Ein Buch gegen das Vergessen

  20.11.2023 Kultur

Über die Gemeinde Lauenen sind nur wenige Überlieferungen schriftlich festgehalten. Mit dem Bildband «Lauenen – ein Blick in die Vergangenheit» gibt Autor Victor Brand einen wertvollen Einblick in die Geschichte seiner Heimat von der Besiedelung bis in die 1970er-Jahre.

ANITA MOSER
Der Andrang am vergangenen Freitagabend war riesig. Weit über 200 Personen folgten der Einladung zur Vernissage des Buches «Lauenen – ein Blick in die Vergangenheit». Bis kurz vor Beginn wurden im Saal des Hotels Wildhorn noch Tische weggeräumt und Stühle enger zusammengerückt. Im Interview mit Verleger Frank Müller erzählte Autor Victor Brand einerseits über die Entstehung des Buches und gab anderseits einen Einblick zu ein paar Themen – ohne allzu viel zum Inhalt des Buches zu verraten. Musikalisch umrahmt wurde die Vernissage vom Jodlerklub Lauenen.

5050 elektronische Dateien
Mit seinen Recherchen hat Victor Brand vor rund 15 Jahren begonnen. Aus Gwunder. «Ich wollte wissen, wer Mühli Chrischte – mein Urgrossvater väterlicherseits – war und wo er gewohnt hatte», erzählte der heute 37-jährige Lauener. «Und so hat es sich weiterentwickelt über die Familiengeschichte und über das Mühlihaus hinaus.» Er hat historische Quellen – Schriften, Chroniken, Tauf-, Ehe- und Totenrodel, das Staats- und Bundesarchiv sowie die Nationalbibliothek – durchforstet und mit vielen Zeitzeugen und Nachkommen zahlreicher Familien Gespräche geführt. «Deshalb habe ich 15 Jahre gebraucht», bemerkte er schmunzelnd.

In diesen 15 Jahren ist eine grosse Datenmenge zusammengekommen. Vieles hat er elektronisch. «Der betreffende Ordner auf meinem Computer hat 5050 Dateien, dazu kommen viele physische Ordner mit Kopien und Verträgen», antwortete er auf eine entsprechende Frage von Frank Müller. Zudem seien rund 120 Fotos in seinem Besitz, die restlichen gehörten Privatpersonen oder Archiven. «Ich habe Zugriff auf 700 bis 800 Fotos.» Ob er den Überblick noch habe, wollte Frank Müller wissen. «Mal mehr, mal weniger», antwortete Victor Brand mit einem Augenzwinkern und unter dem Gelächter des Publikums.

Recherche mit Hobbys verbinden können
Wie viel Zeit er in den letzten 15 Jahren in das Projekt investiert habe, sei schwer abzuschätzen. «Mal mehr, mal weniger», wiederholte er lachend. Manchmal sei es ihm fast zu viel geworden. «Aber ich habe die Recherchen mit meinen Hobbys verbinden können», so Brand. «Es war nicht nur Arbeit am Schreibtisch oder in einem Archiv. Ich war viel unterwegs im Gelände, habe mir die Gebäude und Hütten vor Ort angeschaut.»

«Hand aufs Herz: Wenn du vor 15 Jahren gewusst hättest, dass es so viel Arbeit bedeutet, ein solches Buch zu realisieren, würdest du es nochmals machen?», fragte Verleger Frank Müller. «Ja, ich glaube schon», antwortete der Autor nach langem Überlegen. «Eine Zeit lang war es recht anstrengend. Als ich noch nicht gewusst habe, dass es ein Buch wird, konnte ich machen, wie ich wollte. Als wir zwei uns entschieden haben, ein Buch zu realisieren, musste ich dranbleiben. Das hat mich manchmal gestresst», gab er zu, ergänzte aber: «Ich habe sehr viel gute Gespräche geführt, viele gute Leute kennengelernt. Das möchte ich nicht missen.»

Historisches Bildmaterial
Der Bildband enthält über 400 historische Bilder und ist gespickt mit spannenden Informationen zu geschichtsträchtigen Ereignissen, Gebäuden oder Viehalpen. Die Kirche und das Pfarrhaus, die Gasthöfe und Hotels, jahrhundertealte Bauernhäuser und vieles mehr warten darauf, entdeckt zu werden. Kuriositäten wie das «Bahnhofbuffet» oder das beinahe erstellte fünfstöckige Thermalkurhaus mitten im Dorf werden genauso thematisiert wie Brunnen oder Zaunbauarten, die es seit Langem nicht mehr gibt. Das Werk enthält auch Fotos und Lebensgeschichten von Lauenerinnen und Lauenern, die damals die Talschaft bewohnten und unter schwierigen Bedingungen bewirtschafteten: Wirte und Wirtinnen, Lehrer, Älpler, Statterbuben, Sennerinnen, Holzfäller, Bergsteiger oder Gemeindepolitiker. Auch fehlen Dorforiginale wie «ds Jäger Ueli», Anekdoten aus dem Alltag, uralte Sagen wie diejenige vom Rothübi, aber auch tragische Lawinenniedergänge und andere Unglücke nicht.

Besiedelung ab 1312
Die ersten schriftlichen Dokumente datieren von 1312. «Das sind Steuerrodel, welche die Grafen von Greyerz anfertigen liessen», erklärte Victor Brand. Es sei bekannt, dass sich eine Familie Gander auf der Tweregg – das ist kurz vor dem Lauenenseeparkplatz – niedergelassen habe. «Das waren die ersten Bewohner der Lauenen, die urkundlich aufgenommen wurden.» Zu der Zeit sei Lauenen eine sumpfige, waldige Gegend gewesen. «Jene, die sich hier niederliessen, haben das Land – zum Teil auch durch Brandrodung – urban gemacht und auch entwässert.»

Der Bauernknecht als Schulmeister
Auch eine Parallele zur aktuellen Zeit findet sich im Buch. Offenbar gab es schon damals einen Lehrkräftemangel, Quereinsteiger füllten die Lücken. So auch in Lauenen. «1799 unterrichtet der 20-jährige Bauernknecht Christian Hauswirth die 86 Kinder (!) der Gesamtschule Lauenen. Über ihn wurde wenig Rühmenswertes berichtet. Er sei laut, seine Kenntnisse seien gering, aber seine Einbildung gross gewesen…» Die Anwesenden quittierten diese Sequenz mit spontanem Gelächter und Frank Müller leitete über zum Spittel, zum ehemaligen Schulhaus.

Das Gebäude wurde nicht als Spittel oder als Schulhaus gebaut, erklärte Victor Brand. «Es ist 1530 für einen reichen Bauherrn erbaut worden.» Davon zeuge auch die Zimmermannskunst, vor allem die spätgotische Balkendecke, die noch vorhanden sei. «Das Haus kam irgendwann in den Besitz der Gemeinde und wurde zum Schulhaus. Ein paar Jahrhunderte wurde dort Schule abgehalten, bis das neue Schulhaus – das heutige Ferienlager – 1847 gebaut wurde.» Danach sei das ehemalige Schulhaus als Spittel genutzt worden. «Die Gemeinde hat das Haus armen und bedürftigen Menschen zur Verfügung gestellt. So hat es den Namen Spittel bekommen», erklärte Victor Brand.

Eine Fortsetzung?
Ob er schon an ein weiteres Buch denke aufgrund der vielen noch vorhandenen Dokumente, fragte Frank Müller. «Sag niemals nie», schmunzelte der Gefragte. «Aber im Moment haben andere Sachen Priorität.» Eine Hotline habe er nicht eingerichtet, aber man könne ihn jederzeit kontaktieren, wenn Fragen auftauchten zur Geschichte der Gemeinde oder zu einer Familie. «Ich versuche zu helfen, kann aber nicht für Antworten garantieren.»

Auch die Sprache verändert sich
Die Vergangenheit habe ihn schon immer interessiert, erklärte Jörg Trachsel in seinem Grusswort – der ehemalige Gemeindepräsident von Lauenen (2014 bis 2022) hat eines von zwei Vorworten geschrieben. Er erzählte von einer alten Schrift über eine Wasserquelle in der Sunnigen Lauenen, die 1531 gegründet worden sei. «Das Dütsch, wo die da gha hei…», so Trachsel. Er habe sich die Schrift übersetzen lassen. «Wir würden sie heute nicht mehr verstehen, aber umgekehrt wohl auch nicht», sinnierte er. Ja, die Sprache verändere sich, viele alte Lauener Ausdrücke seien nicht mehr im Gebrauch, würden durch andere ersetzt. «Das ist einfach so, das ist der Lauf der Welt.» Umso schöner sei es, dass Victor Brand eine solche Zeitepoche festgehalten habe. «Ich hoffe, dass nächste Generationen das Buch auch noch lesen können, dass sich die Sprache nicht derart verändert.» Den Wandel merke man ja schon innerhalb einer Generation. Er selber gebrauche noch viele alte Wörter und Jüngere fragten ihn oft: «Was häsch jetz gseit?» Er wiederhole jeweils das Wort und erkläre, was dieses und jenes bedeute. Und er fügte lachend hinzu: «Andererseits hört man auch von Älteren über Jüngere sagen: ‹Die brichte, i tschegges afa nid mie!›»

Ein Wälzer
Das 368 Seiten starke Werk mit über 400 historischen Bildern und einem Gewicht von 2225 Gramm sei ein Wälzer … und ein schönes Weihnachtsgeschenk, sagte Verleger Frank Müller. Und er ergänzte schmunzelnd: «Der Preis von 79 Franken entspricht in etwa dem Wert von etwas mehr als zwei Kilogramm Hobelkäse. Der Käse ist mal gegessen, das Buch aber bleibt…»

Den Abschluss der gelungenen Vernissage machte der Jodlerklub Lauenen. Mit «Louenesee» sorgten die Vorjodlerin und die 21 Jodler für einen weiteren Höhepunkt.

Anschliessend waren alle zum Apéro geladen und Autor Victor Brand signierte Buch um Buch.

«Lauenen – ein Blick in die Vergangenheit», Bildband mit über 400 historischen Bildern. Das Buch ist erschienen im Verlag Müller Medien AG, fürs Layout zeichnet Prisca Aegerter verantwortlich. Das Buch ist erhältlich bei Victor Brand, beim Verlag Müller Medien AG sowie in allen Buchhandlungen.
ISBN 978-3-907041-89-5, Preis: Fr. 79.–. www.mmedien.ch


ZUR PERSON

Victor Brand, Jahrgang 1986, ist in Lauenen geboren und aufgewachsen. Als jüngster Sohn von Benz und Annelies Brand‑Egger ist er mit seinen Brüdern Björn und Jan auf dem elterlichen Bauernbetrieb in der Enge aufgewachsen. Der gelernte Forstwart arbeitet heute als Flughelfer bei der Air‑Glaciers in Gstaad und Lauterbrunnen.


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