Sportler sollen die Spiele nicht boykottieren
04.02.2022 SportHeute, um 13 Uhr Schweizer Zeit beginnt die Eröffnungsfeier der olympischen Spiele. 93 Athleten und 75 Athletinnen aus der Schweiz treten in China an, einem Austragungsland, das in der Kritik steht. Eine Umfrage zeigt, weshalb sie trotzdem nicht boykottiert werden sollen.
BLANCA BURRI
Die offiziellen Bilder, die China verbreitet, könnten einem olympischen Hochglanzprospekt entspringen. Diese kontrastieren mit Bildern, die unabhängige Medien verbreiten. Zu Kritik geben diverse Aspekte Anlass, und zwar zu den Stichworten totalitäres System, Menschenrechte, Nachhaltigkeit. Man fragt sich, weshalb die Spiele aller Spiele in ein Land vergeben worden sind, das man bisher im Westen kaum mit Winter oder Wintersport in Verbindung gebracht hat. In den Bergen nördlich von Peking, wo die alpinen Wettkämpfe stattfinden, ist es zwar kalt, es fällt jedoch kaum Schnee. Deshalb wurden die neu angelegten Pisten wochenlang künstlich beschneit. Woher das Wasser stammt, ist unbeantwortet. Für die Skisprung- und Rodelwettbewerbe wurden Wettkampfstätten der Superlative aus dem Boden gestampft ohne Garantie für Nachhaltigkeit. Die Missachtung der Menschenrechte wiegt jedoch viel schwerer als die angezweifelte Nachhaltigkeit. Besonders in der Kritik steht das totalitäre System mit Weltmachtanspruch, das auch für den kulturellen Genozid der Uiguren verantwortlich ist. Die totale Kontrolle über das Volk wie in China ist demokratischen Ländern fremd. Der Staat verhindert bekanntlich auch die freie Medienberichterstattung.
Wettkampfblase unter dem Deckmantel Corona
Die Wettkämpfe sind blasenartig organisiert. Die Athleten werden von A bis Z beobachtet und kontrolliert. Sie pendeln nur zwischen den Unterkünften und den Wettkampforten, ohne je mit der Bevölkerung in Kontakt zu kommen. Die Spiele werden als die restriktivsten überhaupt bezeichnet. Es scheint, als ob China die Pandemie gerade recht kommt, weil sie all diese Massnahmen mit dem Corona-Schutzkonzept begründet. Im Westen wird bezweifelt, dass es ohne Pandemie anders wäre. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob die Sportlerinnen und Sportler die Spiele boykottieren sollten.
Spiele nicht boykottieren
Wir haben ehemalige, aktuelle und Nachwuchssportler die Frage gestellt, ob Athleten und Athletinnen die Spiele boykottieren und damit ein politisches Zeichen setzen sollten. Die Antwort dazu war eindeutig: Nein! «Jeder Spitzensportler weiss, wie viel es braucht, um selektioniert zu werden», sagt die 16-jährige Biathletin Lara Marti aus Gstaad. Praktisch nie gibt es Sportler wie Simon Amman, die in ihrer Karriere sieben olympische Spiele bestreiten können. Eine Spitzensportkarriere dauert rund 10 bis 15 Jahre und die Spiele finden nur alle vier Jahre statt. Die Chance, an Olympischen Spielen teilzunehmen, liegt eher bei einmal als bei viermal. «Und dann soll ein Sportler seine immense Arbeit einfach wegen der Politik zurückstellen?», fragt die ehemalige Beachvolleyballerin Mägi Kunz, ohne eine Antwort zu erwarten.
Jahrelanges Training für Olympia
Der grösste Traum der meisten Spitzensportler ist eine Olympiateilnahme und ist für viele der Hauptmotivator für das tägliche Training. «Die Sportler trainieren hart und fokussiert auf dieses Ziel hin», betont die Grunderin Mägi Kunz. Viele Dinge können sich in den Weg stellen: ein Formtief, eine Grippe oder eine Verletzung können den Traum zum Platzen bringen. So ging es beispielsweise der Beachvolleyballerin, die für Sydney 2010 selektioniert war, wegen einer Verletzung aber nicht hinreisen konnte.
Weshalb nicht boykottieren?
Weshalb können es sich die Athletinnen und Athleten nicht leisten, die Olympiade links liegen zu lassen? Sven Montgomery erklärt: «Die Olympiade ist entscheidend für den weiteren Verlauf der Karriere, für Verbandsbeiträge und Sponsorengelder.» Da die meisten Berufssportler wenig verdienen, sind die Olympischen Spiele und insbesondere die Medaillen ein Sprungbrett für bessere Verträge und höhere Verbandszuschüsse. Aus diesen Gründen würde keine/r der befragten Sportler:innen die diesjährigen Spiele boykottieren, hätte sich die Gelegenheit ergeben für eine Teilnahme. Ein Zeichen setzten die Sportler aber anders: Mägi Kunz beispielsweise reiste in den vergangenen Jahren als Zuschauerin an fast alle Spiele. Peking 2008 hat sie wegen den mit Füssen getretenen Menschenrechten boykottiert.
Unumstrittene Länder
Zu Boykotten kam es immer wieder. In Melbourne 1956 beispielsweise wurde gegen die Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn durch die Sowjets protestiert. In jüngster Vergangenheit wurde es stiller. Dafür gab die Nachhaltigkeit vermehrt zu reden, aber weil die Spiele oft in historischen Wintersportdestinationen stattgefunden haben, waren die Kritiker nicht so laut wie heuer in China. Ex-Snowboardprofi Roland Haldi ist froh, dass die Spiele in Vancouver nicht umstritten waren und er sich deshalb die Frage, ob er die Spiele boykottieren sollte, nicht stellen musste. Denn: «Der Sport war damals alles für mich.»
Sport nicht mit Politik mischen
«Man soll den Sport nicht mit der Politik mischen», betont Curler Stefan Karnusian. Im Gegenteil. Sport und insbesondere die Olympischen Spiele sollen Nationen verbinden, meint er. Selten genug treffen sich Sportler aus der ganzen Welt und aus verschiedenen Disziplinen an einem Ort. Deshalb sind die Erinnerungen derer, die einmal Teil der olympischen Familie waren, noch immer, als wäre es gestern gewesen. «Es war fantastisch, die Stimmung, die Stadt!», erinnert sich der Schönrieder Roland Haldi. Steffi von Siebenthal ergänzt: «Dort treffen sich alle Disziplinen und es geht um Fairplay.» Die Snowboarderin war 1998 in Nagano dabei und 2002 in Salt Lake City. Die Spiele sollen Völker verbinden, nicht trennen, wirft Ex-Rennskifahrer Bruno Kernen aus Schönried ein. Deshalb sei es sehr schlecht, dass man politische Themen auf dem Rücken der Sportler auszutragen versuche, ergänzt Mägi Kunz. Ex-Fechter Fred Labaune aus Gsteig begründet: «Aus Respekt gegenüber den Gegnern, den Trainerstäben und den internationalen Verbänden, die für die Einhaltung der Regeln ihres Sports und auch vor der Öffentlichkeit bürgen.» Sollten wirklich Sportler Einfluss nehmen, dann am ehesten jene, die schon alles erreicht haben oder kurz vor dem Rücktritt stehen, sagt Slalomspezialist Noel von Grünigen. Sie hätten bereits einen Namen, sichere Einnahmequellen und viel Einfluss. Er nennt Namen wie Roger Federer oder Simon Amman. Doch wer genau könnte aus Sicht der Sportler Einfluss auf die Austragungsorte nehmen?
Wer könnte etwas verändern?
«Gehört eine Winterolympiade wirklich nach China?», fragt Bruno Kernen, Kitzbühelgewinner 1983. Das Vergabekomitee, das Internationale Olympische Komitee (IOC), müsse Verantwortung übernehmen, sagen alle Angefragten. Sie verstehen nicht, dass in den vergangenen Jahren viele Grossevents in umstrittene Länder wie Russland, China und Katar vergeben worden sind. Die Sportler bringen Schlagworte wie Korruption ins Spiel und betonen, dass Länder, wo Menschenrechte mit Füssen getreten und Minderheiten unterdrückt werden, mit den Spielen Systempropaganda betreiben können. Auch das Wort Grössenwahnsinn fällt. Leider kommen solche Austragungsorte unter anderem deshalb zum Zug, weil sich viele traditionelle Orte nicht mehr bewerben. Nicht nur in München, sondern auch in der Schweiz hat sich das Volk gegen eine Bewerbung entschieden. Noel von Grünigen sucht Lösungen: «Eine Obergrenze des Budgets könnte helfen, die Infrastruktur in einem normalen Rahmen zu halten oder dass die Spiele an Orte vergeben werden, wo die Infrastruktur bereits steht.»
Gibt es auch Chancen?
Noel von Grünigen ist sich bewusst, wie fragwürdig und umstritten die Spiele in Peking sind, aber vielleicht bergen sie auch Chancen: «Wenn die Anlagen im Anschluss an die Austragung nicht wie in anderen Ländern vermodern, sondern nachhaltig genutzt werden, sind die Austragungsorte okay. Und ebenfalls wenn durch die Spiele ein Skiboom in China ausgelöst wird.» Davon könne auch die Wirtschaft des Westens profitieren, beispielsweise Skifirmen. Experten hoffen zudem, dass sich die Chinesen bald ihren Traum erfüllen, einmal in den Alpen Ski zu fahren, was dem Tourismus zugutekäme. Ob dies alles eintreffen wird, steht noch in den Sternen. Mit dem Beginn der Spiele rücken die politischen Forderungen nun in den Hintergrund. Seit heute geht es in der Berichterstattung in erster Linie um Sport und um Medaillen.
BEFRAGTE SPORTLER
– Noel von Grünigen, Schönried, Ski Alpin, Europa- und Weltcup, aktiv
– Roland Haldi, Schönried, Snowboard, Olympia Vancouver 2010, ehemalig
– Stefan Karnusian, Saanenmöser, Curling, Weltmeisterschaften Elite Cortina d’Ampezzo 2010, ehemalig
– Bruno Kernen, Schönried, Ski Alpin, 1983 Sieger beim Hahnenkammrennen in Kitzbühel, ehemalig
– Mägi Kunz, Grund, Beachvolleyball, Selektion Olympia Sydney 2000, ehemalig
– Fred Labaune, Gsteig, Fechten, Olympia Sydney 2000, ehemalig
– Lara Marti, Gstaad, Biathletin, Teilnehmerin Alpencup Pokljuka und Obertilliach, aktiv
– Sven Montgomery, ehemals Feutersoey, heute Köniz, Rennrad, 4. Tour de Suisse, ehemalig
– Steffi von Siebenthal, ehemals Saanenmöser, heute Zweisimmen, Snowboard, Olympia Nagano 1998 und Salt Lake City 2002, ehemalig