«Die Spitalfrage war sicher eines der komplexesten und emotionalsten Dossiers»
18.02.2025 InterviewNach zwei Jahrzehnten in der Gemeindepolitik hat Toni von Grünigen Anfang Jahr das Amt des Saaners Gemeindepräsidenten an seine Nachfolgerin Petra Schläppi abgegeben. Im Gespräch reflektiert er über bewegte Zeiten, schwierige politische Entscheidungen und die ...
Nach zwei Jahrzehnten in der Gemeindepolitik hat Toni von Grünigen Anfang Jahr das Amt des Saaners Gemeindepräsidenten an seine Nachfolgerin Petra Schläppi abgegeben. Im Gespräch reflektiert er über bewegte Zeiten, schwierige politische Entscheidungen und die Entwicklung der Gemeinde. Und er verrät, was er mit seiner neu gewonnenen Freizeit vorhat.
JOCELYNE PAGE
Wenn man Ihren Namen in unserem AvS-Archiv eingibt, habe ich seit 2001 volle 1219 Treffer erhalten. Eine beeindruckende Zahl!
Toni von Grünigen: (macht grosse Augen und lacht) Ja, das ist viel.
Die Treffer der ersten Jahre betrafen auch viele aus der Landwirtschaft, in der Sie als Meisterlandwirt tätig und sehr aktiv waren, und dennoch: Viele Artikel stehen im Zusammenhang mit der Politik. Erinnern Sie sich an eine spezifische Schlagzeile?
Nein, da fällt mir keine ein. Ich muss aber auch sagen, dass ich mich nie als Person profilieren wollte, sondern immer die Sache oder der gesamte Gemeinderat für mich im Vordergrund stand. Entscheidungen trifft man nie allein, sondern gemeinsam mit den Ratskollegen, der Verwaltung und den Bürgerinnen und Bürgern. Es war mir immer wichtig, dass Projekte breit abgestützt sind. Ich glaube, nur so kann man eine Gemeinde wirklich weiterentwickeln – wenn sich die Leute einbringen können und mitgenommen werden.
Gibt es ein Ereignis oder ein Projekt, das Ihnen besonders positiv in Erinnerung geblieben ist?
Für mich waren es nicht einzelne Erfolge, sondern die Entwicklung der Gemeinde als Ganzes. Aber wenn ich ein konkretes Projekt nennen soll, welches mir Freude bereitet hat, dann sicher die Standortförderung, die wir in verschiedenen Projekten erarbeitet haben, wie «Zukunft Saanen» oder die Erarbeitung der Standortentwicklungsstrategie. Dort konnten wir die Bevölkerung aktiv miteinbeziehen und daraus sind wichtige Impulse entstanden – etwa zur Wohnraumentwicklung, zur Kinderbetreuung oder zur Sport- und Freizeitkoordination.
Gab es einen Misserfolg, der Sie besonders beschäftigt hat?
Politik ist Teamwork. Ich hatte bei keinem Erfolg den Eindruck, ich sei alleine dafür verantwortlich und ebenso bei Misserfolgen. Aber natürlich beschäftigten mich eine abgelehnte Vorlage oder Verhandlungen ohne Ergebnis.
Gab es eine Entscheidung, die Ihnen schlaflose Nächte bereitet hat?
Eine ganz konkrete schlaflose Nacht hatte ich wohl nie. Aber es gab natürlich Situationen, in denen ich mir Gedanken gemacht habe und denen auch die eine oder andere Stunde Schlaf zum Opfer gefallen ist. Zum Beispiel, als sich im Nachhinein herausstellte, dass ich mit der Unterzeichnung von einem Dokument möglicherweise meine Kompetenzen überschritten hatte. Solche Dinge nimmt man mit nach Hause und denkt darüber nach. Es gibt auch schwierige Dossiers, bei denen man lange um Lösungen ringen muss. Besonders bei Themen, die viele Menschen direkt betreffen – etwa die Schulraumplanung oder die Gesundheitsversorgung – ist der Druck hoch. Man weiss, dass die Entscheidungen Konsequenzen haben und das macht die Verantwortung gross.
Waren dies somit die schwierigsten Dossiers?
Ja, eines der schwierigsten Themen war die Gesundheitsversorgung. Die Spitalfrage hat uns über viele Jahre hinweg beschäftigt und ich habe viele Gespräche mit Kanton und Akteuren innerhalb der gesamten Region geführt. Das war sicher eines der komplexesten und emotionalsten Dossiers.
Wie sind Sie überhaupt zur Politik gekommen?
Das politische Interesse war bei uns in der Familie immer vorhanden. Mein Vater war bereits politisch aktiv, meine Mutter ebenfalls stark engagiert. Ich bin somit am Familientisch schon früh mit politischen Diskussionen in Kontakt gekommen. Später in der landwirtschaftlichen Schule kam ich ebenfalls wieder mit der Politik in Berührung, dort bemerkte ich meine Faszination dafür. Mein Interesse hat sich weiterentwickelt. Während meiner Ausbildung und später in meiner beruflichen Tätigkeit habe ich gemerkt, dass ich mich nicht nur für Landwirtschaft, sondern auch für gesellschaftliche Themen interessiere.
Irgendwann kam dann der Punkt, an dem ich mich stärker einbringen wollte – und so führte eines zum anderen.
Durch Ihre politische Tätigkeit – zuerst als Gemeinderat, dann Präsident der Gemeindeversammlung und anschliessend als Gemeindepräsident – waren Sie häufig im öffentlichen Raum präsent. Wurden Sie oft von Bürgerinnen und Bürgern angesprochen?
Es kam gelegentlich vor, ich habe den direkten Austausch stets geschätzt.
Somit respektierte die Saaner Bevölkerung Ihre Privatsphäre und liess Ihnen auch in der Freizeit Raum?
Ja, genau, es spricht sehr für sie. Es war nicht so, dass mich die Leute auf der Strasse wegen jeder Kleinigkeit ansprachen. Meistens war es dann der Fall, wenn jemand ein echtes Anliegen hatte. In diesem Fall wandten sie sich per Brief, per E-Mail oder in einem persönlichen Gespräch an mich. Grundsätzlich habe ich es immer geschätzt, wenn sich Bürgerinnen und Bürger direkt an mich wandten, denn so bekommt man ein Gefühl dafür, was die Leute wirklich beschäftigt. Natürlich gibt es manchmal auch schwierige oder kritische Gespräche, aber das gehört zur Aufgabe dazu. Wichtig ist, dass man den Menschen zuhört und versucht, Lösungen zu finden.
Wie war die Gesprächskultur innerhalb des Gemeinderates? Gab es auch harte und schwierige Diskussionen?
Ja, das gab es immer wieder. Vor allem, wenn die Meinungen stark auseinander gingen oder emotionale Themen im Fokus standen. Die Gesprächskultur war aber stets sachlich, gut und zielorientiert. Ich habe immer versucht, ruhig zu bleiben und die Argumente sorgfältig abzuwägen. In der Politik darf man sich nicht von Emotionen leiten lassen, sondern muss sachlich bleiben. Gerade im Gemeinderat habe ich das als wichtig empfunden – denn wir sind ein Gremium der Sachpolitik, nicht der Parteipolitik.
Diese Strategie hat sich bewährt?
Ich glaube, das hat geholfen, Konsens zu finden. Auch wenn nicht immer alle einer Meinung waren, hatten wir doch eine konstruktive Diskussionskultur.
In welchen Bereichen hätten Sie gerne mehr erreicht?
Der Wohnraum ist ein Thema, das mich bis zum Schluss beschäftigt hat. Es wäre schön gewesen, wenn gewisse Projekte schneller umgesetzt worden wären. Aber politische Prozesse brauchen Zeit, oft mehr, als man sich wünscht. Auch die Schulstrategie hätte ich gerne weitergebracht. Wir haben mit dem Schulhausprojekt in der Rütti ein Projekt erarbeitet, das aber beim Souverän leider nicht standgehalten hat. Hier hoffe ich, dass mit der erarbeiteten Schulstrategie ein Projekt durch die neuen Behörden umgesetzt werden kann.
Haben Sie in den letzten Jahren bemerkt, dass sich die Sorgen der Bürger:innen verändert haben?
Einige Themen sind konstant – etwa Bildung, Verkehr, bezahlbarer Wohnraum oder die Finanzen. Andere haben sich in den letzten Jahren stark entwickelt, insbesondere die Fragen rund um Energieversorgung und Klimawandel.
Wie sieht es mit der Bürokratie aus? Hier hört man oft, dass diese grössere Dimensionen angenommen hat.
Die Bürokratie ist sicher eine der grossen Herausforderungen für die Gemeindepolitik und die Verwaltung geworden. Die Vorschriften werden immer zahlreicher, und das macht es für Bürgerinnen und Bürger, aber auch für Unternehmen schwieriger. Probleme, die schnelle Lösungen bräuchten, müssen oftmals auf langwierige Bewilligungen warten. Die langen Prozesse sind für die Betroffenen oftmals schwer verständlich und können Innovationen behindern.
Hatten Sie jemals Ambitionen für ein höheres politisches Amt, etwa für den Grossen Rat?
Nein. Ich hatte genug Aufgaben hier in der Gemeinde und es war mir wichtig, diese bestmöglich zu erfüllen. Mir hat die Arbeit in der Exekutive gefallen – gemeinsam Lösungen finden, umsetzen, gestalten. Das Parlamentsleben mit Fraktionszwang und parteipolitischen Auseinandersetzungen hätte mich weniger gereizt.
Wo sehen Sie die Zukunft der Gemeinde in den nächsten 10 bis 20 Jahren?
Ich denke, die Weiterentwicklung der Gemeinde wird weitergehen, aber sie muss gut gesteuert werden. Der wirtschaftliche Erfolg der Region bringt Herausforderungen, besonders beim Wohnraum für Einheimische. Hier müssen wir Lösungen finden, damit die Gemeinde lebenswert bleibt. Finanziell stehen grosse Projekte an und das wird Belastungen mit sich bringen. Die Frage wird sein, wie wir das klug steuern, ohne die Gemeinde zu stark zu verschulden.
Was machen Sie nun mit Ihrer neu gewonnenen freien Zeit?
Ich werde mich um unser Haus kümmern, welches wir neu bauen werden, und gemeinsam mit meiner Frau werde ich eine Reise nach Kanada machen, um unseren Sohn zu besuchen. Er studiert dort in einem Austauschsemester Wirtschaft. Ich freue mich auch darauf, einfach mal etwas mehr Zeit für mich und meine Familie zu haben. Mir wird bestimmt nicht langweilig!
Letztes Wort des ehemaligen Gemeindepräsidenten?
Ich möchte betonen, dass es aus meiner Sicht in der Politik nicht um Einzelpersonen geht. Eine Gemeinde funktioniert nur, wenn viele Menschen zusammenarbeiten – im Gemeinderat, in der Verwaltung, in den Vereinen. Ich bin dankbar für die Unterstützung, die ich in all den Jahren erhalten habe. Und ich hoffe, dass die Gemeinde auch in Zukunft von engagierten Menschen getragen wird.
ZUR PERSON
Toni von Grünigen ist 1963 geboren und im Scheidbach-Turbach aufgewachsen. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne. Nach der landwirtschaftlichen Ausbildung während zwei Jahren in Zollikofen und einem Aufenthalt in Neuseeland gründete er 1990 zusammen mit seiner Frau Barbara von Känel seinen eigenen Betrieb im Turbach. Er war zudem als nebenamtlicher Betriebsberater tätig und ist Meisterlandwirt. Zudem hat er das Wirte- und Skilehrerpatent. Vor seinem Eintritt in den Gemeinderat war er Präsident der Wirtschaftlichen Genossenschaft Turbach und Mitglied der Infrastrukturkommission der Gemeinde Saanen. 2005 schaffte er den Sprung in die Saaner Exekutive, wurde 2009 Vizegemeindepräsident und amtete ab 2013 als Präsident der Gemeindeversammlung. Am Ende war er von 2017 bis 2024 Gemeindepräsident von Saanen.
JOP