«Sie waren gekommen, um mich zu töten»

  15.03.2022 Interview

Monsignore Obiora Ike ist Priester und Menschrechtler in Nigeria, einem Land, das 23-mal so gross ist wie die Schweiz und 206 Millionen Einwohner zählt. Christenverfolgung ist tägliche Realität, auch Obiora Ike hat dies schon am eigenen Leib erfahren. Mit dem Ziel, aufzuzeigen, was in seiner Heimat geschieht, besuchte er am Sonntag Gstaad und stellte die Frage auf: «Welche Werte bleiben einer Gesellschaft, wenn die Religion abgeschafft wird?» Nach seiner Mitwirkung im Gottesdienst in Gstaad traf er den «Anzeiger von Saanen» zum Interview.

KEREM S. MAURER

Monsignore Obiora Ike, warum sind Sie nach Gstaad gekommen, um über die Christenverfolgung in Nigeria zu sprechen?
Ich bin von Kirche in Not, abgekürzt ANC, eingeladen worden. Bern, Genf und Luzern kannte ich von früheren Besuchen. Aber im Berner Oberland war ich noch nie.

Wie gefällt Ihnen das Saanenland?
Das Berner Oberland ist ein Stück vom Himmelreich. Die Luft ist frisch und die Natur ist einzigartig schön. Als ich heute Morgen durch das Tal hochfuhr, fragte ich mich allerdings: Wo sind all die Menschen? Ich habe niemanden gesehen, der diese natürliche Schönheit geniesst.

Sie sind hierhergekommen, um die Menschen im Berner Oberland auf das Leid der verfolgten Christen in Nigeria aufmerksam zu machen. Was können die Menschen hier denn tun, um deren Not zu lindern?
Es geht weniger um das Tun, als um das Wissen darum. Die Menschen im Berner Oberland müssen wissen, dass hinter ihren schönen Bergen die Welt weitergeht. Die Berge markieren nicht das Ende der Welt. Die Schweizer sind zwar ein tapferes Volk, aber sie leiden unter Geschichtsverlust.

Was meinen Sie damit?
Viele Menschen hierzulande neigen dazu, aufgrund von Freiheiten und auch weil sie seit über 70 Jahren keinen Krieg mehr erlebt haben, zu vergessen, wie schlimm es anderswo zugeht, weil sie den Bezug zu ihrer Kriegsgeschichte nicht mehr haben. Die Alten, die das noch erlebt haben, sterben langsam aus und die Jungen haben die schweren Zeiten nicht miterlebt. Sie wissen nichts vom Leid, das Menschen in Afrika oder anderswo derzeit tagtäglich erleiden und können es nicht nachempfinden.

Was wollen Sie denn den Schweizerinnen und Schweizern mitteilen?
Zum Beispiel, dass in den letzten zehn Jahren in Nigeria über 30’000 Christen getötet worden sind. Nicht weil wir einen Krieg erleben, sondern weil fundamentalistische muslimische Gruppen wie Boko Haram oder die bewaffneten Fulani-Hirten gezielt gegen Christen vorgehen und diese verhältnismässig kleinen Gruppen aus dem Vielvölkerstaat Nigeria mit über 200 verschiedenen Sprachen einen islamischen Staat machen wollen.

Und was sollen die Menschen hierzulande mit diesem Wissen anfangen?
Sie sollen ihren eigenen Glauben wieder schätzen lernen, denn sie erkennen gar nicht mehr, wie gut es ihnen geht. Viele wertschätzen beispielsweise ihre Freiheiten, ihre Mobilität nicht mehr, weil es für sie selbstverständlich geworden ist. Sie sollten die Religion wieder ernster nehmen und die Leistungen der Kirche nicht nur von ihrer negativen Seite sehen. Denn die Kirche hat mit ihren Menschenrechten, den Ausbildungen, den Gesetzen und ihrer Politik in den letzten Jahrhunderten viel zur Zivilisation beigetragen. Es muss ja nicht jede und jeder in die Kirche gehen, aber es gilt, ihre Werte zu erhalten.

Woran machen Sie das fest, dass wir unsere Werte verlieren?
In der Schweiz gibt es beispielsweise jährlich rund 30’000 Selbstmorde oder Selbstmordversuche bei rund acht Millionen Einwohnern. Nigeria zum Beispiel hat 200 Millionen Einwohner. Aber wenn sich bei uns jemand umbringt, fragen alle nach dem Warum. Wir sind zwar nicht reich, aber wir bringen uns nicht um.

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie den Satz hören, dass wir im Westen unsere Werte gegen dies und gegen jenes verteidigen müssen?
Das sind in meinen Augen leere Worthülsen. Welche Werte denn? Der einzige Wert, den wir in diesem Zusammenhang hören, ist das Geld. Aber was sind die wirklichen Werte? Menschenwürde, gegenseitiger Respekt und Achtung. Auch Freiheit ist ein Wert, der auf Jesus Christus gründet, weil Gott uns frei erschaffen hat. Alle diese Werte gründen auf Gott. Doch wenn wir diesen Gott abschaffen, schaffen wir damit auch diese Werte ab. Und das passiert in Europa: Religiöses wird abgeschafft, Kreuze müssen aus den Schulzimmern verschwinden. Im Namen der Modernität werden Werte abgeschafft.

Mit dem Wissen allein um die Not der Christen in Nigeria ist aber noch niemandem konkret geholfen. Es geht doch auch um Geld. Was für Projekte werden denn durch Kirche in Not unterstützt?
Die Schweiz hat im letzten Jahr laut dem Geschäftsbrief von Kirche in Not 7,168 Millionen Franken gespendet. Das könnte deutlich mehr sein! Mit dem Geld, das Kirche in Not sammelt, werden beispielsweise Waisenhäuser betrieben. Das ist wichtig, damit diese Kinder, deren Eltern durch Bomben getötet wurden, leben, essen und die Schulen besuchen können. Ferner werden damit mutwillig zerstörte und abgebrannte Kirchen wieder aufgebaut und es wird in die Ausbildung von Menschen investiert.

Wurde Ihre Kirche in Ihrer Gemeinde auch schon zerstört?
Ja, die Fenster sind kaputt und die Orgel wurde zerstört.

Leben Priester in Nigeria gefährlicher als andere Christen?
Alle leben gefährlich. Aber wenn Sie den Oberhirten einer Herde erschiessen, wird die Herde unruhig und kommt durcheinander. Das ist die Absicht, die dahinter steckt. Wir haben im letzten Jahr über 50 Fälle gezählt, bei denen Priester gekidnappt worden sind. Rund die Hälfte davon wurde ermordet.

Als Monsignore, der auf der ganzen Welt auf das Leid seiner Glaubensgenossen aufmerksam macht, darf man Sie auch als Oberhirte bezeichnen. Haben Sie selber schon Gewalt erlebt?
Ich hatte bei mir zu Hause Besuch von drei Männern mit Gewehren. «Wir sind bezahlt worden, um Sie zu töten», haben sie gesagt. Ich antwortete, sie sollen tun, wofür sie bezahlt wurden, denn ich sei Priester und würde den Tod nicht fürchten, sondern würde im Himmel noch für meine Mörder beten. Ich wollte aber vorher noch ein letztes Gebet in meiner Kapelle sprechen. Die drei haben mich begleitet. Ich bin niedergekniet, habe die Augen geschlossen und auf den Schuss gewartet. Doch stattdessen hörte ich den Anführer sagen: «Sie sind ein guter Mann, der viel für unsere Leute tut. Wir sagen einfach, wir hätten sie nicht angetroffen.»

Und dann sind die Männer wieder gegangen?
Sie wollten dann fliehen, denn die Polizei war hinter ihnen her. Ich war ihnen bei der Flucht behilflich.

Sie haben dem Killerkommando, das man auf Sie angesetzt hatte, geholfen, vor der Polizei zu fliehen?
Ja, und ich würde es wieder tun. Denn wenn die Polizei sie erwischt hätte, wären die drei Männer von ihr ermordet worden. Das wäre eine schlimme Sache geworden. Man muss die Hintermänner zur Verantwortung ziehen. Alles andere bringt ja nichts. Und letzte Woche wurden südlich von Kaduna 73 Christen getötet. So etwas geschieht jeden Tag! Aber das sind Zahlen und Nachrichten, die den Weg in die Schweizer Zeitungen nicht finden. Anders als der Krieg in der Ukraine, der viel Beachtung erfährt.

Die Ukraine ist den Europäern viel näher, das ist ja quasi vor unserer Haustür.
Für unser Öl ist es nicht zu weit weg. Für unsere Schokolade ist es nicht zu weit weg und für das ganze Geld, dass unsere Elite auf Schweizer Banken bringt, ist es auch nicht zu weit weg. Nur wenn es um unsere Sorgen geht, ist Afrika für Europa immer zu weit weg.


ZUR PERSON

Monsignore Prof. Dr. Obiora F. Ike wurde am 7. April 1956 geboren. Er ist ein nigerianischer römisch-katholischer Geistlicher und Menschenrechtler. An der Universität Innsbruck machte er seine Abschlüsse in Politikwissenschaften, Philosophie und Theologie. 1981 empfing er im österreichischen Vorarlberg die Priesterweihe. 1985 wurde ihm an der Universität Bonn der Doktortitel verliehen. Ein Jahr später habilitierte er in Sozialethik, Geschichte und Afrikanistik. An verschiedenen Hochschulen nahm er weltweit Lehraufträge wahr. Seit 2005 ist er Mitglied des Clubs of Rome Nigeria und steht diesem vor. Generalvikar des Bistums Enugu war er von 1998 bis 2009. seit 2016 ist er Direktor der Stiftung Globethics.net mit Sitz in Genf. Am 3. Juli 2020 wurde er von der Stephanus-Stiftung, die sich für die verfolgten Christen einsetzt, als Preisträger ausgezeichnet. Dieser Preis wurde ihm für sein grosses Engagement für die verfolgten Christen in seiner Heimat, aber auch rund um die Welt verliehen.

QUELLE: KIRCHE IN NOT


ZAHLENSPIEGEL STAND 2020

Kirche in Not:
Büros in 23 Ländern
Mehr als 345’000 Spender weltweit
Mehr als 15’000 Spender in der Schweiz und Lichtenstein
122,674 Millionen Euro Spenden und Erbschaften
7,168 Millionen Euro trug die Sektion Schweiz/Lichtenstein dazu bei
Projektpartner in 138 Ländern
4758 weltweit geförderte Projekte
79,1% der verwendeten Mittel werden missionsbezogenen Aufwendungen zugewiesen

QUELLE: KIRCHE IN NOT


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote