich so bin, wie ich bin.

Wie war das vor der Diagnose? Bist du einfach als «seltsam» abgestempelt worden?
Ja, aber das war in meinem Fall kein Problem. In meiner Familie häufen sich die Autismusfälle. Mein Grossvater hatte schon zwei autistische Brüder und meine Mutter hatte gleich fünf Autisten zu betreuen: meinen Vater, mich und meine drei Geschwister, wobei die Auffälligkeiten bei mir am ausgeprägtesten waren. Meine Mutter hat uns die Sicherheit gegeben, die wir gebraucht haben, nämlich ein festes Tagesprogramm und die nötige Strukturierung der Alltagsaufgaben. Aber generell wurden auffällige Menschen damals in den 60er- und 70er-Jahren, als ich ein Kind war, einfach integriert. Auch wenn die Person nicht sprach und physisch Abstand hielt, so wie ich.

Der High-Functioning-Autismus geht ja oft mit einer verzögerten Sprachentwicklung einher. Wann hast du sprechen gelernt?
Ich habe bis zum Studium bis auf «Ja» und «Nein» nicht wirklich mit anderen Menschen gesprochen. Dann habe ich Sätze auf Zettel geschrieben und anderen gegeben. Eigentlich habe ich das Sprechen über das Schreiben gelernt. Und Smalltalk mit anderen Menschen, was ich übrigens immer noch nicht gut kann, habe ich durch die Lektüre von historischen Romanen gelernt. Die Fakten darin konnte ich ja verstehen. Und die Gespräche zu den Ereignissen habe ich auf Zettel geschrieben und sozusagen als Versatzstücke auswendig gelernt. In ähnlichen Situationen im richtigen Leben hatte ich sie dann parat. Dabei ist es aber oft auch zu missverständlichen Situationen gekommen und ich habe Menschen zum Lachen gebracht – oder auch verärgert…

Ich sehe, die Autismus-Spektrum-Störung verlangt viel Vorbereitung und Anpassungsfähigkeit von deiner Seite und Verständnis von den Mitmenschen.
Ja, Verständnis und Hilfsbereitschaft tun sehr gut. Und mehr Aufklärung über die ASS hilft, dass Menschen nicht verärgert sind, wenn ich etwas falsch mache oder falsch interpretiere. Ich mache es ja nicht mit Absicht!


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