«Wir sind eine Familien-WG»

  24.05.2019 Gstaad

Eine Familie, vier Menschen, sehr viel sportliches Engagement. Eine Annäherung an die unzähligen Rollen, welche Mägi, Ruedi, Nils und Tim Kunz Tag für Tag einnehmen. Was alle verbindet, ist die Freude an dem, was sie tun.

SARA TRAILOVIC
Zuerst betritt Margot Kunz, bekannt als Mägi, das sonnendurchflutete Chalet Madora in Gstaad. «Die Jungs kommen jeden Moment.» Kurze Zeit später treten Ruedi Kunz und die zwei Söhne Nils (17) und Tim (16) in das Turnierbüro der Beach Volleyball Major Series. Es ist Ostersamstag und der Morgen vor dem entscheidenden Eishockeyspiel zwischen dem SC Bern und dem EV Zug. Auf die Frage, für welches Team die Herzen schlagen, kommen nur zögernd Reaktionen. Ruedi wird nämlich bei der eventuellen Medaillenübergabe mitwirken, und auch Tim hält sich mit einem Statement zurück. Nur Nils votet ganz klar für den SCB – wieso, wird kurze Zeit später klar.

Eine Familie, viele Rollen
Tim spielt bei den Elite-Novizen des EHC Biel und wohnt dort bei einer Gastfamilie. Auch seine kaufmännische Lehre absolviert er im Seeland. Zu Beginn sei es schon schwierig gewesen, Familie und Kollegen immer wieder zu verlassen, doch mittlerweile sagt Tim: «Neben der Arbeit und sieben Trainings pro Woche bleibt keine Zeit für Heimweh.» Der ein Jahr ältere Nils hingegen pendelt zwischen Adelboden und dem Saanenland hin und her, zwischen Eishockeytraining im Erstliga- und Junioren-Top-Team und seiner Lehrstelle als Hochbauzeichner in Schönried.

Und Vater Kunz? «Wo fängt er jetzt bloss an», schmunzelt seine Frau. Ruedi holt aus: «Also, zum einen bin ich Geschäftsleiter vom Sportzentrum, dann Turnierdirektor vom Beach und Präsident beim Hockeyclub Gstaad-Saanenland.» In diesem Moment klingelt sein Telefon. «Kann ich dich später zurückrufen? Danke» – die Familie lacht: «Wie passend …» Ruedi Kunz fährt unbeirrt fort: «Ich habe 365 Tage im Jahr mit Sport zu tun und habe damit mein Hobby zum Beruf gemacht.» Als Präsident von Swiss Top Sport – Vereinigung der 20 grössten Schweizer Sportevents – und IT-Projektleiter bei Swiss Ice Hockey könne er die spannenden Entwicklungen im nationalen Sportwesen direkt beobachten und beeinflussen. Die Stellenprozente könne man nicht mehr auf einer Skala von null bis 100 darstellen, meint der 58-Jährige. «Doch ich habe Freude an der Arbeit, der Sport ist grundsätzlich etwas sehr Positives.»

Mägi kann den Sport mittlerweile klar ihrer Freizeit zuordnen. «Ich hatte das nicht geplant, aber seit vier Jahren arbeite ich wieder auf meinem Erstberuf als Primar- und Werklehrerin in Saanen.» Nebenbei organisiert sie das Programm der Soroptimists Gstaad-Saanenland. «Ich bin offiziell nicht mehr im Beach-Büro aktiv, aber im Hintergrund helfe ich mit, wo ich kann und versuche, meine Erfahrung und mein Wissen einzubringen. Im letzten Jahr habe ich ein Jubiläumsbuch über 20 Jahre Beach-Turnier Gstaad geschrieben, das nun Ende Mai erscheinen wird.»

Gemeinsame Essen sind selten
Die ganze Familie sitzt an einem Tisch. Ein eher seltenes Bild? «Zwei- bis dreimal pro Woche essen wir schon zusammen Zmittag – halt ohne Tim», schätzt Nils. Seine Mutter ergänzt: «Wir versuchen in der Zwischensaison am Sonntag alle vier zusammen zu brunchen, im Winter ist das fast nie möglich.» Ruedi mischt sich ein: «Nils und ich essen im Sommer auch unter der Woche öfters zusammen.» Mägi Kunz nickt. «Es ist ein Kommen und Gehen, wir sind eine Familien-WG momentan.»

Arbeit und Vergnügen verschmelzen
Ruedi Kunz braucht nicht viel, um sich von seinen unzähligen Terminen zu erholen: «10 vor 10 und Sport News, dann geht es mir gut», oder ein Nickerchen zur Mittagszeit, abschalten könne er jeweils schnell. «Ich denke, das Wesentliche ist, jeden Tag aufzustehen und sagen zu können: Ich habe Freude an dem, was ich mache» – «Wenn das nicht so ist, sollte man etwas ändern», unterstützt seine Frau die Aussage.

Wenn Nils und Tim gerade nicht auf dem Eis stehen oder im Lehrbetrieb arbeiten, machen sie gerne einfach mal nichts. «Wenn ich nach Gstaad komme, bedeutet das für mich Freizeit», erzählt der 16-jährige Tim. In seinem Alltag habe er wenig Freizeit im klassischen Sinne, doch das störe ihn nicht. «Der Leistungssport verbindet für mich Arbeit und Vergnügen, besonders während der Wintersaison.» Der Druck sei zwar gross und das Sommertraining hart, aber die Freude überwiege ganz klar. Nils geht es ähnlich, mit dem Unterschied, dass Hockey für ihn vor allem Ausgleich zur Lehre ist. «Ich dachte diese Saison nie, das Pendeln ist mir verleidet.» Sein Team sei extrem cool und mache den Weg wett. «Solange es Spass macht, mache ich es.»

Unterschiedliche Eisbahnen
Ein Hauptgrund, wieso die vier (fast) jeden Morgen motiviert aufstehen, ist Sport. Ruedi und Mägi waren in jüngeren Jahren selbst als Eishockeyspieler und professionelle Beachvolleyballerin aktiv. Mittlerweile überlassen sie den Leistungssport ihren beiden Söhnen.

Tim Kunz holte mit den Elite-Novizen des EHC Biel-Bienne Spirit die Bronzemedaille. Nils Kunz ist mit dem EHC Adelboden in die nächsthöhere Kategorie der Junioren Top aufgestiegen. Beide wollen auch weiterhin voll auf Sport setzen und zielen die National Hockey League an.

Nils steht mit Überzeugung auf dem Eis, seit er vier Jahre alt war. Mit 12 Jahren wechselte er nach Bern, eine riesige Organisation für die ganze Familie. Doch er habe schnell gemerkt, dass ihm die Mentalität im grossen Klub nicht entspreche. «Ich wählte schliesslich einen familiäreren Weg», erzählt Nils. «In meinem jetzigen Team hat es jeder mit jedem gut, der Ellbogenkampf ist nicht so gross wie in Biel.» Tim kann dies bestätigen: «In den grösseren Clubs steht man besser da, wenn man nicht zu viel Rücksicht auf die Mitspieler nimmt und auf sich selbst schaut.» Bei Tim habe man nie genau gewusst, was rauskommt, sagt Ruedi Kunz, der nun schmunzelt: «Er hat im Training lieber Schneeengel gemacht und ist ‹gringsvora› in Schneehaufen gefahren.» Tim übernimmt das Wort: «Lange habe ich auch Fussball gespielt, mit 14 Jahren wurde mir aber plötzlich klar, dass ich voll aufs Hockey setzen möchte.» Seit diesem Moment setzt auch er sich hohe Ziele.

Der Vater lehnt sich mit ernster Miene nach vorne: «Beide Wege können zum Ziel führen und beide Wege sind steinig. Pro Jahrgang schaffen es zwei bis vier Spieler bis in die National League.» Im Vergleich zu seiner Jugend sei Eishockey heute eine andere Sportart. «Früher hatte man in der Nationalliga A zwei bis drei Trainings pro Woche …» Auch ziehe es immer mehr Spieler nach Amerika. «Das Familiäre ist in den oberen Ligen verloren gegangen», weiss der Projektleiter bei Swiss Ice Hockey. Er kommt zurück zur Sportkarriere seines Nachwuchses: «Die Vision, es ganz nach oben zu schaffen, darf man haben, dass es sicher reicht, jedoch nicht.» Es sei ein Spiel, das man nur teilweise beeinflussen könne. Ruedi Kunz klopft seinen beiden Söhnen liebevoll auf die Schultern. «Schaffen und dran bleiben.»

Sport als Persönlichkeitsbildung
«Ich finde Sport eine tolle Lebensschule, auch wenn es nicht bis zur Spitze reicht», äussert sich Mägi Kunz zu den Ambitionen ihrer Söhne. «Ich unterstütze sie voll, sie müssen einfach selber wollen. Die Mutter der beiden Jungs weiss, wie es ist, in einem Leistungsteam zu sein. Die 55-Jährige spielte während ihres Studiums in der Nationalliga A und später im Schweizer Nationalteam Volleyball. «Wir bieten das Umfeld und den Support, aber sie müssen selbst etwas daraus machen.» Die beiden Jungs hören ruhig zu, dann sagt Tim: «Manchmal musstet ihr schon hart sein und sagen, dass ich nicht einfach aufgeben kann in Biel. Ich wollte das alles, jetzt muss ich mich auch manchmal selber durchbeissen.» Ruedi Kunz betont: «Wenn sie es schaffen, dann ist es cool, aber der Sport ist so oder so top für die Persönlichkeitsentwicklung.» Den Biss, den es brauche, und die Dynamiken im Team würden bereits Wirkung zeigen. «Die Jungs übernehmen bei der Organisation des Beach-Turniers von sich aus immer mehr Verantwortung.

Was sie verbindet
Bei der Frage, ob die Familie Traditionen habe, antwortet Tim: «Natürlich das Beach-Turnier», die anderen nicken zustimmend. «Ausserdem versuchen wir, im Frühling, wenn die Hockeysaison zu Ende ist, mindestens eine Woche zusammen Ferien zu machen», fügt seine Mutter an. Ebenfalls ein Ritual unter den Eltern: die Yatzy-Runde zum Mittagskaffee.

Tim und Nils sind in der letzten Saison zusammen bei circa 120 Spielen auf dem Eis gestanden, was ganz automatisch zu einer weiteren Familienaktivität geführt hat: den Autofahrten von und zu Hockeyspielen. Und die Sportart schafft weitere gemeinsame Zeit. Vater Kunz ist Nils’ Trainer bei der Drittliga-Mannschaft in Gstaad. Der 17-Jährige weiss damit umzugehen: «Während dem Match kann ich das ohne Problem ausblenden und auch im Training fokussiere ich mich hauptsächlich auf mich selbst.» Der Eishockeytrainer betont, dass er seinen Nachwuchs nie bevorteilt habe. «Eher das Gegenteil war der Fall, sie mussten öfter beissen.» Tim Kunz, der bis zur Stufe «Mini» beim hiesigen Hockeyclub gespielt hat, fügt an: «Er hat uns schneller kritisiert als andere, und zu Hause war das Eishockey eben auch Thema Nummer eins am Esstisch.» Mägi Kunz verdreht die Augen und lacht: «Manchmal hätte es schon noch Platz für anderes …» – für andere Sportarten, zum Beispiel. Snowboardfahren, Fussball und Skaten stehen beim Nachwuchs neben Eishockey auf der Favoritenliste. «Mami wollte uns mal zum Biken bringen», merkt Nils an. «Das haben wir abgelehnt. Viel zu anstrengend», ergänzt Tim. «Wir lassen einander die Freiheit, das zu machen, was uns gefällt», verrät die ehemalige Profisportlerin ein Rezept zur Harmonie. Zum Glück gibt es aber genug Interessen, die sich überschneiden. «Vor Kurzem haben wir uns gemeinsam das Kitesurfen vorgeknöpft.»

Mittlerweile scheint die Sonne in steilem Winkel ins Sitzungszimmer. Vater Kunz: «Nils und ich fahren später nach Bern, ich muss noch an die Hauptprobe für die eventuelle Medaillenübergabe.» Tim lässt sich seine Freizeit in Gstaad nicht weiter verplanen, er treffe sich vielleicht noch mit ein paar Kollegen. Und Mägi überlässt das Eishockey heute ganz den Männern: «Ich bleibe am Abend zu Hause und vernähe afrikanische Stoffe für einen Basar.» Man merkt, wie der Tatendrang langsam die Überhand gewinnt. Wenige Augenblicke später sind die vier bereit zum Aufbruch. Nils und Mägi machen sich auf zum Aufräumen der Timeout Bar neben der Eisbahn, die sie während dem Winter mitgeführt haben. Ruedi und Tim gehen «Sagex» kaufen. «Daraus werden Tim und die ‹Ghüderpesches› Buchstaben schneiden fürs Beach-Turnier», sagt Ruedi – und schon sind sie weg.


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