Alles für die Jugend
19.09.2023 InterviewKinder- und Jugendtreffs, Beratungsangebote, Miniramp und Malraum, Zirkus Wunderplunder, Zyklusshow, Nachtbus oder die Organisation des Ferienpasses – alles Angebote im Saanenland, die es ohne die Beteiligung von Rosa Reiter kaum geben würde. Die frisch pensionierte ...
Kinder- und Jugendtreffs, Beratungsangebote, Miniramp und Malraum, Zirkus Wunderplunder, Zyklusshow, Nachtbus oder die Organisation des Ferienpasses – alles Angebote im Saanenland, die es ohne die Beteiligung von Rosa Reiter kaum geben würde. Die frisch pensionierte Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin hat die offene Jugendarbeit im Saanenland mitaufgebaut und 22 Jahre lang massgeblich mitgestaltet.
SONJA WOLF
Rosa Reiter, kein anderer hat die offene Jugendarbeit im Saanenland mehr geprägt als Sie. War das ein Traum von Ihnen?
(Lacht.) Zu Beginn eigentlich nicht! Ich hatte damals Vreni Marti kennengelernt, die in der Spurgruppe Jugendtreff war. Sie betonte immer wieder, dass ihnen eine Sozialarbeiterin fehle, die ehrenamtlich bereit wäre, die Jugendarbeit im Saanenland mitaufzubauen. Ob ich nicht dazustossen wolle?
Eine Spurgruppe? Was ist das?
Es war eine Gruppe aus Lehrpersonen, Schulleitungen, Pfarrern, den Jugendbeauftragten der Gemeinden, Personen aus dem Sportbereich, Skater:innen. Leute vom JZ Karibik und so weiter, einfach Personen, die in irgendeiner Weise mit Jugendlichen in Verbindung standen. Es gab damals noch keinen organisierten Jugendtreff und die Bevölkerung beschwerte sich über den Lärm, den die Jugendlichen beim Skaten auf dem Eisbahnareal machten (zu den Stationen der Jugendarbeit siehe Zeitstrahl, Anm. d. Red.).
Und warum wollten Sie also nicht gleich dazustossen?
Ich war in Deutschland bereits viel in der Sozialarbeit tätig gewesen, in einer Obdachlosensiedlung oder in der Kindernotaufnahme. Auch habe ich acht Jahre lang in einer Wohngruppe mit Mädchen, die sexuelle Gewalt erfahren hatten, gearbeitet. Damals dachte ich, offene Jugendarbeit wäre oberflächlich und weniger spezifisch als alles, was ich vorher gemacht hatte. Nur so ein bisschen Projekte organisieren eben.
Und wann hat es sie dann gepackt?
Mir gefiel es, dass die Gruppe sehr engagiert war und ich spürte die Lücken, die von einer Fachperson gefüllt werden sollten. Ich war zurückhaltend in der Spurgruppe, aber sehr aktiv, als es in die praktische fachliche Arbeit überging. Da bin ich sehr oft vor Ort gewesen. Habe die ersten Jugendarbeitenden begleitet, wir waren ein Team. Es war fast schon wie ein 50-Prozent-Job. Und als 2005 der Verein Jugendarbeit Saanenland gegründet und ich ab 2006 Präsidentin wurde, dachte ich: «Jetzt kann ich wirklich etwas bewirken!» Vor allem aber war mir bewusst geworden: Die Kinder und Jugendlichen der Gemeinden hatten keinen Ort, der speziell für sie geschaffen war, keine Anlaufstelle, wenn sie in Not waren, keine Beratung – nichts. Kindern und Jugendlichen eine Stimme zu geben, das wurde meine Leidenschaft! Es gab so viele Möglichkeiten, weil die Gemeindeverwaltung hinter dem Aufbau stand.
Als der Verein aufgelöst und die Jugendarbeit an die Gemeinde angegliedert wurde, waren Sie fast durchgängig wieder in leitender Position. Was faszinierte Sie so an Ihrer Arbeit?
In Gruppen sind Jugendliche oft laut, probieren sich aus und fallen unangenehm auf. Das wird oft nicht toleriert. Aber irgendwo müssen sie ja hin! Wir alle sind doch da durchgegangen. Es ist so eine wichtige Zeit im Leben, dieser Übergang vom Kind zum Erwachsenen. Wir müssen diese Bedürfnisse ernst nehmen und Hand bieten, sie umzusetzen. Für mich hat das viel mit Respekt zu tun. Der funktioniert nämlich nicht nur in die eine Richtung vom Kind zum Erwachsenen, sondern auch umgekehrt. Und häusliche Gewalt, sexualisierter Missbrauch, Drogen, Mobbing oder Depressionen machen auch vor dem Saanenland nicht halt. Die junge Generation muss wissen, wo sie sich in der Not hinwenden kann. Dies zusammen mit den Jugendlichen anzugehen und zu sehen, dass wir einen Einfluss haben, befriedigt ungemein. Und nicht nur das. Ich finde, die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hält unglaublich wach und jung.
Bei so wichtigen Themen entstehen sicher besondere Beziehungen zu den Heranwachsenden...
Auf jeden Fall. Wenn sich Kinder und Jugendliche öffnen, uns ihre tiefsten Nöte und Sorgen anvertrauen, wenn sie sich z.B. outeten als trans oder lesbisch – manche unter Tränen –, das gibt Nähe. In der Juga lassen wir viel Nähe zu. Das war mir als Leiterin immer sehr wichtig. Vor allem, weil wir lange Zeit die einzigen waren, die professionell begleiten konnten. Dadurch sind sehr tiefe Beziehungen entstanden.
Sie hatten also immer ein offenes Ohr für die Probleme der Jugendlichen?
Oh ja, wir haben flexible Beratungszeiten und auch einen Notfallchat per WhatsApp. Ich persönlich hatte auch immer mein Handy dabei und war erreichbar, auch am Wochenende. Ich sehe das als eine der grössten Aufgaben der Juga.
War Ihnen der Bereitschaftsdienst nicht zu viel?
Nein, es rief ja nicht jedes Wochenende jemand an. Aber wenn, dann war es superdringend.
Sie scheinen so erfüllt von Ihrem Beruf gewesen zu sein. Gab es da Platz für andere Hobbys?
Ja, natürlich. Ich übe seit über 20 Jahren Yoga. Zunächst war ich hier im Saanenland bei verschiedenen Yogalehrerinnen. Auch bin ich weltweit zu Retreats gepilgert. Mit 56 Jahren dann habe ich mich in Indien selbst zur Yogalehrerin ausbilden lassen. Ausserdem gehöre ich seit einigen Jahren zur Gruppe Filmpodium Saanenland und zum Literarischer Herbst Saanenland.
Sie scheinen sich im Saanenland sehr wohlzufühlen.
Ja, sehr! Ich komme ja schon seit 1982 ins Saanenland. Nachdem ich hier als Studentin eine Urlaubsbekanntschaft besucht hatte, bin ich hängengeblieben und habe jeweils in den Semesterferien am Buffet am Eggli gejobbt oder auch mal Kinder betreut. Just als ich nach dem Abschluss der Diplomarbeit beschlossen hatte, nicht mehr zu kommen, habe ich meinen Mann Harry kennengelernt. Der ist zwar Berner, hat hier in Gstaad aber familiäre Wurzeln, auch das Haus der Familie ist hier. Und ich habe hier im Saanenland sehr viele schöne Freundschaften geschlossen!
Und welchen Bezug haben Sie zu Ihrer deutschen Heimat?
Es zieht mich auch immer wieder nach Deutschland, in den Hunsrück, wo ich geboren bin und auch nach Berlin. Dort sind unsere Kinder geboren und wir haben als junge Familie sieben Jahre dort gelebt, bevor wir 2000 endgültig nach Gstaad umgezogen sind.
Fehlt Ihnen die Grossstadt Berlin?
Pulsierende Grossstädte inspirieren mich. Sie fordern mich, aber bringen mir auch viel. Kultur ist wichtig für mich – Kunst, Theater, Subkultur, alles, was nur in diesem speziellen kulturellen Klima entstehen kann, finde ich ungemein spannend... Grossstädte haben mich schon immer sehr angezogen, aber jetzt langsam wird es mir zu viel, mir das dauerhaft vorzustellen. Ich merke, dass ich älter geworden bin und doch eher die Ruhe suche.
Wohin wird es Sie also in der nächsten Zeit verschlagen?
Einmal pro Jahr möchte ich sicher für eine Weile in Berlin sein und mich gerne auch an anderen Orten ausprobieren. Und auf Dauer? Also zuerst einmal möchte ich im Saanenland bleiben. Ich fühle mich hier sehr zu Hause. Ich habe noch nie so lange an einem Ort gelebt wie hier. Wir haben aber auch eine Wohnung in Bern, in der ich oft die Wochenenden mit meinem Mann verbringe. Längerfristig wird dort wohl meine Zukunft sein. Im Moment habe ich zwar das Gefühl, ich bin nur hier wirklich zu Hause, aber dieses Gefühl wird wohl auch dereinst in Bern entstehen. Ich sehe es als eine Chance an, wieder von vorne anfangen zu müssen. Ich denke, ich habe die Energie dazu, neu zu starten.
WAS BEDEUTET OFFENE JUGENDARBEIT?
Die Offene Kinder- und Jugendarbeit begleitet und fördert Kinder und Jugendliche auf dem Weg zur Selbstständigkeit. Dabei setzt sie sich dafür ein, dass Kinder und Jugendliche im Gemeinwesen partnerschaftlich integriert sind, sich wohlfühlen und an den Prozessen unserer Gesellschaft mitwirken. Offene Kinder- und Jugendarbeit grenzt sich von verbandlichen oder schulischen Formen von Jugendarbeit dadurch ab, dass ihre äusserst unterschiedlichen Angebote ohne Mitgliedschaft oder andere Vorbedingungen von Kindern und Jugendlichen in der Freizeit genutzt werden können. Offene Kinder- und Jugendarbeit ist monetär nicht profitorientiert und wird zu einem wesentlichen Teil von der öffentlichen Hand finanziert.
AUS: DACHVERBAND OFFENE JUGENDARBEIT, OFFENE KINDER- UND JUGENDARBEIT IN DER SCHWEIZ. GRUNDLAGEN FÜR ENTSCHEIDUNGSTRÄGER UND FACHPERSONEN
ROSA REITER
Rosa Reiter ist 1959 in Deutschland geboren und hat ihre Kindheit in einem Dorf im Hunsrück verbracht. 1987 schloss sie ihr Studium als Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin ab. Sie ist mit dem Künstler Harald Reichenbach verheiratet, der unter anderem für das Umweltprojekt G-Cubes bekannt ist. Das Paar hat zwei erwachsene Kinder: Emilia arbeitet als Schauspielerin am Staatstheater Kassel und Severin befindet sich auf einer Welttour per Velo.
SONJA WOLF
EINIGE PROJEKTE WÄHREND ROSA REITERS BETRIEBSLEITUNG
Zyklusshow für Mädchen und Agenten auf dem Weg für Jungen, Love Limits, Mein Körper gehört mir, Girls Talk, Mädchentreff, Nachtbus, Nachttaxi, Silvesterbus, Jobbörse, Lehrlings-Mittagstisch, Graffiti- und Hip-Hop-Workshop, Knigge-Kurs, Literatur im Oeyetli, Bewerbungsschreiben, Schuldenberatung für Jugendliche, Tanz- und Theaterworkshops, Malraum, Soccerturnier, Selbstverteidigungskurs, Elternabende (Pubertät, Drogen, Medien, Jugendschutz, ADHS, Stress), Pizzabacken, Henna-Tatoo, JungsRaum, Rauchen-Kiffen-Saufen-Workshop, Handy- und Compi-Notfall, Bauen von Musikinstrumenten aus Abfallprodukten, Tischtennis-Turnier, Bowlen unter Jungs, Helden schlagen nicht (Gewaltprävention), Drogen-Info-Tisch, Klettern und Bouldern, Mädchen-Disco, Töggeli-Turnier, Wellness-Abend, Filmabend, Eisfischen, Rasieren, Länderküche, Kleider-Tausch-Börse, Sorgen-Chat, Zirkus Wunderplunder, Jugendbands, Übernahme der Leitung des Ferienpasses Saanenland und vieles mehr…
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