Martin Nydegger über Luxus, Authentizität und internationale Gäste
12.09.2025 TourismusSchweiz-Tourismus-Direktor Martin Nydegger war letzte Woche im Saanenland zu Gast. Mit Gstaad-Tourismus-Direktor Flurin Riedi diskutierte er über die USA als Markt, seine Sicht auf Gstaad und wieso er Tourismustrends skeptisch gegenübersteht.
JONATHAN ...
Schweiz-Tourismus-Direktor Martin Nydegger war letzte Woche im Saanenland zu Gast. Mit Gstaad-Tourismus-Direktor Flurin Riedi diskutierte er über die USA als Markt, seine Sicht auf Gstaad und wieso er Tourismustrends skeptisch gegenübersteht.
JONATHAN SCHOPFER
Martin Nydegger, Sie haben Ihre Karriere als Landmaschinenmechaniker begonnen. Gibt es Fähigkeiten aus der Lehre, die Ihnen heute als Direktor von Schweiz Tourismus (ST) helfen?
MN: Ja, absolut. Eine Berufslehre ist kein Zuckerschlecken – da braucht es Durchhaltewillen, Biss und den Glauben an die eigene Leistung. Man muss dranbleiben, denn es ist nicht jeden Tag Sonntag. Diese Haltung begleitet mich bis heute. Flurin, du hast doch auch eine Lehre als «Stromer» gemacht – siehst du das genauso?
FR: Ja. An meinem ersten Arbeitstag bekam ich abends vom Chef den Staubsauger in die Hand gedrückt. Diese vermittelten Werte sind sehr wichtig.
MN: Das versuche ich via meinen Sohn der nächsten Generation weiterzugeben: Disziplin und Ordnung. Das hilft mir bis heute.
Und nun sind Sie Direktor von ST: Wo machen Sie selbst am liebsten Ferien in der Schweiz?
MN: Es sind unterschiedliche Orte. Ich liebe es, mit meiner Partnerin während der Weinlese durch die Rebberge im Lavaux zu gehen. Zugleich bin ich Berner – das bleibt mein Herzenskanton; das Bernerische bringt man aus mir nicht heraus. Touristisch sozialisiert wurde ich in Graubünden, vor allem im Unterengadin. Je nach Stimmung zieht es mich also an verschiedene Orte – manchmal sogar nach Andermatt, Flurins Heimatort.
Es gibt viele bekannte Schweizer Ferienorte – aber was unterscheidet Gstaad zum Beispiel von Andermatt, St. Moritz oder Zermatt?
MN: Gstaad steht sehr stark für Authentizität – das hat GST in den letzten Jahren noch verstärkt – und das spürt man. In manchen Regionen denkt man zuerst an die Bergwelt, in Städten wie Luzern an das urbane Erlebnis. In Gstaad hat man sehr schnell den Ort und zugleich die Hotellerie im Kopf. Die Dichte an Fünfsternehotels ist für alpine Destinationen aussergewöhnlich und prägt die Wahrnehmung stark.
Wo sehen Sie in Gstaad noch Potenzial?
MN: Wir haben hier mit dem ST-Vorstand anderthalb Tage über Ganzjahrestourismus gesprochen. Aus meiner Sicht sind wir – in Gstaad wie auch anderswo – noch nicht am Ziel. Das ist keine Kritik, sondern da gibt es einfach noch Arbeit für uns. Es geht darum, Gäste zeitlich besser zu verteilen: In Gstaad liegt der Hebel vielleicht im September/Oktober, anderswo eher im Frühling. Beim Ausloten des Ganzjahrestourismus haben wir noch Luft nach oben.
ST hat in ihrer Strategie festgehalten, dass die Nebensaisons gefördert werden sollen. Wie setzen Sie das um?
MN: «Travel Better» umfasst fünf «Muskelgruppen», die wir Touristiker langfristig trainieren müssen. Das geht nicht von heute auf morgen – wie beim Muskelaufbau ist Konstanz entscheidend. Zudem sieht «Travel Better» in Gstaad anders aus als in Verbier oder im Unterengadin. Die Verantwortlichen vor Ort müssen prüfen: Wo sind wir schon weit, wo brauchen wir Hilfe, was können wir allein umsetzen? ST übernimmt einen Teil, aber funktionieren kann es nur im Zusammenspiel.
Was bedeutet die Strategie von ST konkret für Gstaad Tourismus?
FR: Wenn ST Themen wie den Herbst national ins Schaufenster stellt, gibt uns das Rückenwind. Mit unseren begrenzten Mitteln ist diese Unterstützung zentral. Unsere Aufgabe als Destinationsmanagementorganisation (DMO) ist dann zu koordinieren: Wir bringen Leistungsträger, Gäste und Bevölkerung zusammen – ähnlich wie ein Trainer, der eine Mannschaft führt. Die Hotels füllen oder Skifahrer auf die Pisten bringen können wir nicht, das muss vor Ort stimmen. ST setzt die Impulse, und wir sprechen die passenden Segmente an und entwickeln Ganzjahrestourismus sowie Besucherlenkung weiter.
ST schaltet mit Roger Federer Kampagnen, die unter anderem den Herbst ins Zentrum stellen. Wirken diese?
MN: Ja, das wäre ja schlimm, wenn nicht. Bereits seit einigen Jahren rücken wir den Herbst mit Roger Federer ins Scheinwerferlicht, vor ein paar Tagen lancierten wir die aktuelle Kampagne mit Halle Berry.
Und wir hatten auch eine Kampagne mit Roger Federer und Trevor Noah, vielleicht haben Sie die gesehen – etwa rund um den GoldenPass in dieser Region. Neben der Werbung haben wir zum Beispiel auch eine spezielle Aktion mit dem Swiss Travel Pass lanciert, die extrem gut lief. Natürlich würde ich nie behaupten, dass der Zug und die Hotels wegen uns voll sind. Aber wir haben sicher einen Beitrag geleistet. Seither stellen wir fest: Es kommen mehr Gäste im Herbst und die Swiss Travel Passes verkaufen sich prächtig. Natürlich spielt auch das wärmere Wetter durch den Klimawandel mit. Aber wir können ein vorhandenes Bedürfnis klar verstärken.
Sie haben den Klimawandel erwähnt. Wie soll eine Bergdestination mit wärmeren Wintern umgehen?
MN: Gstaad hat aufgrund der Topografie und der Höhenlage vielleicht in Zukunft mehr Herausforderungen mit dem Schnee als höher gelegene Gebiete. Ich glaube, das ist ziemlich offensichtlich. Man muss sich parallel dazu überlegen, wie man das eine oder andere kompensiert.
FR: Wir haben den Schnee, wir werden ihn noch lange haben, aber die Winter werden ganz sicher nicht länger. Darin liegen Chancen, zum Beispiel für den Geschäftstourismus – die muss man rechtzeitig erkennen.
Eignet sich Geschäftstourismus für das Saanenland überhaupt, wir sind ja ziemlich abgelegen?
MN: Gstaad hat einen geografischen Vorteil: Man reist nicht an und gleich wieder ab – man «muss» übernachten. Es gibt viele Gründe für ein- oder mehrtägige Seminare. Klar braucht es dafür gute Infrastruktur: Hotels, Restaurants, Seminarräume – nicht einfach ein Nebenzimmer mit Tisch. Die Infrastruktur in Gstaad ist sowas von phänomenal. Oben bei Glacier 3000 haben wir gerade selbst eine moderne Seminarinfrastruktur erlebt, wie man sie in Städten kaum findet: sehr angenehm, gutes Bild, guter Ton. Homeoffice führt zudem dazu, dass Teams sich vermehrt ausserhalb treffen. Geschäftstourismus ist ein wichtiger Bestandteil des Tourismusmixes: schweizweit sind grob 80 Prozent Freizeit- und 20 Prozent Geschäftstourismus, gemessen an den Hotellogiernächten. Für Gstaad ist Geschäftstourismus eine der Antworten – nicht die einzige – und die Destination ist dafür sehr attraktiv.
FR: Geschäftstourismus ist ein sehr breites Thema. Da kann man von Meetings mit zehn Personen bis zu Kongressen mit tausend Leuten und mehr reden. Wir sind im Moment nicht aufgestellt, dass wir einen Kongress mit tausend Leuten und mehr so durchführen können, wie man es in Davos oder in Zürich kann. Aber im Kleinen, im Seminarbereich bis zu 150 Leuten, sind wir top. Und wir entwickeln uns auch, zum Beispiel wenn die Concert Hall mit der Multifunktionshalle kommt.
Bei ST will man auch Besucherlenkung. Gäste sollen an noch unbekannte Orte gehen – was ist, wenn die Infrastruktur dort nicht ausgeprägt ist? Wie wählen Sie diese Orte aus?
MN: Das ist eine berechtigte Frage: Besucherlenkung bedeutet nie, Gäste einfach umzuleiten. Am einfachsten lässt sich das mit dem Touring-Segment erklären. Gäste sind oft bereits unterwegs – und dann sagen wir: kombiniert bekannte Orte mit weniger bekannten. Erstgäste wollen die Highlights sehen, Wiederholungsgäste suchen Neues. Ein Instrument dafür ist die Mobilität; genau darauf zielt die «Grand Tour of Switzerland». Das ist kein Selbstzweck, sondern ein Instrument, Gäste räumlich zu verteilen. Wir rücken «noch nicht entdeckte Perlen» in den Vordergrund – Orte mit bestehender Infrastruktur (Gastronomie, Hotels, Bahnen), die aber noch Auslastungspotenzial haben.
Können Sie ein Beispiel nennen?
MN: Ein Beispiel ist mein Kindheits-Skilagerort Schönried: ein Ort mit Chancen. Ein Indikator ist die Hotelauslastung, die wir erhöhen wollen.
FR: Ein anderes Beispiel für Lenkungsmassnahmen: Am Lauenensee ist die Nachfrage regelrecht explodiert. Viele Einheimische hatten das Gefühl: «Jetzt sind es zu viele Leute.» Wir haben früh reagiert und eine Zukunftskonferenz mit der Bevölkerung einberufen: Was ist das Zielbild, wie soll sich die Region positionieren? Ergebnis: klare Stossrichtung «naturnaher Tourismus». Daraus entstanden Massnahmen – etwa höhere Parkgebühren, damit ÖV oder Velo attraktiver werden. Auch gibt es Ranger, die zum Beispiel Autos nicht bis zum See durchfahren lassen. Das war ein gemeinsamer Prozess mit der Bevölkerung. Am Arnensee sehen wir ähnliche Themen. Nichts zu tun wäre die schlechteste Strategie. Wo es zu voll ist, leidet die Qualität. Hohe Qualität ist für Gstaad zentral – auch, weil sie den hohen Preis rechtfertigt; das ist unser Erfolgsmodell.
Wie wird Tourismusakzeptanz bei der Bevölkerung gemessen?
MN: Das Schlüsselwort ist «Befindlichkeit» – wie empfindet die Bevölkerung die Situation? Diese muss man quantifizieren. Sonst reden wir endlos über laut genannte Einzelfälle, die dann überhöht werden. Wir führen deshalb regelmässig Sensibilisierungsumfragen durch, jeweils bei rund 2500 Schweizerinnen und Schweizern. Ein Beispiel: In Zürich gibt es die Münsterbrücke. Sie ist wunderschön, viele Touristen bleiben fürs Foto stehen. Leute, die in dieser Gegend wohnen und täglich über die Brücke müssen, sagen dann: «Overtourismus.» Aber das betrifft gerade einmal 20 Meter in einer Grossstadt. Solche Empfindungen sind zwar menschlich und nachvollziehbar, müssen aber eingeordnet werden. Deshalb ist es entscheidend, mit Umfragen eine Grundlage zu haben, statt nur über subjektive Eindrücke zu reden.
In der Strategie von ST steht, dass «europäische und amerikanische Reisende in der nächsten Dekade voraussichtlich um 40 bis 50 Prozent häufiger reisen werden». Welche Tourismustrends erwarten Sie für die Zukunft?
MN: Ich muss mich hier als Trendskeptiker outen. Ich glaube nicht an diese vereinfachten Trends. Ich verstehe den Wunsch, aus der schmerzhaft komplexen Welt Muster herauszulesen, um sie besser zu verstehen. Diesem Reflex erliege ich als Mensch manchmal auch. Aber als Professional ist es mein Job, die Welt nicht zu stark zu simplifizieren. Und ein Trend ist in der Regel nicht quantifizierbar. Wir hatten in unserer Strategie früher sogar eine Seite mit solchen Trendlisten. Fazit: Niemand hat sie gelesen, niemand kontrolliert.
Heisst das, dass wir keine Neuerungen aufgreifen?
MN: Natürlich nicht. Wir beobachten sehr genau, wo Nachfrage entsteht. Ein Beispiel ist der Bereich «Luxury Tourism». Wir haben Anfang Jahr eine eigene Abteilung dafür aufgebaut. Nicht, weil es ein kurzlebiger Trend wäre, sondern weil wir sehen: Es gibt eine wachsende Zahl von Menschen, die viel Geld haben und es gezielt in Erlebnisse investieren. Manche Reiche kaufen eine Kamera oder eine Yacht – andere aber geben ihr Geld lieber für Erlebnisse aus. Ferien gehören dazu. Dieses Segment wächst, wir haben das passende Angebot, und deshalb investieren wir darin. Aber: Luxury ist kein Trend-Hype, sondern eine strategische Marktentscheidung.
Ein grosser Markt ist auch die USA: Sie waren gerade mit ST an der Westküste. Wie wichtig ist dieser Markt?
MN: Er ist absolut wichtig – auch zunehmend für Gstaad. Was mir bei meiner Reise aufgefallen ist: Wir in Europa schauen sehr intensiv auf Amerika, auf dessen Präsidenten oder die politische Situation. In den USA selbst spielt das aber kaum eine Rolle im Alltag. Es ist ein riesiges und sehr wohlhabendes Land. Allein Kalifornien wäre als Einzelstaat die viertgrösste Volkswirtschaft der Welt. Politisch mag es manchmal etwas eigenartig wirken, aber wirtschaftlich ist es ein enorm starkes Fundament. Für uns heisst das: Es gibt dort eine grosse Zahl potenzieller Gäste, die reisen wollen und die Schweiz sehr schätzen.
Und Europa?
MN: Ja – wir stellen uns generell breit auf: ST hat 36 Büros in 22 Ländern – so können wir schnell auf den Markt reagieren und sind besser gegen Schocks abgesichert, ob Naturereignisse, wirtschaftliche Verwerfungen, Währungsschwankungen oder Kriege. Vor der Pandemie kamen 1,8 Millionen Hotelübernachtungen von Chinesen zustande; heute ist es etwa die Hälfte – und trotzdem steht die Schweiz dank Diversifikation gut da.
Und dort arbeiten Sie auch mit Influencern: Wie wählen Sie die passenden für die jeweiligen Länder aus?
MN: Influencer wählen wir auf zwei Wegen: Wir prüfen Anfragen und sprechen passende Influencer selbst an. Die Bewertung erfolgt in den jeweiligen Märkten. Wir können hier am Hauptsitz überhaupt nicht beurteilen, ob ein länderspezifischer Influencer passt. Und darum haben wir unsere weltweiten Netzwerke.
TOURISMUS UND GSTAAD SAANENLAND TOURISMUS
Schweiz Tourismus (ST) ist die nationale Marketingorganisation für den Tourismus. Sie positioniert die Schweiz im In- und Ausland als attraktive Ferien- und Reisedestination, betreibt internationale Kampagnen und unterhält weltweit über 30 Auslandsbüros. ST arbeitet eng mit Kantonen, Regionen und lokalen Organisationen zusammen und wird durch Bundesbeiträge sowie Partnergelder finanziert.
Gstaad Saanenland Tourismus (GST) ist die offizielle Destinationsmanagementorganisation (DMO) der Region. Sie koordiniert die touristische Entwicklung, vermarktet die Destination und vernetzt lokale Leistungsträger wie Hotels, Bergbahnen und Restaurants. Zudem organisiert sie Veranstaltungen, betreut Gäste vor Ort und sorgt für ein vielfältiges Angebot an Sport, Kultur und Kulinarik.
JSC
«TRAVEL BETTER»: DIE FÜNF AKTIONSFELDER VON TOURISMUS
Ganzjahrestourismus fördern
Die Nachfrage ausserhalb der Hochsaison stärken, um die Wertschöpfung gleichmässiger über das Jahr zu verteilen.
Gästeströme lenken
Potenzielle Gäste auf neue und noch unbekannte Orte aufmerksam machen.
Aufenthaltsdauer verlängern
Längere Aufenthalte fördern.
Swisstainable vorantreiben
Nachhaltigkeit im Schweizer Tourismus verankern.
Tourismusakzeptanz stärken
Den Dialog mit der lokalen Bevölkerung stärken, damit der Tourismus auf breite Unterstützung zählen kann.
JSC
Entweder... oder...?
(Mit Martin Nydegger)
Country-Musik-Konzert oder klassisches Konzert?
Country
Wellness-Tag oder Wandern gehen?
Wandern
Brocante oder literarische Lesung?
Lesung
Beachvolley oder Tennis schauen gehen?
Tennis!
Eisklettern oder in einem Bergsee schwimmen?
In einem Bergsee schwimmen