Kirchenfenster Saanenland
29.12.2017 KircheDie Themen «Liebe» und «Tod», «Geburt» und «Erwachsenwerden» sind wesentliche Bestandteile alter und neuer Mythen. So unterschiedliche Erzählungen wie die Nibelungensage, die Harry-Potter-Geschichten, der Spielfilm «Titanic» und die Novelle «Die Muschelsucher» von Rosamunde Pilcher kreisen um die genannten Themen. Solche Bücher und Filme lösen Begeisterung und Schwärmerei aus; sie fanden und finden breiten Anklang, weil in ihnen die Grundelemente des Lebens zur Sprache kommen. Die Geburt eines Kindes, dessen Aufnahme in die Gemeinschaft der Erwachsenen, der Abschluss einer Ehe, Abschied und Begräbnis – jede und jeder kennt solche Erfahrungen und findet sich in Geschichten, die davon erzählen, wieder.
Nicht Alltag, sondern Ausnahme
Seit jeher begehen die christlichen Kirchen solche Ereignisse. Die Praxis ist im Laufe der Zeit vielerlei Veränderungen unterworfen, die Feier an Übergängen des Lebens aber war und ist eine wichtige Äusserung kirchlichen Lebens. Ihr Ausgangspunkt ist eine konkrete biografische Situation, in der Regel ein Anfang oder ein Abschied. Heute gehören die Taufe, die Konfirmation, die Trauung und die Abdankung zu den sogenannten Kasualien (von lateinisch «casus» für Fall, Zwischenfall, Vorfall). Der Anlass für solche Feiern fügt sich nicht in den gewöhnlichen Alltag, sondern liegt in einer biografischen Ausnahmesituation oder einem einschneidenden Ereignis. Eine solche Lebenslage stellt für alle Beteiligten den Ernstfall dar, denn sie sehen sich mit Geburt oder Tod oder Verantwortung konfrontiert und müssen sich, unter Umständen gänzlich unerwartet, mit diesen und ähnlichen Fragen auseinandersetzen:
– Was kann ich tun, wenn nichts mehr zu machen ist? (Abdankung)
– Wie kann ich Sorge tragen, ohne über das Leben zu verfügen? (Taufe)
– Kann Liebe ihre Freiheit binden? (Trauung)
– Wie können sich Jugendliche in Kirche und Gesellschaft einfügen, ohne in ihnen aufzugehen? (Konfirmation) Sogenannte Schwellensituationen, Übergänge von einer Lebensphase zur nächsten, unterbrechen den gewohnten Alltag und bedrohen dessen Beständigkeit. Ausnahmesituationen sind in der Regel emotional hoch besetzt. Zugleich können sie, weil in ihnen die Frage nach dem Geheimnis des Daseins auftaucht, zu religiöser Empfänglichkeit führen. Mit anderen Worten: Wer, gewollt oder unfreiwillig, vor einem entscheidenden Umbruch seines Lebens steht, sehnt sich in besonderer Weise nach Vergewisserung; er oder sie bedarf eines Sinn- und Deutungshorizontes, der die Banalitäten und Konflikte des Alltags übersteigt.
Gottesdienst, Seelsorge oder Unterricht
An diesem Punkt knüpft die evangelische Kirche an. Angesichts eines konkreten biografischen Ereignisses bietet sie an, eine individuelle Lebensgeschichte vor dem Hintergrund der christlichen Tradition zu deuten. Die Kasualien wollen gelebtes Leben – Erfahrungen, Ereignisse und Entscheidungen – auslegen und dazu beitragen, dass die Beteiligten eine Situation des Umbruchs unversehrt, heil und gestärkt bewältigen können. Diese kirchlichen Handlungen haben jeweils die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft im Blick; sie können als Feier (Gottesdienst), als Begleitung (Seelsorge und Gespräch) und als Lehre (Unterricht) in Erscheinung treten, in den meisten Fällen tun sie dies in einer Verknüpfung mehrerer Gestaltungsformen. Obwohl sie hervorgerufen werden durch Ereignisse im Leben eines Einzelnen, gelten sie dessen sozialen Bezügen und Beziehungen und stellen ein gewisses Mass an Öffentlichkeit her. Einen Kasualgottesdienst feiert niemand für sich alleine.
Um zu verstehen, was Kasualien zu leisten vermögen, hilft ein Blick in die Kulturwissenschaft. Diese kennt den Begriff «Ritual» und bezeichnet damit ein soziales Verhalten, das mit Regelmässigkeit zu bestimmten Anlässen und in immer gleicher Form abläuft. Mit anderen Worten: Ein Ritual lebt von der Wiederholbarkeit. Es stellt eine sinnliche Form der Kommunikation dar – Gerüche, Kleider, Musik, Gesten und Handlungen, die vier Elemente spielen eine wichtige Rolle – und folgt einer bestimmten Ordnung: Es verfügt über einen Anfang, einen Schluss und eine nachvollziehbare Verlaufsstruktur. Ein Ritual gibt Wissen der Vergangenheit mit dem Anspruch weiter, für die Gegenwart bedeutsam zu sein. Sein Ort sind Zonen der Ungesichertheit menschlichen Lebens; es will Ordnung herstellen, wo das Chaos herrscht. Eine Sonderform des Rituals ist das sogenannte Schwellenritual («rite de passage»): Dieses leistet den lebensgeschichtlichen Übergang zwischen einem «nicht mehr« und einem «noch nicht» und zwar indem es die Beteiligten von einem Früheren trennt und in ein Neues einfügt.
In der Moderne ist alles anders
Formal erinnern Taufe, Konfirmation, Trauung und Abdankung an rituelle Handlungen: Sie alle sind wiederholbar und strukturiert, verwenden sinnliche Kommunikationsformen, beziehen Inhalte aus der Vergangenheit und formulieren sie im Blick auf Gegenwart und Zukunft. Inhaltlich entsprechen die Kasualien einem Übergangsritual: Sie lösen aus einem bisherigen Status und gliedern ein in einen neuen lebensgeschichtlichen Zustand.
In der christlichen Kirche sind die Feierlichkeiten aus Anlass eines biografischen Wendepunktes seit jeher vor allem Sache der Familie. Ab dem 18. Jahrhundert führen Aufklärung und französische Revolution zu einer Aufwertung der bürgerlichen Kultur. Insbesondere seit dieser Zeit sind die Kasualien eng verwoben mit der Lebensform der bürgerlichen Familie. Diese freilich ist einem erheblichen Wandel unterworfen, Rollenmuster und Rollenvorgaben, zum Beispiel, verändern sich grundlegend. Dieser gesellschaftliche Umbruch ist Teil eines umfassenden Veränderungsprozesses. Und der wiederum hat Folgen für die kirchliche Praxis.
In der Spätmoderne hat sich der Einzelne nicht mehr, wie in früheren Zeiten, in den beruflichen, gesellschaftlichen oder sozialen Rahmen seiner Vorfahren zu fügen, sondern kann aus einer Vielzahl von Lebensentwürfen auswählen. Rollenvorgaben schmelzen dahin und Selbstverständlichkeiten gibt es kaum mehr, die Bindung an Tradition und Schichtzugehörigkeit ist gering, persönliche Entscheide sind nicht bindend, sondern umkehrbar und innerhalb derselben Biografie sind vielerlei Lebensformen möglich. Pluralisierung, Individualisierung und Reversibilität – so nennt die Soziologie die Kennzeichen der Spätmoderne. Und sie spricht auch von einem «alltäglichen Ringen um das eigene Leben». Will heissen: Der Einzelne kann nicht nur aus einer Vielzahl von Lebensmöglichkeiten auswählen, sondern muss dies tun. Immerzu ist er gehalten, sich für dieses oder gegen jenes zu entscheiden. So werden die eigene Biografie zum Projekt und das Leben zum Dauerstress. Weil überkommene Rollenmuster verblassen, muss ich mich selbst stets neu erfinden. Dies wiederum führt dazu, dass ich meiner selbst niemals sicher sein kann und gleichsam mir selbst hinterherjage. Zerbrechlichkeit und Beschleunigung sind ebenso Merkmale unserer Zeit.
Beschäftigung nur mit sich selbst
Um den Ansprüchen der spätmodernen Lebenswelt gerecht zu werden und ihre Anforderungen zu bewältigen, bedarf es fortwährender Selbstreflexion und Selbstkonstitution. Dem Einzelnen bleibt kaum eine andere Wahl, als sich vor allem mit sich selbst zu beschäftigen, um sich im Wust der Möglichkeiten zurechtzufinden und die Richtung der eigenen Biografie festzulegen. Weil die Vorgaben der Tradition eine nur noch geringe Rolle spielen, greift er zurück auf Experten und Vorbilder. In den vergangenen Jahren tauchte im Fernsehen, in Büchern und in sozialen Netzwerken ein neues Phänomen auf: Gelebtes Leben wird öffentlich erzählt und interpretiert. Offensichtlich suchen wir exemplarische Lebenserzählungen, um die eigene Lebensgeschichte identifizierend oder abgrenzend zu erschliessen. Augenscheinlich sind wir auf Beispielgeschichten und Lebensstil-Angebote angewiesen, um die eigene Geschichte und Lebensart zu finden.
Dieses spätmoderne Bedürfnis bedienen die Kasualien. Sie stellen eine Lebensgeschichte in den Mittelpunkt und ermöglichen den Beteiligten zunächst, sich darzustellen und zu vergewissern. Entscheidungen und Ereignisse einer Biographie werden zudem Gott zu Gehör gebracht; Taufe, Konfirmation, Trauung und Abdankung erlauben den Akteuren, die eigene Geschichte im Angesicht Gottes zu empfangen und zu erfahren, zu feiern und zu betrauern. Dieser festliche Akt geschieht unabhängig davon, ob die zur Debatte stehende Geschichte (vermeintlich) gelungen oder misslungen, (vermeintlich) erfolgreich oder gescheitert ist, denn er lebt von der Einsicht, dass die Würde des Menschen nicht in dessen Taten oder Untaten, sondern in der Zuwendung Gottes besteht. Kasualien benennen den Zwiespalt von Leid und Glück, von Schuld und Wohl, von Bruchstück und Meisterwerk, sie sprechen von der Verheissung Gottes, gelebtes Leben zu erhalten, zu kräftigen und zu verwandeln und sie reden auch inmitten von lebensbedrohenden Kräften der Zukunft das Wort.
Den Blick weiten
Die Feier anlässlich einer Taufe, Konfirmation, Trauung oder Abdankung gibt dem Wunsch der Beteiligten, sich selbst darzustellen, Raum. Zugleich laden Kasualien dazu ein, das Leben heilsam anders und also jenseits der Kategorien von Erfolg und Misserfolg zu betrachten. Sie weiten den Blick und führen vor Augen, dass eine einzelne Lebensgeschichte niemals ausschliesslich auf sich selbst bezogen, sondern immer schon Teil der Geschichte Gottes ist. Mit dieser Einsicht widersetzen sich die Kasualien spätmodernen Ansprüchen und leisten einen Beitrag zur Entlastung des Einzelnen. Dieser vermag nunmehr, sich zu empfangen, zu entwickeln und zu verwandeln.
BRUNO BADER