Falsches Label «Modekrankheit Autismus»

  18.02.2022 Interview

«Jedes Chind bocket zwüsche düri, das isch ganz normal», hört man von Eltern und Lehrpersonen häufig. Das mag generell stimmen, lässt sich auf Kinder oder Jugendliche mit der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) aber nicht so einfach anwenden. Bei ihnen handelt es sich um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die nicht einfach von heute auf morgen verschwindet. Auch erwachsene Autisten scheinen nicht ins genormte gesellschaftliche Raster zu passen und erleben häufig Stigmatisierung. «Die sollen mal nicht so schwierig tun», müssen sich Betroffene anhören. Viele versuchen, eine Rolle zu spielen, um sich anzupassen, scheitern aber dennoch. Nicht selten kommt es zu Depressionen. Staatliche Unterstützung für Menschen mit ASS und deren Angehörige gebe es noch zu wenig, finden Pfarrerin Marianne Kellenberger und Vera Steiner, Mutter eines betroffenen Kindes – und gründeten eine Interessensgruppe ASS.

SONJA WOLF

Frau Steiner, Sie sind Mutter eines Kindes mit ASS.
Vera Steiner (VS):
Ja, unsere ältere Tochter ist ein Asperger-Kind. Sie ist jetzt elf Jahre alt und geht in die fünfte Klasse.

Wann haben Sie diese Entwicklungsstörung zum ersten Mal bemerkt?
VS:
Als sie drei Jahre alt war, begannen die Probleme: Je mehr ich sie erziehen wollte, desto mehr hat sie sich abgekapselt. Sie hatte eine imaginäre Freundin Silvia, antwortete oft mit «Silvia will nicht» und wenn sie etwas besonders stark ablehnte, schlug sie sogar mit ihrem Kopf gegen die Wand.

Haben Sie versucht, sich professionelle Hilfe zu holen?
VS:
Ja, ich habe zunächst bei der Mütter-Väter-Beratung hier in Saanen angefragt. Diese hat mir die Elternberatung in Spiez empfohlen. Dort bin ich aber scheinbar an einen nicht sehr engagierten Mitarbeiter geraten, der mir nur empfohlen hat, ich solle mich nicht in etwas hineinsteigern und ab und zu einen Kaffee mehr trinken.

Nicht sehr hilfreich …
VS:
Nein, natürlich nicht. Ich habe mich dann an eine Kinesiologin gewandt. Sie hat unsere Tochter behandelt und mir geraten, sie mit weniger Anordnungen und Pflichten zu belasten. Das hat auch kurzfristig ein wenig geholfen. Die nächsten Probleme kamen dann aber bei der Einschulung mit vier Jahren.

Was waren diese Probleme?
VS:
Wird die Belastung innerlich zu gross, blockiert das ganze System unserer Tochter und sie wird entweder ausfällig oder zieht sich zurück. Warum haben wir ja zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst. Darum habe ich den Lehrpersonen bei der Einschulung gesagt, dass unsere Tochter «speziell» ist. Mit viel Einfühlungsvermögen vonseiten der Lehrpersonen ging das sehr lange gut, aber nach und nach kamen die vorhandenen Defizite an die Oberfläche.

Zum Beispiel?
Viele Asperger-Kinder sind sehr intelligent, kommen aber mit den traditionellen Techniken in der Schule nicht klar, sie haben strukturelle Probleme. Beispielsweise bekommt unsere Tochter ein vollgeschriebenes Blatt vorgelegt und scannt zuerst einmal alles, ohne zu wissen, wo genau sie anfangen soll. Irgendwann später sprachen uns die Lehrer darauf an und empfahlen uns professionelle Hilfe wie zum Beispiel die Elternberatung in Spiez … «Nicht schon wieder mehr Kaffee trinken!», dachte ich mir, versuchte es aber ein zweites Mal dort. Dieses Mal gelangte ich glücklicherweise an eine sehr kompetente Beraterin und wurde ernst genommen. Wir bekamen eine Vordiagnose und wurden schliesslich an die Jugendpsychatrie in Spiez verwiesen. Dort leistete man eine vollumfängliche Abklärung und wir bekamen die Diagnose Asperger.

Wie alt war Ihre Tochter da?
VS:
Inzwischen bereits sieben Jahre und in der zweiten Klasse. Aufgrund der Diagnose konnten dann wenigstens umgehend die kantonalen Förderungsmassnahmen beantragt werden und zusammen mit dem Start in die dritte Klasse beginnen.

Wie sehen die Fördermassnahmen aus?
VS:
Dank der Diagnose bezahlt der Kanton vier bis fünf Extralektionen jede Woche, in denen unsere Tochter zusammen mit einer Heilpädagogin der IBEM (Integration und besondere Massnahmen, Anm. d. Red.) den Schulstoff anschauen kann, den sie aufgrund ihrer ASS-Beeinträchtigung nicht bewältigen kann. Schnell hat sich aber herausgestellt, dass unserer Tochter weniger der Stoff fehlt, sondern eher eine schulische Bezugsperson, bei der sie Probleme und Frustrationen abladen kann, die sich während der Woche angestaut haben. Denn viele Asperger-Autisten, besonders Mädchen, bemühen sich ständig um Anpassung, weil sie integriert sein möchten. Das funktioniert je nach Ausprägung ihres ASS-Sydroms mal besser, mal weniger gut, und führt nicht selten zu Frust.

Hat Ihre Tochter den Lehrern und Mitschülern die Diagnose mitgeteilt?
VS:
Unsere Tochter kommuniziert sehr offen. Als sie nach den ersten vier Jahren im gleichen Klassenverband in eine neue Klasse mit neuen Lehrern und Mitschülern kam, hat sie zusammen mit der Heilpädagogin vor der Klasse einen kleinen Vortrag gehalten und über ihre Form von ASS informiert. Auch jetzt in der fünften Klasse hat sie selber diesen Vortrag für die neuen Mitschüler und Lehrpersonen wiederholt. Die Reaktionen waren und sind sehr gut und durchwegs positiv.

Gibt es ausser den heilpädagogischen Lektionen Hilfe von der Invalidenversicherung?
VS:
Nein. Man bekommt die Diagnose und die Aufgleisung der speziellen Lektionen und wird dann relativ allein gelassen. Die IV greift bei Bedarf erst wieder bei der Berufswahl helfend ein. Wir mussten selber herausfinden, welche Angebote wo zur Verfügung stehen. Beispielsweise sind wir im letzten Jahr alle zwei Wochen nach Bern zu einer Gruppentherapie gefahren, die von der Nathalie-Stiftung angeboten wird, damit unsere Tochter Sozialkompetenzen lernt. Das haben wir alles selber bezahlt.

War die mangelnde Wegweisung von Seiten der Behörden der Grund, warum Sie sich für eine Selbsthilfegruppe ASS im Saanenland einsetzen?
VS:
Ganz genau! Unsere Reise war zu Beginn ein wirkliches Abenteuer! In der Schweiz ist das Autismus-Thema noch am Wachsen. Es gibt keinen Leitfaden, wie man vorgehen muss oder an wen man sich wenden kann. Jeder Kanton und jede Region organisiert etwas anderes. Man muss sich alles selbst erarbeiten und viel ausprobieren. So gehen wichtige Jahre verloren, in denen das Kind schon gefördert und die Eltern entlastet werden könnten. Und dabei können wir uns im Saanenland schon glücklich schätzen, dass wir die IBEM haben und die Gemeinde genügend finanzielle Mittel bereitstellt, diese zu unterhalten. In Regionen, die keine IBEM anbieten, müssen betroffene Kinder und ihre Eltern noch viel mehr Kraft aufbringen …

Wie genau kann die ASS-Selbsthilfegruppe Saanenland helfen?
Marianne Kellenberger (MK):
In so vieler Hinsicht! Sie soll das bieten, was Vera Steiner für ihre Tochter nicht hatte: Zunächst einmal eine Adresse und eine Telefonnummer für ASS-Fragen. Eine Anlaufstelle, an die man sich in jeder Etappe wenden kann. Zum Beispiel, um erste Informationen einzuholen: Hat mein Kind oder mein Freund ASS? Oder gar ich selbst? Wie gehe ich vor, um eine Diagnose oder langfristige Hilfe zu bekommen? Wir möchten gerne zu diesen Fragen einen Leitfaden mit Hilfestellungen und den adäquaten regionalen Anlaufstellen herausgeben.

Existiert diese Gruppe schon oder ist sie in Planung?
MK:
Die Idee war bereits im März 2020 da. Die Gruppe sollte sich damals formieren, aber dann kam der Lockdown dazwischen. Das heisst, wir konnten bisher hauptsächlich Vorarbeit leisten: Ich habe eine Facebook-Gruppe gegründet, die ASS Gruppe Saanenland, oder habe Menschen per Mail eingeladen. So kennen wir bereits viele, die an der Thematik interessiert sind. Durch die Pandemiesituation konnten wir aber bisher das Kernstück der Gruppenidee noch gar nicht realisieren: Wir möchten ein regelmässiges Autismus-Treffen einmal pro Monat anbieten. Das Kirchgemeindehaus würde dafür zur Verfügung stehen oder ein Besprechungsraum im Pfarrhaus. Was aber nicht bedeutet, dass die Gruppe konfessionell eingeschränkt ist! Im Gegenteil, alle sind willkommen, alle, die irgendwie mit ASS zu tun haben: Sei es, dass sie selbst betroffen sind oder jemanden in der Familie oder im Freundeskreis haben. Natürlich auch ohne jegliche Altersbeschränkung. Uns schwebt ein ungezwungener Austausch bei einer Tasse Kaffee vor. Im Moment sind die Leute noch vorsichtig mit solchen Treffen, aber entsprechend der weiteren Covid-Lage kommunizieren wir die Termine.

Wird es auch organisierte Veranstaltungen geben?
MK:
Ja, die Idee ist, dass neben dem lockeren Austausch auch Vorträge von Fachpersonen stattfinden. Ausserdem konnten wir bereits etwas organisieren, um die Situation der hiesigen Betroffenen zu erleichtern und ihnen zum Beispiel die vielen Wege nach Bern, Spiez oder in andere umliegende Städte zu ersparen: Auf Anregung von Vera Steiner und dank der Unterstützung durch die IBEM und die Gemeinde haben wir seit Anfang Jahr eine eigene Sozialkompetenzgruppe für ASS-Kinder hier im Saanenland. Die Nathalie-Stiftung stellt jemanden zur Verfügung, der für die Gruppentherapie regelmässig zu uns reist. Das war ein sehr schönes Weihnachtsgeschenk!

Wie kamen Sie als Pfarrerin dazu, die ASS-Gruppe mitzugründen und sich dafür zu engagieren?
MK:
Das Thema interessiert und berührt mich. Ich finde es inakzeptabel, wenn Kinder einfach als «schwierig» oder «bockig» abgestempelt werden. Aber auch die entgegengesetzte Sichtweise, alle schwierigen Kinder in einen Topf zu stecken und mit dem Label «Modekrankheit Autismus» zu versehen, stört mich. Es gibt so viele verschiedene Ausprägungen von ASS. Ich denke, unsere Gesellschaft braucht viel mehr Aufklärung, um jeden Menschen mit seinen individuellen Problemen zu akzeptieren!

Das tönt, als hätten Sie persönlich Erfahrung mit dem Thema.
Nur ein wenig. Ich habe einigen Kontakt zu Betroffenen, zum Beispiel in meiner Verwandtschaft. Ich arbeite auch sehr gerne mit Ada Van der Vlist (siehe Interview auf der nächsten Seite) zusammen. Eine sehr intelligente, liebenswerte Person, die vielleicht sozial manchmal nicht so interagiert wie es die Gesellschaft «erwartet», uns aber dafür mit ihrer Musik ein wunderbares Geschenk macht. Da ich selbst nicht unmittelbar betroffen bin, dachte ich, ich könnte meine Energie in das Projekt hineinlegen, um Unterstützungsarbeit zu leisten – sowohl administrativ als auch menschlich. So halte ich den Betroffenen den Rücken frei, die an ASS genug schwer zu tragen haben. Sie sollen nicht auch noch die Kraft aufbringen müssen, Räume, Vorträge, Kurse, Zeitungsartikel oder fb-Posts zu organisieren.

Kontakt für Betroffene, Unterstützende und Interessierte: Marianne Kellenberger: marianne. [email protected], Tel./Whatsapp 079 630 34 13; Vera Steiner: verac.steiner@bluewin. ch, Tel./Whatsapp 079 486 00 04; Facebook: ASS Gruppe Saanenland

Siehe auch das Interview mit einer Betroffenen auf der Seite 7.


WAS IST AUTISMUS?

Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. Diese tritt in der Regel vor dem dritten Lebensjahr auf und kann sich in einem oder mehreren der folgenden Bereiche zeigen:
– Probleme beim wechselseitigen sozialen Umgang und Austausch (etwa beim Verständnis und Aufbau von Beziehungen)
– Auffälligkeiten bei der sprachlichen und nonverbalen Kommunikation (etwa bei Blickkontakt und Körpersprache)
– eingeschränkte Interessen mit sich wiederholenden, stereotyp ablaufenden Verhaltensweisen
Aufgrund ihrer Einschränkungen benötigen viele autistische Menschen – manchmal lebenslang – Hilfe und Unterstützung. Autismus ist unabhängig von der Intelligenzentwicklung, jedoch gehört Intelligenzminderung zu den häufigen zusätzlichen Einschränkungen. Trotz umfangreicher Forschungsanstrengungen gibt es derzeit keine allgemein anerkannte Erklärung der Ursachen autistischer Störungen.

Laut WHO hat etwa eines von 160 Kindern eine Autismus-Spektrum-Störung, allerdings wird die Krankheit oft erst viel später diagnostiziert.

QUELLEN: WIKIPEDIA UND WHO


SUBTYPEN DES AUTISMUS

Bis Ende 2021 wurde im internationalen Klassifikationssystem ICD-10 zwischen verschiedenen Autismusformen unterschieden (etwa frühkindlicher Autismus, hochfunktionaler Autismus, Asperger-Syndrom). Seit dem 1. Januar 2022 hingegen wird nur noch von einer allgemeinen Autismus-Spektrum-Störung (ASS) gesprochen. Grund für diese Änderung war die zunehmende Erkenntnis in der Wissenschaft, dass eine klare Abgrenzung von Subtypen (noch) nicht möglich ist – und man stattdessen von einem fliessenden Übergang zwischen milden und stärkeren Autismusformen ausgehen sollte. Die Betroffenen in den Interviews wurden allerdings noch nach dem früheren Schema diagnostiziert und verwenden daher die entsprechenden Begriffe.

QUELLE: WIKIPEDIA


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