Hanf und Seilerei – Walter Jaggi kennt den Dreh!

  16.09.2022 Region

Weissenburg ist eine kleine Ortschaft in der Gemeinde Därstetten. Auf der oberen Schattseite, 850m ü.M., in unmittelbarer Nähe des reich verzierten Simmentaler Bauernhauses Haus Argel* wohnt der Seiler Walter Jaggi. Er übernahm die Seilerei von seinem Vater. Im Ruhestand lebend, beschäftigt sich Jaggi hobbymässig mit diesem uralten Handwerk. Mehr über diesen seltenen und in ländlichen Gegenden aussterbenden Berufsstand des Seilers in Erfahrung zu bringen, lohnt sich.

EUGEN DORNBIERER-HAUSWIRTH

Vom Vater zum Sohn
Im Jahr 1910, als der Vater von Walter Jaggi das Licht der Welt erblickte, stand das Seilerhandwerk noch in voller Blüte. Aber bereits 1934 begann die Seilerei in ländlichen Gegenden zu serbeln, schrieb das «Oberländische Volksblatt»**.

Heute gibt es in der Schweiz vermutlich nur noch rund ein Dutzend Seilereien, meist Klein- und Mittelbetriebe. Sie stellen Netze und Seile aller Art her. Seit jeher erfüllen die Seile viele Funktionen im ländlichen Alltag: Man benutzt sie, um Kälber anzubinden, Heubürden festzuzurren, Früchte zum Trocknen aufzuhängen oder als Kordeln im Wohnbereich.

Walter Jaggi, Jahrgang 1948, absolvierte in den Jahren 1963 bis 1967 eine Lehre als Seiler in Aegerten bei Biel. In der Werkstatt seines Vaters arbeitete er hobbymässig. 1969 zog es ihn nach Thun, um beim Bund eine Stelle als Seiler anzutreten. Seine Aufgabe war, Seile aller Art auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen, Gebirgsmaterial zu kontrollieren und instand zu stellen. Diese verantwortungsvolle Aufgabe erfüllte er im EMD und danach im VBS bis zu seiner Pensionierung.

Das «Seiler-Gen» hat Walter Jaggi allerdings nicht verlassen. Im Sinne von «nach der Pflicht die Kür» stellt er in seiner Seilerwerkstatt Kuhhälslige her. Das Seil, eben den Hälslig, drei Meter lang und mit einem Durchmesser von zwölf Millimetern, fertigt er an einer Maschine, die seit 80 Jahren läuft. Ein Kunstfaserhälslig hat eine Zugfestigkeit von immerhin 400 Kilo. Aber der Muni des Schwingerkönigs Joel Wicki könnte einen Hälslig, so er wollte, problemlos zerreissen.

Das Seilerhandwerk
Das Handwerk des Seilers ist heute eine Fachrichtung innerhalb des Berufes des Textiltechnologen. Die Ausbildung dauert drei Jahre und schliesst mit dem Eidgenössischen Fähigkeitszeugnis «Textiltechnologe EFZ, Fachrichtung Seil- und Hebetechnik» ab.

Das traditionelle Seilerhandwerk, so wie es Walter Jaggi kennt, wurde ein Opfer der industriellen Produktion von Garnen. Ertragreich ist vor allem die Herstellung von starken und strapazierfähigen Schiffstauen. Die Reeperbahn, die Hauptstrasse im Hamburger Stadtteil St. Pauli, erinnert an das Handwerk der Reepschläger, die für die Herstellung von Schiffstauen eine lange, gerade Bahn benötigten. «Reep» steht für Seil.

Hanfbaum
Hanf zählt zu den ältesten Nutzpflanzen der Erde. Der Hanfbaum, der vor Jaggis Werkstatt wächst, soll interessierten Menschen zeigen, wie eine Hanfpflanze, aus der letztlich Seile entstehen, aussieht. Die Pflanze wird bis zu vier Meter hoch. Der Stamm (Stengel) erreicht einen Durchmesser von ca. 6 Zentimetern. Die Hanffaser befindet sich im Stengel. Um die Faser zu entnehmen, müssen die geschnittenen Stengel während zwei bis drei Wochen auf dem Feld liegen bleiben und regelmässig gewendet werden. Während dieser Röstphase wird das Pektin, welches die Faser zusammenhält, durch Regen und Sonne abgebaut. Schlussendlich werden die Fasern zu einem Faden gesponnen. Diese Prozesse geschehen zur Hauptsache in Frankreich und Belgien. Aus diesen Ländern kommen auch die Hanf- und synthetischen Garne, die in Jaggis Werkstatt zu Seilen verarbeitet werden.

Seile können aber auch aus der krautigen Pflanze Flachs, dem thermoplastischen Kunststoff Polypropylen oder der Naturfaser Sisal hergestellt werden.

Herstellung eines Heuseils
Eine gewisse Sehnsucht nach alten Zeiten kommt auf, wenn die Litzenmaschine aus den Sechzigerjahren anfängt, die Fäden ineinander zu drehen. Über die Transmission an der tiefen Holzdecke sind die verschiedenen Maschinen miteinander verbunden. In einem ersten Arbeitsgang nimmt «Wale» Jaggi Garn von einer Kreuzspule. Je nach geplantem oder gewünschtem Seildurchmesser werden auf der Litzenmaschine drei bis zehn Fäden zu einer Litze zusammengedreht. Meister Jaggi verfolgt mit einem zufriedenen Lächeln das Geschehen.

In einem weiteren Arbeitsgang werden vier Litzen zu einem Seil «verseilt». Für ein Seil von acht Metern Länge werden zehn Meter benötigt, weil das Seil beim Drehen kürzer wird. Beim Vordrehen ist Jaggis Fingerspitzengespür gefragt, denn er muss den richtigen Zeitpunkt spüren, an dem die Litzen gleich stark gedreht sind. Erst dann dreht er in Gegenrichtung, bis das Seil mit dem Leitholz über die ganze Länge gleichmässig zusammengedreht ist. Zum Schluss muss das Seil von Hand mit einem Faden abgenäht und verschlauft werden, damit es sich nicht wieder öffnet.

Ballenberg
Im Freiluftmuseum der Schweiz zeigt «Wale» Jaggi zweimal pro Monat, wie das Seilmachen funktioniert. Das Präsentieren seines alten Handwerks bereitet ihm Freude. An interessierten Zuschauerinnen und Zuschauern mangelt es jeweils nicht. Das Thema «Seil» ist den Leuten nicht fremd, sei es wegen des Romans «Das Seil» oder erinnerungshalber an fröhliches Seilspringen in der Kindheit.

Renaissance eines alten Handwerks
Handwerksberufe wie Seiler, Reepschläger, Küfer, Wagner, Gerber, Köhler, Sattler und weitere mehr sind ausgestorben oder in Vergessenheit geraten. Wertvolles Kulturgut verschwindet von der Bildfläche. Unser Seilmacher Walter Jaggi sagt: «Man könnte die einfacheren Schritte des Seilerhandwerks in einigen Wochenendkursen erlernen. Das Herstellen von Springseilen wäre ein ideales Werkobjekt, entwickelte sich doch das Seilspringen zur Wettkampfsportart Rope Skipping.

Hinweis: Im Museum der Landschaft Saanen sind viele traditionelle Handwerksberufe eindrucksvoll dargestellt: Tel. 033 744 79 88; E-Mail: [email protected].

Quellenangaben:
* 1759 von Hans Messerli ** «Es ist erstaunlich, wie dieses Handwerk sozusagen ganz aus unserer Gegend verschwunden ist.» «Oberländisches Volksblatt», Nr. 24 vom 17. Juni 1934.


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