Anpassung an den Klimawandel ist dank der Studie «Kompass Schnee» kein hypothetischer Blindflug mehr. Seilbahnunternehmungen, Tourismusdestinationen und Gemeinden können ihre Strategien erstmals schweizweit datenbasiert ausrichten. Der im Saanenland aufgewachsene Klimaforscher Reto Knutti, der an der Studie mitgearbeitet hat, erklärt deren Grundlagen – und Matthias In-Albon sowie Flurin Riedi ordnen ihre Bedeutung für die Region ein.
KEREM MAURER/SONJA WOLF
Wer hat die Studie in Auftrag gegeben und wer hat daran mitgearbeitet?
Die Studie fusst auf eine branchenweite Allianz. Die Träger sind Seilbahnen Schweiz (SBS), Schweiz Tourismus und der Verband Schweizer Tourismusmanager (VTSM). Die wissenschaftlichen Partner sind das Institut für Schneeund Lawinenforschung (WSL), MeteoSchweiz und das Institut für Atmosphäre und Klima der ETH Zürich mit dem Team um Reto Knutti. Dazu kommt ein breites Sounding Board mit Destinationen und Bergbahnen. Betrachtet wurden 23 Klimaregionen der Schweiz, zehn Höhenstufen von 80 bis 2600 Meter über Meer und verschiedene Ausrichtungen der Pisten, Nord, Ost, Süd oder West.
Was ist das Ziel der Studie?
Die Klimaveränderungen der letzten Jahrzehnte wurden dokumentiert und aufgrund dieser Daten eine Prognose für die kommenden Jahre bis 2050 errechnet. Eine Basis ist die natürliche Schneehöhe und eine andere die technische Beschneiungsmöglichkeit. «Kompass Schnee ist ein Mittel zur Planungsunterstützung, damit die Destinationen jeweils an ihrem Ort mit ihren Infrastrukturen und Bahnen prüfen können, welche Investitionen am meisten Sinn ergaben», erklärt Reto Knutti. «Kompass Schnee ist ein Orientierungsinstrument für die Branche.» Es geht um die Entwicklung der natürlichen Schneedecke in verschiedenen Regionen, Höhenlagen und Pistenausrichtungen bis 2050. Wie viele Beschneiungsstunden stehen künftig zur Verfügung und welche Rolle spielt die technische Beschneiung in verschiedenen Höhenlagen.
Wie werden die Daten interpretiert?
Die Daten im Kompass Schnee stehen als Ausgangswerte für das Referenzklima 1991–2020 (Klimadurchschnittswerte 1991–2020) sowie als projizierte Werte für eine Erwärmung der Jahresmitteltemperatur in der Schweiz gegenüber dem Referenzklima von +1, +2 und +3°C zur Verfügung. +1°C entspricht etwa dem Klima von heute. Die Schneeund Klimaforschenden in der Schweiz erwarten, dass bis im Jahr 2050 eine Erwärmung von +2°C (erwartetes Klima) gegenüber dem Referenzklima des Kompasses Schnee eintreten wird.
Welche Entwicklungen gibt es laut der Studie?
Grob gesagt hat die Schneemenge in der Schweiz in tiefen bis mittleren Lagen schon um 40 und in höheren Lagen etwa um zehn Prozent abgenommen. Im westlichen Berner Oberland sind die Veränderungen ausgeprägt. Diese Trends werden sich im Wesentlichen fortsetzen. Reto Knutti fasst zusammen: Ab 1500 Meter muss man in sehr kurzer Zeit sehr viel Schnee produzieren können, weil die Kältefenster je nach Lage und Ausrichtung kürzer werden. Man spricht von maximal 70 Stunden, bis das ganze Skigebiet eingeschneit sein muss. Und Matthias In-Albon, CEO der Bergbahnen, ergänzt: «In den tiefen Lagen unterhalb von 1500 Metern über Meer wäre Schneesport bis im Jahr 2050 nur mit einer noch effizienteren technische Beschneiung mit einer Einschneizeit von unter 50 Stunden möglich.»
Auf der anderen Seite habe laut Knutti der Frühling, Sommer und Herbst noch Potenzial: «Diese Jahreszeiten werden in den Bergen attraktiver, wenn es in tiefen Lagen zu heiss ist. Das können Bergregionen für sich nutzen.»
Wie hoch liegen die Pisten der Bergbahnen Destination Gstaad AG (BDG)?
Der relevante Teil des Pistennetzes liegt zwischen 1500 und 2000 Metern, mit dem Glacier 3000 sogar bis 3000 Metern über Meer. Die Pisten, die unterhalb von 1500 Metern liegen, sind entweder Talabfahrten oder Zubringerpisten. Und diese sind bereits mit Beschneiungsanlagen ausgestattet. «Die Effektivität und die Effizienz der Beschneiung muss aber schlagkräftiger werden», ergänzt In-Albon.
Sind diese Resultate und die daraus abgeleiteten Massnahmen bindend?
Nein. Jede Destination entscheidet selbst über ihre strategische Ausrichtung. Reto Knutti sagt: «Die Entscheidungen sind sehr individuell, je nachdem wo die Pisten sind oder welcher Art die Bahnen sind. Aber da man den Franken nur einmal ausgeben kann, muss man sich genau überlegen, wo eine Investition am meisten Sinn ergibt. Also wenn man zu wenig Wasser hat, sollte man sich besser überlegen, woher das Wasser kommt, anstatt dass man mehr Schneekanonen hinstellt, die man dann nicht brauchen kann. Dafür soll dieses Tool als Werkzeugkasten dienen. Das ist die Idee.»
Matthias In-Albon, CEO Bergbahnen Destination Gstaad, im Interview.
«Mit einer effizienten Beschneiung ist auch 2050 eine solide Saison möglich»
INTERVIEW: KEREM S. MAURER
Matthias In-Albon, wobei hilft Ihnen Kompass Schnee konkret?
Wir können damit der Bevölkerung datenbasiert begründen, weshalb wir wo investieren. Mit Hilfe von Kompass Schnee können wir stichhaltig erklären, warum wir was bauen wollen.
Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Nehmen wir den neuen Speichersee. Wir haben immer gesagt, für uns sei es sehr wichtig, dass wir das Skigebiet innerhalb von 72 Stunden einschneien können. Heute zeigt die Studie, dass dies genau der Standard ist, den Kompass Schnee als notwendig beschreibt. Ich habe vor Kurzem mit dem Direktor von Vilars-Gryon-Les Diablerets gesprochen. Er nutzte das erste und letzte Kältefenster voll aus, schneite das ganze Skigebiet innerhalb dieser Zeit ein und konnte direkt alles öffnen. Wir schneien in Prioritäten, zuerst Saanersloch, dann Horneggli und anschliessend Oeschseite etc., weil unser See auf dem Hornberg zu klein ist und immer wieder schnell leer wird. Also brauchen wir dazu jeweils drei bis viermal 70 Stunden Kältefenster anstelle von einmal 70 Stunden.
Das heisst, Kompass Schnee ist in Ihren Augen ein nützliches Instrument?
Ja. Es bestätigt uns, dass unser Hauptskigebiet mit vielen Nordhängen und Hauptpisten in Höhenlagen über 1500 Metern auch 2050 noch gute Chancen hat. Und wie schon gesagt ist es eine Chance, Projekte wie den Speichersee oder die Beschneiung Chaltenbrunnen/ Lengenbrand datengestützt zu begründen.
Es führt kein Weg am neuen Speichersee vorbei. Kann man den auch anders nutzen?
Ja. Er könnte auch als Speichermöglichkeit von Strom genutzt werden (Pumpspeicherwerk) und im Sommer wird die Trockenheit intensiver, dann ist er ein Wasserspeicher für Landwirtschaft und Vieh. Der Golfclub führt zum Bewässern schon jetzt in Trockenzeiten Wasser mit Lastwagen hinauf.
Sind Sie damit einverstanden, dass sich unterhalb von 1500 Metern keine Investitionen mehr lohnen?
Ich habe Mühe mit einer solchen Pauschalaussage. Wir stellen weder die dokumentierte Erwärmung in Frage noch den Rückgang der natürlichen Schneedecke. Auch erkennen wir die Notwendigkeit, dass wir uns an das sich wan-
delnde Klima anpassen müssen. Aber: Es gibt Inversionslagen und Kälteseen, wo im Tal zeitweise bessere Beschneiungsbedingungen herrschen als weiter oben.
Was genau sind Inversionslagen?
Darunter verstehen wir ein Phänomen, bei dem sich im Talboden die kalte Luft in sogenannten Kälteseen sammelt. Dort ist es oft wesentlich kälter als in höheren Lagen, also kann dort auch unterhalb von 1500 Metern technisch beschneit werden.
Wo gibt es im Gebiet der BDG solche Inversionslagen?
In Rougemont, Saanen, Zückerli, Saanenmöser und Schönried haben wir solche Inversionslagen. Dies bedeutet, dass gut beschneite Talabfahrten trotz tieferen Lagen sehr stabil sind – vor allem wenn sie nordexponiert oder schattig sind, wie dies bei uns oft der Fall ist.
Ohne technische Beschneiung geht allerdings gar nichts mehr.
Die Fakten sind klar: Der natürliche Winter wird kürzer und unregelmässiger, aber er verschwindet nicht. Damit unser Skigebiet weiterhin funktioniert,
brauchen wir gesicherten Schnee auf den Pisten und zwar nicht nur dann, wenn es halt genug geschneit hat. Eine umfassende Beschneiung ist wichtig für die Wertschöpfung in der gesamten Region. Hotels, Gastronomie, Skischulen, Detailhandel und das Handwerk: Alle profitieren von einer planbaren Saison.
Und diese Planbarkeit will die BDG schaffen?
Genau. Durch funktionierende Talabfahrten und Hauptachsen mit der bestehenden technischen Beschneiung. Und auch durch leistungsfähigere Anlagen, die innerhalb von 70 Stunden, ohne priorisieren zu müssen, das ganze Gebiet einschneien – Stichwort neuer Speichersee. Ohne moderne Beschneiung würden wir einen grossen Teil der regionalen Wertschöpfung riskieren und damit auch viele Arbeitsplätze.
Dreh- und Angelpunkt für eine Zukunft als Skiregion ist also eine noch effizientere Beschneiung?
Volkswirtschaftlich ist die Rechnung relativ simpel: Die Investitionen in den Speichersee und in die Beschneiung Chaltenbrunnen/Lengenbrand ermöglichen es uns, dass die gesamte Region auch in weit über 30 Jahren noch von
der Wertschöpfung aus dem Skibusiness profitieren wird.
Mit wie vielen Betriebstagen kann man denn in einem «normalen» Winter noch rechnen?
In unserem Kerngebiet bewegen wir uns typischerweise in einer Saison von Mitte Dezember bis Ende März. Entscheidend ist: Kompass Schnee zeigt, dass diese Lagen auch 2050 mit effizienter Beschneiung eine solide Saison ermöglichen. Und genau darauf richten wir unsere Investitionen aus.
Was ist ihr Fazit aus der Studie?
Wir haben ein gemeinsames Klimaverständnis, dass die dokumentierte Erwärmung da ist und im ähnlichen Rahmen weitergeht. Wir müssen jetzt entsprechend die Weichen für die Zukunft stellen. Und wir wissen, dass wir bereits auf einem guten Weg sind. Ich bin der festen Überzeugung: Wenn wir weiter in die Beschneiungssicherheit investieren, werden wir auch 2050 noch eine Schneesportdestination sein und wir können über die nächsten 30 Jahre weiter volkswirtschaftlich davon profitieren. Wir brauchen keinen Meter Schnee im Dorf, weil man Pisten hat, die höher liegen.
Tourismusdirektor Flurin Riedi im Interview
«Mit einer effizienten Beschneiung ist auch 2050 eine solide Saison möglich»
INTERVIEW: KEREM S. MAURER
Flurin Riedi, Sie sind als Tourismusdirektor von Gstaad Saanenland Tourismus (GST) und als Mitglied des Verbands Schweizer Tourismusmanager quasi Mit-Auftraggeber der Studie Kompass Schnee. Warum haben Sie da mitgemacht?
Ich habe mich fast ein wenig aufgedrängt, weil auch wir seitens GST uns regelmässig mit der Frage auseinandersetzen, welche Investitionen nötig sind, um langfristig eine nachhaltige erfolgreiche Wintersaison sicherstellen zu können. Ohne faktenbasierte Grundlage fehlte in der Vergangenheit oft auch das Verständnis für entsprechende Massnahmen. Mit dem Kompass Schnee haben wir nun ein Instrument, welches hoffentlich auf breiter Ebene akzeptiert wird und uns somit vermehrt Rückenwind gibt, um nötige und wichtige Massnahmen auch umsetzen zu können.
Das heisst, Sie sind mit dem Resultat zufrieden?
Ja, Kompass Schnee ist in der Praxis sehr gut anwendbar. Es ist ideal, dass schweizweit alle mit demselben Tool arbeiten. Es hilft, datenbasierte Einschätzungen zu machen und daraus entsprechende Massnahmen abzuleiten. Wenn man die nachhaltige Tourismusentwicklung als Auftrag versteht, geht es nicht nur darum, was heute und morgen aktuell ist, sondern es geht auch um die mittel- und langfristigen Themen. Und es wäre ja falsch, wenn wir heute in eine Richtung investieren würden, die übermorgen keinen Sinn mehr macht.
Wenn Sie Ihre bisherige Strategie mit den Resultaten der Studie vergleichen, was sticht Ihnen ins Auge?
Es bestätigt über weite Teile, dass wir mit unseren Plänen und angedachten Investitionen und Massnahmen nicht komplett daneben liegen.
Gibt es für die Destination aufgrund der Studie konkrete Massnahmen, die umgesetzt werden?
Jein. Wir haben den Handlungsbedarf ja nicht erst heute begriffen. Inzwischen dürfte jeder verstanden haben, dass es keinen Sinn ergibt, z.B. das Rellerli zu beschneien, weil es tief liegt und südexponiert ist. Das zeigt, dass wir damals, als wir den entsprechenden Entscheid gefällt haben, schon nicht ganz kopflos oder wenig vorausschauend unterwegs waren. Es gibt auch andere Beispiele, welche aufzeigen, dass sich unsere Region verschiedentlich bereits angepasst hat respektive anpassen muss. So haben wir auch diverse Anpassungen bei unserem Loipennetz vorgenommen – mit dem Ziel auch in Zukunft eine hohe Loipenqualität sicherzustellen. Dass bewusste Klimaanpassungen nicht immer auf offene Gegenliebe stossen – zeigt aktuell der Loipenabschnitt zwischen Gstaad und Feutersoey, welcher gerade stark im Fokus liegt.
Gibt es noch andere Klimaanpassungsprojekte bei GST?
Das Thema Klimaanpassung steht häufig mit dem Schneesport im Kontext. Doch die Klimaanpassung geht viel weiter als die Frage: Haben wir noch genug Schnee in 20 Jahren oder wo ergeben welche Investitionen in den Schneesport noch Sinn? Als Destination, welche vom Winter- und Sommertourismus lebt, müssen wir uns auf viel breiterer Ebene die Frage stellen, was es braucht, um nachhaltig erfolgreich vom Tourismus leben zu können. Die Tourismusstrategie 2025+ widmet sich genau dieser Frage und zeigt gut auf, wo welche Entwicklung nötig ist. Sei dies z.B. die Investition in ein attraktives Mountainbike-Angebot, die Etablierung von Events im Winterhalbjahr, aber selbstverständlich auch die Investitionen in die Beschneiungsinfrastruktur.
Wohin geht also die Reise?
Das Sprichwort «Das eine tun, das andere nicht lassen» scheint mir passend zu unseren aktuellen und künftigen Herausforderungen! Und wenn wir wie in den vergangenen Jahrzehnten weiterhin vorausschauend agieren, wird unsere Region auch in Zukunft eine in vielen Belangen erfolgreiche Vorzeigeregion sein!