Ungewöhnlich – aber nicht abnormal
20.12.2024 NaturEnde Oktober 2024 wurden am Wasserngrat während eines Rissereignisses vier Lämmer durch einen Luchs gerissen (wir haben berichtet). Im Zusammenhang mit den Recherchen zu jenem Artikel tauchten noch einige Fragen auf. Jetzt äussert sich Christian Heeb vom Jagdinspektorat zu ...
Ende Oktober 2024 wurden am Wasserngrat während eines Rissereignisses vier Lämmer durch einen Luchs gerissen (wir haben berichtet). Im Zusammenhang mit den Recherchen zu jenem Artikel tauchten noch einige Fragen auf. Jetzt äussert sich Christian Heeb vom Jagdinspektorat zu diesem Vorfall.
BEITRAG VON: KEREM S. MAURER
Ein Luchs, der vier gerissene Lämmer liegen lässt, verhält sich nicht normal. Was ist da genau passiert?
Der gebietszuständige Wildhüter hat die Risssituation und die gerissenen Schafe vor Ort untersucht und kam aufgrund der eindeutigen Hinweise zum Schluss, dass der Verursacher ein Luchs war. Dass ein Luchs mehrere Tiere tötet, ist zwar nicht die Regel, kommt aber vor. Dies bestätigen Grossraubtierspezialisten der KORA, welche die Übersicht über die Rissvorfälle in der ganzen Schweiz haben. Das Rissverhalten des betreffenden Luchses ist zwar ungewöhnlich, aber ein abnormes Verhalten kann ihm nicht attestiert werden. Verlässt ein Beutegreifer seine Beute, bevor er sie gefressen hat, ist meistens Störung die Ursache, beispielsweise das Auftauchen von Menschen. Dieses Verhalten ist nicht ungewöhnlich.
Warum müssen Kadaver von gerissenen Nutztieren weggeräumt werden? Möglich, dass der Beutegreifer beim Fehlen der Beute neue Tiere reisst, ausserdem wären die Kadaver Futter für andere Tiere?
Es ist nicht möglich, Kadaver von Nutztieren liegenzulassen, damit der Beutegreifer seine Beute zu einem späteren Zeitpunkt verwerten kann. Nach dem Tierseuchengesetz müssen Nutztierkadaver fachgerecht entsorgt werden.
Warum liess der Wildhüter, obschon er von den getöteten Tieren Abstriche machte, keine DNA-Analyse durchführen?
Bei einem Nutztierriss werden in der Regel als erstes DNA-Proben genommen. Dies geschieht, bevor ein totes Tier genauer untersucht wird. So soll die Kontaminierung mit Fremd-DNA verhindert werden. DNA-Proben werden ausgewertet, wenn ein Wolf der Rissverursacher ist. Das Ziel der DNA-Analyse ist die Bestimmung des Individuums für das genetische Wolfsmonitoring. Ein solches besteht in dieser Art für den Luchs nicht, denn Luchsindividuen können aufgrund ihres Fellmusters identifiziert werden.
Der Riss dieser Tiere hat beträchtlichen Aufwand generiert, bis die Kadaver weggeräumt werden durften. Welche Hilfe erhält der Nutztierhalter zur Entlastung?
Das Melden von gerissenen Nutztieren ist Sache des Tierhalters. Wird durch die Wildhut ein grosser Beutegreifer als Verursacher festgestellt, werden die getöteten Tiere wie folgt entschädigt: a) Luchsrisse werden in jedem Fall entschädigt, b) Wolfsrisse werden in Tal-, Hügel-, und Bergzonen I und II entschädigt, wenn die Nutztiere ausreichend geschützt waren, in den Bergzonen III und IV sowie Sömmerungsgebieten in jedem Fall. Grundlage für die Entschädigung sind die offiziellen Abschatztabellen der Schaf- und Ziegenzüchterverbände.
Das Jagdinspektorat ist zuständig für das Sammeln von Indizien und Beweisen für die Anwesenheit von grossen Beutegreifern und die Entschädigung von Wildschäden. Der kantonale Herdenschutzberater des Inforamas Hondrich berät zum Herdenschutz, beurteilt die Schützbarkeit und den Herdenschutz im Falle von Angriffen durch grosse Beutegreifer.
Warum werden in der Region Simmental-Saanenland, wo überdurchschnittlich viele Luchse leben, auffällige Tiere nicht reguliert?
Weil Nutztiere selten durch Luchse gerissen werden, wird die Anwendung von flächendeckenden Schutzmassnahmen gegen Übergriffe von Luchsen für Nutztiere nicht als notwendig erachtet. In Gebieten mit wiederkehrenden, erhöhten Schäden müssen jedoch situationsspezifisch Massnahmen zur Prävention von Schäden ergriffen werden. Dass aufgrund des Einzelereignisses in Saanen alle Nutztierhalter in der Region verstärkte Schutzmassnahmen treffen sollen, ist nicht verhältnismässig. Dies bedeutet aber nicht, dass der Herdenschutz grundsätzlich vernachlässigt werden soll. Greifen die zumutbaren technischen Massnahmen zum Schutze von Kleinwiederkäuern, wie elektrifizierte Herdenschutzzäune, beim Luchs nicht, sind sie für den Schutz vor Wölfen dennoch zentral.
Wenn nichts unternommen wird, passiert im nächsten Jahr wieder das gleiche am selben Ort. Welche Massnahmen sind geplant?
Im Allgemeinen fallen die durch Luchse verursachten Nutztierrisse eher gering aus. Die meisten Luchse verursachen keine Nutztierschäden. In seltenen Fällen spezialisieren sich einzelne Luchse auf Nutztiere, reissen diese systematisch und werden als «Nutztierspezialisten» bezeichnet. Abschüsse von einzelnen Luchsen, die erheblichen Schaden an Nutztierbeständen anrichten, sind möglich, wenn es keine andere befriedigende Lösung gibt, die Entnahme dem Bestand der betreffenden Population nicht schadet und zuvor die zumutbaren Herdenschutzmassnahmen ergriffen wurden.
Es ist kaum zu glauben, dass Luchsrisse zurückgehen sollen, wenn die Population ständig steigt. Wie sehen die Luchsrisszahlen für die Region Obersimmental-Saanenland in den letzten Jahren aus?
Im Kanton Bern wurde im Jahr 2022 ein Nutztierspezialist, der Kuder B750, in Reichenbach erlegt. Die Luchsdichte im Grossraubtiermanagement-Kompartiment IVa Simme-Saane, zählt zu den höchsten in der Schweiz. Trotzdem bewegt sich im Obersimmental/Saanenland die Anzahl der Nutztierrisse durch Luchse auf tiefem Niveau. 2020: 0 Nutztiere; 2021: 1 Schaf; 2022: 6 Schafe; 2023: 2 Schafe; 2024 bis dato: 1 Ziege, 4 Schafe.
DAS ERGEBNIS DES SELBSTINITIIERTEN DNA-TESTS LÄSST WEITERHIN AUF SICH WARTEN
Philipp Brand veranlasste – nachdem der Wildhüter keine DNA-Analyse gemacht hatte, um den Beutegreifer zu identifizieren – selbst einen DNA-Test und wandte sich dafür an die von Nationalrat Thomas Knutti (SVP) präsidierte Vereinigung zum Schutz von Wild- und Nutztieren vor Grossraubtieren im Kanton Bern (wir haben berichtet). Thomas Knutti übermittelte dieser Zeitung eine Analyse von ForGen (Forensische Genetik und Rechtsmedizin am Institut für Hämatopathologie Hamburg GmbH). Dieses Gutachten weist auf einen Wolf als Beutegreifer hin. Allerdings hat sich beim genaueren Hinsehen herausgestellt, dass es sich bei diesem Gutachten um ein anderes Rissereignis handelt und nicht um den vorliegenden Fall vom Wasserngrat. Somit liegt bis dato keine Analyse vor, die im Fall von Philipp Brands gerissenen vier Lämmern den Aussagen von Jagdinspektorat oder Wildhut widerspricht.