«Wir tragen in uns die Menschen, die vor uns da waren»

  17.10.2022 Kultur

GOTTFRIED UND ANDREA VON SIEBENTHAL, AUTOREN DES BUCHES «MADAME GSTAAD», IM INTERVIEW

Seit Kindheitstagen spitzt Gottfried von Siebenthal die Ohren, sobald er etwas über die Geschichte seines Heimatdorfs Gstaad erfährt, und sammelt leidenschaftlich alte Fotos. Drei historische Bildbände hat der heute 76-Jährige bisher herausgegeben. Nun hat er zusammen mit seiner Tochter Andrea von Siebenthal unter dem Titel «Madame Gstaad» einen historischen Roman verfasst, welcher soeben publiziert worden ist. Durch die Augen der Bäckersfrau Emilie Steffen-von Siebenthal, welche wider Willen die Schlüsselfigur des Gstaadbrandes von 1898 war, erlebt der Leser die Jahrhundertwende und die rasante Entwicklung von Gstaad mit.

BLANCA BURRI

Gottfried von Siebenthal, wer war «Madame Gstaad»?
Gottfried von Siebenthal (GvS):
Emilie Steffen war eines von 14 Kindern, geboren 1846 im Weiler Gstaad, aufgewachsen in Armut. Wie viele andere Menschen verliess sie als Jugendliche die Heimat auf der Suche nach einem besseren Leben. So arbeitete sie zuerst in Genf, danach in der Nähe von Paris. Als Emilies Vater im Sterben lag, rief man sie zurück nach Gstaad. Sie heiratete dann den Dorfbäcker Benz Steffen und wurde Mutter von fünf Kindern. Als sie in Erwartung ihres jüngsten Kindes war, starb ihr Mann. Danach zog sie ihre Kinder allein gross und führte auch die Bäckerei weiter. Sie war also eine Geschäftsfrau inmitten einer von Männern dominierten Gesellschaft in einer sehr bewegten Zeit. Das war nicht immer leicht, vor allem, wenn man bedenkt, was einem das Leben um die Jahrhundertwende abverlangte.

Weshalb sind Sie von ihr fasziniert?
GvS:
Emilie war eine aussergewöhnliche Frau, die in einer Zeit lebte, als sich Gstaad von einem mausarmen Weiler zu einem Kurort entwickelte. Ihr Leben zur Jahrhundertwende widerspiegelt also eine Zeit grossen Wandels. Als Bäckersfrau war sie eine wichtige Person im Dorf, und auch ihre Kinder prägten Gstaad entscheidend mit: Ihr ältester Sohn Robert wurde Lehrer und erbaute später das Palace-Hotel. Der zweite Sohn, Benz, erbaute das erste Tearoom in Gstaad; beide waren demnach wichtige Wegbereiter für den touristischen Erfolg von Gstaad. Vor allem aber ist Emilie eine interessante Figur, weil sie wider Willen zur Schlüsselfigur des Gstaadbrandes wurde.

Erzählen Sie!
GvS:
Ich möchte die Geschichte nicht vorwegnehmen, aber es ist ja bekannt, dass der Gstaadbrand, welcher in einer halben Nacht das halbe Dorf zerstörte, auf Brandstiftung zurückzuführen war. Der Brandstifter wollte sich an Emilie rächen. Leider konnte der Verdächtige nie verurteilt werden, weil er sich in der Untersuchungshaft das Leben nahm. Den Rest erfahren Sie im Buch! (Lacht.)

Wie sind Sie mit Emilie Steffen verwandt?
GvS:
Sie war meine Urgrosstante, also die Schwester meines Urgrossvaters. Sie lebten zusammen in unserem Familienhaus am Gstaadplatz.

Ist «Madame Gstaad» eher ein historischer Roman, eine Familiengeschichte oder feministische Literatur?
GvS:
Für mich ist es vor allem ein historischer Roman, weil ich möchte, dass die Geschichte von Gstaad nicht vergessen geht. Seit Kindheitstagen habe ich Hunderte alte Fotos gesammelt und mit Zeitzeugen des Dorfbrandes gesprochen. Das können die Jungen heute nicht mehr, weil diese Zeitzeugen alle gestorben sind.
Andrea von Siebenthal (AvS): Ich denke, dass alle diese Facetten im Roman zum Tragen kommen. Ich persönlich fand es herausfordernd und zugleich spannend, eine Zeit, in der Frauen wenig zu sagen hatten, aus der Perspektive von Emilie zu erzählen. Ausserdem finde ich es einen schönen Gedanken, ein Buch über Menschen zu schreiben, welche die Geschichte vergessen hat. Meist geht es in Geschichtsbüchern ja um die Leute an der Macht, aber nie um die einfachen Menschen, welche die Last der Gesellschaft tragen und diese aufrechterhalten. Und ganz oft sind es die Frauen, die alles stemmen und zusammenhalten. Frauen wie Emilie Steffen.

Wie hat sich Ihre Zusammenarbeit gestaltet? Gemeinsam ein Buch zu schreiben ist ja nicht ganz einfach.
AvS:
Wenn man zu zweit schreibt, muss man auch die Stimme des anderen wahren. Ich wollte den originellen Schreibstil meines Vaters nicht allzu stark verändern und trotzdem meinen Stil mit einbringen. Vor allem aber ging es darum, Emilie eine Stimme zu geben – einer Frau, die bloss ein Jahr lang die Schule besucht hatte und kaum schreiben konnte. Auch sollte die Sprache ihrer Zeit entsprechen. Deshalb ist die Sprache bewusst einfach gewählt. Vor allem aber wollte ich in der Sprache Emilies Stärke und Würde abbilden, gar einen Einblick in ihr Seelenleben erlauben, ohne dass es kompliziert wird. Das war eine Herausforderung.

Warum haben Sie die Ich-Perspektive gewählt?
GvS:
Ich hatte das Gefühl, es ist am echtesten, wenn Emilie ihre Geschichte selbst erzählt, schliesslich hat sie sie selbst erlebt. Für mich war es stets klar, dass das Schreiben in der ersten Person die geeignetste Form ist, um eine möglichst grosse Nähe zur Protagonistin zu schaffen.

Als Junge haben Sie mit vielen Zeitzeugen des Dorfbrandes gesprochen. Was ist Ihnen davon am meisten in Erinnerung geblieben?
GvS:
Ich erinnere mich noch genau an Emilie Steffens Schwägerin Louise von Siebenthal-Raaflaub. Ich sehe sie noch vor mir, als ich sie als Kind über den Dorfbrand befragte. Sie sass auf einem Stuhl, hob die Hände und meinte: «Das weiss i doch nemme.» Geglaubt habe ich ihr das nicht, weil sie ja alles hautnah miterlebt hatte. Aber weil die Feuersbrunst so viel Leid mit sich gebracht hatte, mochte sie vielleicht nicht mehr daran denken oder sie wollte dem Buben, der ich damals war, die schlimmen Bilder ersparen.

Andrea von Siebenthal, Ihr Vater ist durch seine Recherchen mit den Figuren zusammengewachsen. Wie war das bei Ihnen?
AvS:
Mein Vater war stets sehr interessiert an der Dorf- und Familiengeschichte, und er hat oft Anekdoten erzählt oder den Familienstammbaum studiert. So habe ich ein Gefühl dafür bekommen, was «hinter» diesen Namen und Jahrzahlen steckt. Man kann das dahinter pulsierende Leben erahnen: Liebe und Freude, aber auch Kindstod, Trauer und Verlust. Aber da gab es auch Abenteuer und in Kauf genommenes Risiko! Familienforschung ist deshalb eigentlich viel mehr als nur ein Stammbaum. Wenn man diesen aus seiner menschlichen Perspektive betrachtet, wird er lebendig, die Figuren erzählen eine Geschichte. Und diese Faszination hat sich zweifellos von meinem Vater auf mich übertragen. Ausserdem habe ich damals das erste Gstaad-Buch meines Vaters redigiert und auf Französisch übersetzt; die früheren Zeiten und alten Dorfbewohner waren mir also bereits vertraut.

Einen Roman zu schreiben ist noch einmal eine andere Geschichte als ein Bildband.
AvS:
Als ich damit anfing, die Erzählung meines Vaters zu bearbeiten, ging ich erst zögerlich an die Arbeit. Erzählung und Sprache sind zwar mein täglich Brot sozusagen, aber einen Roman zu schreiben war doch eine Herausforderung. Das Schwierigste war dabei, den Personen eine Seele einzuhauchen, die Protagonisten also buchstäblich wieder lebendig werden zu lassen. Diese Menschen haben ja alle existiert; von manchen wissen wir mehr, von anderen weniger, wie sie wirklich waren. Also eine erzähltechnische, geschichtliche und emotionale Kohärenz hineinzubringen, war schon schwierig.

Ihre Tochter bearbeitete die Rohtexte. Wie ging es Ihnen dabei, Gottfried von Siebenthal?
GvS:
Ich habe es als Bereicherung empfunden. Weil ich recht nüchtern schreibe, brauchte es jemanden, der meinen Erzählungen Leben einhauchte. Das verstand Andrea ausgezeichnet. Sie brachte die Emotionen ins Spiel, zeigte, wie es den Menschen damals erging. Die Zusammenarbeit zwischen uns war sehr intensiv, aber wir waren uns eigentlich immer einig. Vor allem bei den Dialektwörtern habe ich insistiert, dass diese bleiben. Im Wissen, dass das Buch im gesamten deutschsprachigen Raum vertrieben wird, sollte die Erzählung jedoch einem überregionalen Publikum zugänglich sein. Das wird schwierig, wenn im Text zu viele Flurnahmen und Dialektwörter enthalten sind. So haben wir uns auf einen Kompromiss geeinigt: Ein paar Ausdrücke sind im Dialekt geblieben und diese werden im Glossar erklärt. Es gibt einige wunderbare Dialektwörter. Beispielsweise «z milebrigge» gehen, also in tausend Stücke zerbrechen. Ein sehr schöner Ausdruck!

Was möchten Sie mit diesem Roman erreichen?
GvS:
Mir geht es vor allem darum, die Geschichte unseres Dorfes weiterzugeben, damit sie nicht vergessen geht. Zu schnell vergisst man, dass Gstaad nicht immer so war, wie wir es heute kennen. Vor wenig mehr als hundert Jahren waren die Leute hier sehr arm und viele mussten auswandern. Die Leute hatten ein hartes Leben damals und so ist der Wille und der Pioniergeist, welche sie aufgebracht haben, um die Entwicklung ihres Dorfes voranzutreiben, umso bewundernswerter.
AvS: Wir tragen ja in gewisser Weise die Menschen in uns, die vor uns da waren. Wir verdanken den alten Gstaadern, die in schwierigen Zeiten ausserordentlich mutig waren und an die Zukunft ihres Dorfes glaubten, sehr viel.
GvS: Mein grösster Wunsch ist, dass diese Geschichten und diese Menschen nicht vergessen gehen. Man sollte sich stets daran erinnern, woher man kommt.

«Madame Gstaad» ist in allen gängigen Buchhandlungen und online für Fr. 39.– Franken erhältlich. Das Buch enthält viele historische Fotos.

ISBN 978-3-03818-407-2


DIE AUTOREN

Gottfried von Siebenthal ist 1946 im elterlichen Haus am Gstaadplatz geboren. Als langjähriger Geschäftsmann im Familienunternehmen und Gemeindepolitiker hat er die Geschichte Gstaads miterlebt und mitgeprägt. Seit Kindertagen sammelt der Lokalhistoriker leidenschaftlich alte Fotos und Geschichten aus «seinem» Dorf. Daraus sind drei Bildbände über die Geschichte entstanden, welche in mehrere Sprachen übersetzt worden sind. Gottfried von Siebenthal und seine Frau Katharina haben vier Kinder und neun Grosskinder.

Andrea von Siebenthal hat als Journalistin und Fernsehmoderatorin gearbeitet, bevor sie mehrere Jahre lang die Kommunikation einer internationalen humanitären Organisation in Genf leitete. Sie besitzt einen Master in Journalistischer Kriegsberichterstattung. Heute lebt Sie in New York und arbeitet als Dokumentarfilmerin, Kommunikationsberaterin und Übersetzerin. Sie hat zwei erwachsene Töchter.

BLANCA BURRI


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