Vor 220 Jahren: das Inferno von Château-d’Oex

  24.07.2020 Region

In der Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1800 – mitten in einer Hitzeperiode und politisch chaotischen Zeitepoche – wird der Dorfkern von Château-d’Oex durch ein verheerendes Inferno fast vollständig ausgelöscht. Was ist passiert? Welches sind die Umstände, die dazu geführt haben? Was sind die Folgen? Unsere Zeitreise in die Vergangenheit versucht, Antworten darauf zu finden.

MARTIN GURTNER-DUPERREX
Es ist ein aussergewöhnlich heisser Sommer in jenem schrecklichen Jahr 1800. Es hat während Wochen nicht geregnet, alles ist ausgetrocknet und spindeldürr. Die Behörden von Château-d’Oex sind nervös und voller Sorge. Man weiss sehr genau um die drohende Gefahr, denn das Dorf ist schon 1664 und 1741 abgebrannt. Ausserdem sind in der weiteren Region schon Dörfer und Städtchen in Flammen aufgegangen. Es reicht eine kleine Unachtsamkeit – ein Knecht, der seine Kerze ungeschickt in den Stroh fallen lässt, eine Magd, die beim Einfeuern unvorsichtig hantiert, der Funke einer übermütigen Schmiede – und schon brennt es lichterloh! Man hat alle möglichen Vorkehrungen getroffen: Die freiwillige Feuerwehr führt regelmässig Übungen durch und besitzt für den Notfall fünf Handwasserpumpen. Ein neuer Brunnen ist in der Nähe des Dorfplatzes in Betrieb genommen worden. Die Kerzen müssen in geschlossenen Laternen herumgetragen werden. Den Bauern ist es untersagt, mit der brennenden Pfeife im Mund den Stall zu betreten. Jeder Haushalt hält eine Leiter und einen Wassereimer für den Notfall parat. Aber leider sollte trotzdem alles vergebens sein.

Unheilvoll rot gefärbter Himmel
In der Nacht vom 27. auf den 28. Juli bricht um 1.30 Uhr früh aus unbekannten Gründen in einer Boutique mitten im Dorfkern ein Brand aus. Das Feuer hüpft rasend schnell von einem Schindeldach zum anderen, zuerst um den Dorfplatz herum und danach weiter entlang der Dorfstrasse.

Trotz des schnellen Einsatzes der Handpumpen und des Wassers aus dem neuen Dorfbrunnen kann der Brand von den Feuerwehren von Château-d’Oex und Rossinière nicht unter Kontrolle gebracht werden. Über brennende Büsche und Baumwipfel fängt das schöne, nach Berner Art gebaute hohe Spitzdach des Kirchturms auf dem Hügel Feuer und stürzt unter grossem Getöse und einer gewaltigen Wolke von Funken ein.

Die Menschen versuchen verzweifelt zu retten, was noch zu retten ist: Mit nassen Tüchern werden isolierte Häuser so gut wie möglich geschützt, Hecken und Holzzäune werden eiligst umgehackt, um die Wut des Infernos einzudämmen.

In jener Nacht wird der unheilvoll rot gefärbte Himmel über den Freiburger Voralpen von Nyon am Genfersee bis nach Neuenburg beobachtet.

Scharmützel am Col des Mosses
Es sind politisch unruhige Zeiten – ein Unglück kommt ja bekannterweise selten allein. Das Pays-d’Enhaut, das fast dreihundert Jahre zur bernischen Vogtei Saanen-Gessenay gehört hat, ist zwei Jahre vorher von den französischen Revolutionsheeren unter Napoleon Bonaparte gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung zwangsbefreit und dem neuen Kanton Léman – dem späteren Kanton Waadt – zugeschlagen worden.
Am Col des Mosses haben noch 1798 Scharmützel mit berntreuen Milizen stattgefunden, nun drohen umherstreichende französische Soldaten, Dörfer zu plündern und abzubrennen. Die Sorge, dass dem Dorf etwas Ähnliches widerfahren könnte, ist also nicht unbegründet. Der Dorfbrand von Château-d’Oex ist aber ziemlich sicher auf einen Unfall zurückzuführen und nicht auf Brandstiftung – trotz gegenteiliger Gerüchte.

Strafe Gottes
Das Ausmass der Katastrophe ist schockierend: 42 Wohnhäuser, 18 Scheunen und Ställe, vier Getreidespeicher und 27 Läden voller Waren werden in Schutt und Asche gelegt, die Kirche wird stark beschädigt. 52 Familien verlieren sämtliches Hab und Gut. Wie durch ein Wunder kommt «nur» ein alter Schuhmacher beim Versuch, in sein brennendes Haus zurückzukehren, ums Leben. Glücklicherweise ist das Vieh zur Sömmerung auf den Alpen und kommt nicht zu Schaden. Die wenigen Tiere, die sich vor Ort befinden, können gerettet werden. Diese Tatsache ist mitverantwortlich dafür, dass die Familien nach dem Unglück wirtschaftlich überleben können. Viel schwieriger ist die Situation für die meisten Geschäftsinhaber, sie haben buchstäblich alles verloren.

Am Sonntag nach dem Brand zelebriert Pfarrer Philippe-Sirice Bridel einen Gottesdienst auf dem von rauchenden Brandruinen umrahmten Dorfplatz. Er improvisiert einen Steinhaufen als Kanzel und predigt, dass dies die Strafe Gottes für den schlechten Lebenswandels der Gemeinde sei. Zutiefst beklagt er den Verlust von 36 Hausbibeln ...

Grosse Welle der Solidarität
Gerade drei Gebäude des Dorfes haben das Inferno heil überstanden, darunter das neue Pfarrhaus mit den Papieren und dem Archiv des Pfarrers. Dessen grosser Keller dient nun als Lagerraum für die Hilfsgüter und Nahrungsmittel, die aus den umliegenden Bauernbetrieben herbeitransportiert werden.

Das Unglück löst auch bei den Nachbarn eine grosse Welle der Solidarität aus. Da auch die vier Bäckereien samt Getreide und Mehl verbrannt sind, wird das Brot nun in Rougemont gebacken. Die Gemeinde Saanen spendet ebenfalls 500 Kilogramm Brot. Aus Saanen, Greyerz, Bulle, Vevey und Lausanne rollen Wagen voller Kleider und Wäsche ins Pays-d’Enhaut, die von den Frauen sortiert und unter den notleidenden Familien verteilt werden.

Ein streitbarer Pfarrer
Der streitbare reformierte Pfarrer Philippe-Sirice Bridel – er macht im Gegensatz zu seinem Rivalen Jean-Gabriel Henchoz in Rossinière nicht den geringsten Hehl aus seiner Treue zu Bern und dem alten Regime – nimmt den Wiederaufbau des Dorfs energisch in die Hand. Da der Pfarrer in der ganzen Schweiz einflussreiche Beziehungen hat, beauftragt ihn die Gemeinde damit, eine Kollekte zugunsten des Wiederaufbaus zu organisieren.

Er stellt aber eine Bedingung: Das Dorf müsse sicherheitshalber mit Steinen und Dachziegeln wieder aufgebaut werden, statt mit Holz und Schindeldächern. Dies ist für die Dorfbewohner schwer zu akzeptieren, denn eine solche Bauweise ist teuer und sie sind es gewohnt, mit Holz zu arbeiten. Aber der Pfarrer setzt sich hartnäckig durch. Auf einer Tournee, die ihn über Neuenburg bis nach Basel führt, sammelt er über 5000 Franken – eine enorme Summe für diese Zeit. Auch die Regierung der neuen helvetischen Republik hilft, indem sie in den Provinzen Freiburg, Oberland und Léman Wechsel zugunsten des schwer betroffenen Bergdorfs ausschreiben lässt.

Wie der Phönix aus der Asche
Um das Dorf und das grosse Hôtel de Ville wieder aufzubauen, müssen eigens Maurer aus Italien engagiert werden, weil niemand in der Region das Handwerk kennt. Die Steine werden aus einem lokalen Steinbruch hergebracht, der Sand aus der Saane herauftransportiert. Der Wiederaufbau dauert gerade mal zwei Jahre, schon im Dezember 1802 kann die Kirche feierlich eingeweiht werden.

Der katastrophale Brand bedeutet für Château-d’Oex – ähnlich wie nach dem Gstaadbrand fast 100 Jahre später – einen Neuanfang. Aufgrund der Zunahme der englischen Feriengäste eröffnen bald darauf die ersten Fremdenpensionen sowie Hotels. Das Dorf entwickelt sich innert kurzer Zeit wie der Phönix aus der Asche zu einem international renommierten Luft- und Winterkurort.

Quellen: David Birmingham, «Château-d’Oex – Mille ans d’histoire suisse», 2005; Musée du Pays-d’Enhaut


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