«Das Care Team des Kantons oder der Dorfpfarrer können in schwierigen Situationen zugezogen werden»

  16.04.2021 Interview

Tom Schild und Christian Brand prägten die Feuerwehren von Gsteig und Saanen während der vergangenen zwei Jahrzehnte. Im Interview erzählen sie, wie sie emotional mit schwierigen Ereignissen umgingen und sagen, dass Grösse und Kraft nichts darüber aussagen, ob jemandem eine schwierige Situation zu schaffen mache oder nicht.

BLANCA BURRI

Tom Schild und Christian Brand, seit dem 1. Januar dieses Jahres sind Sie nicht mehr bei der Feuerwehr. Schlafen Sie heute besser als damals?
Tom Schild (TS):
Sag du zuerst. (lacht)
Christian Brand (ChB): (lacht mit) Die Alarmbereitschaft hat mich nie belastet. Ich konnte einfach ins Bett liegen und schlafen.

Haben Sie den Alarm jeweils gehört oder habe Sie so tief geschlafen, dass Sie ihn nicht wahrgenommen haben?
ChB:
Das schon nicht. Natürlich lagen der Pager und das Natel immer direkt neben dem Bett, aber gehört habe ich sie schon.
TS: Wenn ich erwachte, war ich manchmal etwas schlaftrunken und da kam es einmal vor, dass ich statt mit den Feuerwehrhosen in Turnhosen aus dem Haus bin. Deshalb legte ich die Feuerwehruniform in Föhnnächten, wenn wir besonders oft ausrücken mussten, vorsorglich neben das Bett. (schmunzelt)

Sind Sie auch bei den Fehlalarmen selbst ausgerückt?
ChB: Ein Alarm erweist sich erst dann als Fehlalarm, wenn man sich vom Gegenteil überzeugen konnte. Die meisten Brandmeldeanlagen reagieren auf Rauch und nicht auf Wärme, weshalb es öfter zu Fehlalarmen kommen kann. Ich rückte so oft wie möglich aus. Einzig in den vergangenen zwei Jahren habe ich mich etwas zurückgezogen. Das Kader hat mich entlastet.

Tom Schild, was ist Ihr Verhältnis zu Feuer, Wasser und Sturm?
Das ist Natur. Ich finde ein kontrolliertes Feuer etwas Faszinierendes. Ich schaue ihm gerne zu, manchmal eine halbe Stunde, zum Beispiel wie ein Holzstück in sich zusammenfällt. Auch Sturm mag ich bis zu einer gewissen Windstärke. Ich fühle diese Faszination für alle Elemente.

Was braucht es, damit man überhaupt in die Feuerwehr darf?
ChB:
Eine gewisse geistige und körperliche Fitness, der Wille, an den Übungen teilzunehmen und Teamfähigkeit. Einzelkämpfer haben in der Feuerwehr keinen Platz.

Gibt es eine Alterslimite?
TS:
Die Gemeinde kann die Feuerwehrpflicht selbst festlegen. In Gsteig dürfen 22- bis 52-Jährige in die Feuerwehr.
ChB: In Saanen liegt die Obergrenze bei 50 Jahren. Früher durfte man sich frühestens mit 25 Jahren bewerben, diese Alterslimite liegt heute bei 20 Jahren.

Hat die untere Altersbegrenzung mit der Reife der jungen Männer und Frauen zu tun?
TS: Nein, mit der Verfügbarkeit. Die jungen Leute besuchen nach der Lehre die Rekrutenschule und sind deshalb ortsabwesend. Im Anschluss gehen viele auf Reisen. Mit 22 Jahren fangen die meisten ein etwas beständigeres Leben an.

Gibt es im Saanenland eine Jugendfeuerwehr?
ChB:
Nein, noch nicht. Das Einführen der Jugendfeuerwehr in der Feuerwehr Saanen wurde im letzten Jahr vom Kader geprüft. Ein paar junge Leute haben den kantonalen Grundkurs besucht und nehmen auch an den kantonalen Weiterbildungen teil.

Wäre das eine gute Art, um Nachwuchs zu fördern?
ChB:
Auf jeden Fall, aber die Einführung einer Jugendfeuerwehr benötigt Ressourcen, die im letzten Jahr nicht vorhanden waren. Ideal wären separate Übungen für die jungen Leute. Dies umzusetzen, entspricht einem enormen Personalaufwand.

Die Jugendfeuerwehr könnte helfen, Nachwuchs zu fördern …
TS:
Bisher hatten wir immer genug Leute, deshalb konnte der Feuerwehrzwang in den letzten Jahren weggelassen werden. Im Gegenteil, weil die jungen Menschen wussten, wer alles in der Feuerwehr ist, kamen sie gerne. Es ist eine aufgestellte Truppe aus den unterschiedlichsten Bereichen. Die Kameradschaft und das Bier nach der Übung schweisst uns zusammen. Natürlich würden wir die Jugendfeuerwehr anbieten, wenn die Nachfrage bestanden hätte.

Hat Saanen genug Nachwuchs?
ChB:
Wir hatten vielleicht eher etwas mehr Nachwuchsprobleme in den vergangenen Jahren, genau gleich wie andere Gemeinden im Kanton. An den letzten Infoabenden konnten dank engagierten Organisatoren aus dem Kader einige junge Leute rekrutiert werden.

Was hat sich in den vergangenen Jahren signifikant verändert?
(langes Schweigen)
TS: Viel. Sehr viel. Eigentlich hat sich alles um 180 Grad gedreht. Die Ansprüche an die Feuerwehr sind extrem gewachsen.

Wer hat in diese Richtung gestossen?
TS:
Die Gebäudeversicherung, würde ich sagen.
ChB: Materiell fordert die Gebäudeversicherung viel mehr als früher. Das kann ich am Beispiel der Wärmebildkamera erklären, welche die Feuerwehren auf Druck der Versicherungen anschaffen mussten. Man kann sie nicht einfach kaufen und ins Lager stellen. Es braucht Ausbildungen, damit die Spezialisten sie nutzen können, sonst deutet man das Gesehene falsch. Es braucht dafür recht viel Training. Und so geht es bei allen Geräten, die wir beschaffen müssen, egal ob im Atemschutz oder bei der Personenrettung.
TS: Ich habe 1994 mit vier Übungen pro Jahr begonnen. Heute sind wir bei zehn regulären Übungen. Jede Sparte fordert zusätzliche Übungen, sodass viele Feuerwehrleute zuletzt bei 22 Übungen sind. Wir rücken also alle zwei Wochen aus, ohne dass die Ernstfälle mitgezählt werden.

Wie gut ist die Entschädigung?
TS:
Das ist pro Gemeinde verschieden geregelt. In der Gemeinde Gsteig ist die Besoldung in Ordnung. Die Feuerwehr setzt sich nicht wegen des Geldes, sondern als Dienst an der Allgemeinheit ein. Ich finde, dies soll in einem angemessenen Rahmen entschädigt werden.
ChB: Bei uns ist das ähnlich. Aus monetären Gründen geht man nicht in die Feuerwehr, sondern wegen der Materie und der Kameradschaft sowie der Gewissheit, für die Öffentlichkeit etwas gutes zu Tun.

Sind Frauen in der Feuerwehr willkommen?
ChB:
Vor Jahren hatten wir eine Frau in der Feuerwehr und im letzten Jahr hat wieder eine junge Frau begonnen. Die Feuerwehr Saanen ist also offen für das weibliche Geschlecht, ich finde einfach, dass alle gleich behandelt werden und gleich viel leisten sollen.
TB: Wir hatten verschiedentlich Interessentinnen, jedoch kam es nie dazu, dass eine Frau Mitglied wurde. Wir haben es wohl nicht aktiv gesucht, aber wir sind offen dafür.

Hat die psychische Belastbarkeit aus Ihrer Sicht mit dem Geschlecht zu tun?
TS: Das kann man so nicht sagen. Es gibt auch grosse starke Männer, die das Erlebte nicht verarbeiten können. Manchmal wurde ich von schmächtigen Menschen überrascht, bei denen ich davon ausging, dass sie vielleicht Schwierigkeiten hätten. Sie gingen vorbildlich mit schwierigen Bildern um.

Die Feuerwehr wird bei Bränden, Autounfällen und Überschwemmungen gerufen. Lernen die Feuerwehrmänner in der Ausbildung, wie sie das Erlebte verarbeiten können?
ChB:
In der Grundausbildung gibt es diesbezüglich keine Schulungen. Das wird erst in der Kaderausbildung thematisiert. Das Care Team des Kantons oder der Dorfpfarrer können in schwierigen Situationen zugezogen werden. Ich habe das Gefühl, dass dieser Bereich nicht geschult werden kann.

Was hilft, um Abstand zum Erlebten zu gewinnen?
TS:
Während meiner Einsätze gab es glücklicherweise keine Personen- oder Tierschäden. Wenn ein Haus oder etwas Ähnliches gebrannt hat, haben die Menschen Materielles verloren. Deshalb bin ich nicht sicher, ob ich die richtige Person bin, um hier Auskunft zu geben. Ich glaube aber, dass man den Umgang mit den Bildern von verletzten oder verstorbenen Personen nicht lernen kann. Ich glaube, es gibt keinen Trick. Man merkt erst, wenn man in der schwierigen Situation steckt, ob man damit umgehen kann oder nicht. In den vergangenen Jahren wurde mit dem sogenannten Debriefing immer mehr Wert auf den Verarbeitungsprozess der Einsätze gelegt.
ChB: Wichtig ist, dass man sich nach dem Ereignis nicht zu Hause verschanzt und alles in sich hineinfrisst. Man sollte über das Erlebte reden, die Hilfe, die einem angeboten wird, annehmen. Der Verarbeitungsprozess dauert meist mehrere Tage, Wochen und sogar Monate. Auch als Kamerad versuchte ich mit den betroffenen Personen in Kontakt zu bleiben.

Wo sind die schlimmsten Bilder zu erwarten?
ChB:
Bei der Personenrettung bei Unfällen. Wenn diese Einheit zu einem Unfall gerufen wird, ist das meist kein gutes Zeichen. Aber dafür sind wir ja da.

Können Sie ein Beispiel nennen?
ChB:
Ich war bereits seit vielen Jahren bei der Luftrettung und der Strassenrettung. Ich hatte also bereits vieles erlebt und gesehen. Einmal wurde die Personenrettung zu einem Unfall aufgeboten. Zwei junge Menschen sind bei diesem Unfall ums Leben gekommen und wir mussten sie aus dem Wrack bergen. Als ich bemerke, dass diese jungen Leute aus meiner Verwandtschaft sind, musste ich einen Schritt zurücktreten. Ich konnte nicht weitermachen. Ich glaube, das ist auch wichtig, denn je besser man eine Person kennt und je jünger sie ist, desto näher gehen einem die Schicksale. Die Feuerwehr ist ein Team und man hilft einander. Deshalb ist es absolut in Ordnung, wenn man zurücksteht. An der Front ist man nichts wert, wenn einen der Verunfallte persönlich betrifft. Ich habe meinen Leuten stets gesagt: Habt die Grösse, zurückzustehen. Es ist auch in Ordnung, den Dienst zu quittieren, wenn einem die Bilder zu nahe gehen. Im ländlichen Gebiet ist die Betroffenheit wahrscheinlich grösser, weil jeder jeden kennt.

Wie gehen Sie mit Bränden um?
TS:
Es ist tragisch, wenn eine Familie alles verliert. Aber da es sich um einen materiellen Verlust handelt, kann ich persönlich damit umgehen. Mir ist jedoch klar, dass bei einem Totalbrand alles verloren geht, auch alle lieb gewonnenen Erinnerungsstücke. So ein Ereignis prägt die Betroffenen, da fühle ich mit. Früher haben wir versucht, Fotoalben zu retten, heute schaffen wir möglichst schnell alle Computer aus dem Haus, weil sich darauf meist alles befindet, von den Fotos bis hin zur Korrespondenz oder Buchhaltung. Aber eben, manchmal ist man einfach auch zu spät. Gerade bei Föhn breitet sich das Feuer viel zu schnell aus, dann ist nichts mehr zu retten. Bei Windgeschwindigkeiten von 100 Kilometern pro Stunde ist man chancenlos. Auch das Retten von Alphütten ist meist ein schwieriges Thema. Die Anfahrt ist lang und der Wasserbezug nur beschränkt möglich, was die Rettung schwierig macht. Dann konzentrieren wir uns auf das Retten des Viehs und der Mobilien und das Schützen der umliegenden Gebäude.

Gibt es auch dankbare Situationen?
ChB:
Ja, sehr oft. Manchmal melden sich die Geschädigten später, um sich zu bedanken. Das berührte mich immer sehr, egal, ob nach einem schweren Unfall oder der Rettung einer Katze.

Apropos Katze, gibt es auch lustige oder skurrile Rettungsaktionen?
TS:
(lacht) Ich war damals zwar nicht dabei, doch die Geschichte muss erzählt werden: Einmal ist auf einem Berg eine Ziege in ein Plumpsklo gefallen. Aus unerfindlichen Gründen riss sich niemand darum, sie zu retten. Schliesslich überwand sich einer der Feuerwehrmänner, ging ins Häuschen, entfernte den Holzladen des Plumpsklos und «reckte» in die Sch…
ChB: Ich erhielt einmal einen Anruf von jemandem, dessen Weidenkorb auf dem Fahrrad brannte. Ich fragte, ob er mich auf den Arm nehmen wolle. Doch die Person blieb ernst. Weil ich sowieso in der Gegend war, ging ich kurz bei ihr vorbei und in der Tat hatte der Weidenkorb ein ausgebranntes Loch. Niemand wusste, wie der Brand entstanden war. Ich vermute, dass eine brennende Zigarette die Ursache war.

Ich komme noch einmal zur Katze zurück. Gibt es viele Katzengeschichten?
TS:
Ja, eigentlich schon. In der Regel kommen die Katzen selbst wieder aus der misslichen Lage, wenn man genug lange wartet. Weil die Besitzer oft einen Schreck bekommen und deshalb unbeholfen reagieren und sich Sorgen machen, helfen wir natürlich gerne. Es kommt ja nicht jede Woche vor. Und die Leute sind sehr dankbar. Nur als wir einmal wegen Ameisen angerufen wurden, sind wir nicht ausgerückt. Da können wir nun wirklich nicht helfen.
ChB: Als ich am Tag nach einem Brand wegen Nachlöscharbeiten auf den Schadenplatz ging, ist mir eine junge Katze aufgefallen, die um das zerstörte Gebäude «tigerte». Ich wusste nicht, ob sie zu diesem Objekt gehörte und es herrschten Minustemperaturen, also habe ich sie kurzerhand in meine Feuerwehrjacke gepackt und so den ganzen Vormittag mit mir herumgetragen. Sie hat sich ausgesprochen wohlgefühlt. Es hat sich dann herausgestellt, dass sie zum Nachbargrundstück gehörte.

Verrechnen Sie solche Einsätze?
TS: Es kommt auf die Situation an. Bei Grobfahrlässigkeit schon, aber sonst nicht. Fahrlässig ist zum Beispiel, wenn sich ein Schaden durch einen Hund ereignet, wenn eigentlich Leinenpflicht gälte, der Hund jedoch nicht an der Leine geführt wurde. Aber sonst sind viele Einsätze auf der Basis des Wohlwollens, die gehen zulasten der Gemeinde. Anders ist es beispielsweise bei Einsätzen von Ölverlust. Wenn der Verursacher bekannt ist, wird der Einsatz verrechnet und wenn nicht, kommt die Gemeinde für die Kosten auf.

Christian Brand, Sie sind wie Tom Schild passionierter Jäger. Gehen Sie nun gemeinsam auf die Jagd?
Zusammen waren wir noch nie auf der Jagd. Das machen wir eher alleine oder mit den Jagdkollegen, mit denen wir schon lange unterwegs sind. Hier möchte ich aber anfügen, dass ich die Zusammenarbeit mit Tom Schild auch im Amtsverband sehr geschätzt habe.
TS: Die Zusammenarbeit der regionalen Feuerwehren war immer einwandfrei.

Tom Schild, Sie waren 26 Jahre lang in der Feuerwehr. Wissen Sie mit der neu gewonnenen freien Zeit etwas anzufangen?
Ich kann mich gut beschäftigen. (lacht) Ich bin sehr gerne in der Natur, beobachte Tiere und fotografiere sie. Je nach Saison bin ich beim Pilzesammeln oder Jagen anzutreffen. Wir geniessen den neuen Lebensabschnitt auch in der Familie. Ich mochte die Zeit in der Feuerwehr, das Hand-in-Hand-Arbeiten und die Kameradschaft, aber ich vermisse sie nicht. Ich freue mich über die neu gewonnene Freiheit, dass ich den «Knochen» nicht ständig dabei haben muss oder ruhigen Gewissens auf lautlos stellen kann.

Und bei Ihnen, Herr Brand?
Bei mir ist es genau gleich. Es war eine sehr gute und intensive Zeit, auf die ich gerne zurückschaue. Die Abende frei zu haben, ist Qualität, die ich geniesse! Nebst meinem Beruf bin ich auf unserem kleinen Landwirtschaftsbetrieb tätig, wo wir Hirsche züchten und Rinder halten. Daneben fahre ich gerne Motorrad und geniesse die Zeit mit meiner Partnerin – am Wochenende gerne in der Berghütte.


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