«Die steigende ‹Veradministrierung› macht mir zu schaffen»
02.05.2023 WirtschaftAndré Streit hat über 30 Jahre im Gesundheitswesen gearbeitet, die letzten fast zwölf Jahre als Geschäftsführer der Alterswohnen STS AG. «Die Langzeitpflege war für mich immer die Königsdisziplin im Gesundheitswesen, da nicht nur die pflegerische ...
André Streit hat über 30 Jahre im Gesundheitswesen gearbeitet, die letzten fast zwölf Jahre als Geschäftsführer der Alterswohnen STS AG. «Die Langzeitpflege war für mich immer die Königsdisziplin im Gesundheitswesen, da nicht nur die pflegerische Kompetenz zählt. Die Gestaltung des Lebensumfeldes für die Bewohnenden ist mindestens ebenso wichtig», betont Streit.
ANITA MOSER
André Streit, Sie sind seit wenigen Wochen im Ruhestand. Wie geht es Ihnen?
Ganz im Ruhestand bin ich noch nicht. Ich arbeite noch wenige Prozente. Wie lange, ist noch offen.
Sie haben während 30 Jahren im Gesundheitswesen gearbeitet. Was reizte Sie an dieser Arbeit?
Für Menschen da sein, eng mit Menschen arbeiten – das hat mich nicht mehr losgelassen.
Nach ein paar Jahren in der Leitung der Spitäler Schwarzenburg und Riggisberg hatten Sie sich für das Alterswesen entschieden und waren zuletzt fast 12 Jahre Geschäftsführer bei der Alterswohnen STS AG. Weshalb der Wechsel?
«Was willst du?» – diese Frage habe ich mir vor rund zwölf Jahren gestellt und mich für einen Wechsel zum Alterswohnen entschieden. Ich hatte immer ein Flair für ältere Menschen. Die Geschichten von früher, wie sie ihre Jugend erlebt haben – komplett anders als ich sie erlebt habe – ihre Lebensgeschichten, all das fasziniert mich. Nebst allem anderen.
Worin besteht der Unterschied zwischen einem Spitalalltag und dem Alltag im Altersbereich?
Vor allem ist der Altersbereich komplexer. Die Langzeitpflege war für mich immer die Königsdisziplin im Gesundheitswesen, da nicht nur die pflegerische Kompetenz zählt. Die Gestaltung des Lebensumfeldes für die Bewohnenden ist mindestens so wichtig.
Hatten Sie Zeit, den alten Menschen zuzuhören?
Früher ja. In den letzten Jahren immer weniger. Früher hatte ich ab und zu noch Zeit, durch das Haus zu gehen, mich mal hinzusetzen und mit den Bewohnenden zu «dorfen» oder mit den Leuten zu jassen. Jetzt findet man kaum mehr Zeit für solche Sachen.
Sie bedauern das?
Ich bedaure das ausserordentlich. Wir sind heute viel mehr beschäftigt, Statistiken auszufüllen und zu rapportieren – gegenüber dem Kanton, den Gemeinden, den Krankenkassen usw. Das war früher ganz anders.
Wenn Sie wünschen könnten: In welcher Zeit würden Sie gerne leben?
(Lacht) Ich verstehe das Bedürfnis des Kantons, der Krankenversicherungen, dass sie gewisse Daten erheben, dass man Nachweise erbringen muss, was man macht. Aber die Administration nimmt heute sehr viel Raum ein. -Deshalb ist mir die frühere Zeit – vor 20, 25 Jahren – lieber. Ich bin der Überzeugung, dass damals das Pflegepersonal mehr Zeit gehabt hat für die Bewohner, fürs Persönliche.
Die Menschen werden älter, die Fälle sind komplexer.
Genau. Und heute treten die Menschen ins Heim ein, wenn es zu Hause wirklich nicht mehr geht. Früher war es gang und gäbe, sich mit 70 anzumelden. Man ist vor Zeiten nicht unbedingt aus gesundheitlichen Gründen ins Heim eingetreten, sondern weil es einem zu viel wurde zu Hause, weil man zum Beispiel nicht mehr putzen oder kochen mochte. Im weitesten Sinn hat man sich im Heim verwöhnen lassen. Die Leute im Heim litten auch weniger unter Einsamkeit. Man hat zusammen gestrickt, gekocht, im Garten gearbeitet oder Ausflüge gemacht, allein oder in Begleitung eines Mitarbeitenden. Heute ist das leider selten möglich.
Woran liegt das?
Es hat unter anderem mit der zunehmenden Pflegestufe, mit der höheren Pflegebedürftigkeit der Bewohnenden zu tun. Jene, die man früher im Altersheim oder Pflegeheim betreute, leben heute eher in Alterswohnungen. Diese gab es früher nicht oder kaum.
Wie möchten Sie Ihren dritten, vierten Lebensabschnitt gestalten?
(Schmunzelt) Im Moment plane ich nicht wahnsinnig viel. Ich möchte – wie die meisten – möglichst lange zu Hause bleiben. Unabhängig sein ist schon mein Wunsch. Ich hoffe, ich bleibe noch lange gesund und kann etwas unternehmen. Wenn es dann mal so weit ist, ja, dann werde ich wohl in ein Altersheim eintreten. Aber das ist momentan noch sehr, sehr weit weg.
Aber Gedanken darüber machen, sollte man sich schon?
Natürlich. «Wie würde ich es haben wollen?» Diese Frage habe ich mir in meinem beruflichen Umfeld immer gestellt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Eine Zeit lang hat man noch über Einzel- oder Doppelzimmer diskutiert. Heute ist Individualität wichtig, deshalb habe ich mich schon früh für Einzelzimmer eingesetzt. Diese haben sich mittlerweile auch durchgesetzt. Wichtig ist mir, dass wir uns nicht nur pflegerisch um die Bewohnenden kümmern, sondern Ihnen auch drumherum etwas anbieten. Ich beispielsweise koche sehr gerne.
Wenn Sie so lange wie möglich daheimbleiben wollen, fällt das ja alles weg…
Das ist das Dilemma. Eigentlich sollte man ins Heim, solange man noch einigermassen fit ist. Aber dann ist man unter lauter alten und gebrechlichen Leuten…
Die meisten wollen so lange wie möglich zu Hause bleiben. Für Angehörige kann das sehr anspruchsvoll sein.
Ich erwarte nicht, dass Angehörige zu mir schauen.
Welche Einrichtung kommt für Sie dann in Frage?
Ich habe ein Flair für eher kleinere Einrichtungen. 40/50 Betten finde ich gut, noch besser ist das Sunnebühl in der Lauenen mit 18 Betten, auch wenn die kleinen Einrichtungen pflegerisch nicht die gleichen Möglichkeiten haben wie eine grössere Einrichtung.
Das Menschliche spielt eine ebenso grosse Rolle. Kommt das in den Heimen zu kurz?
Auch zu Hause ist nicht immer alles wunderbar. Viele Angehörige sind überfordert. Und auch zu Hause werden Grenzen überschritten, öfter als man denkt. Mir war deshalb immer wichtig, dass wir Ferienbetten zur Entlastung von betreuenden Angehörigen haben. Wir bieten in unseren Betrieben auch Tagesbetreuung an.
Gibt es Unterschiede zwischen Stadt und Land?
Ja. Das lässt sich auch rein statistisch belegen. Statistisch gesehen ist das Simmental/Saanenland völlig unterversorgt, wir hätten einen absoluten Notstand. Dem ist aber nicht so. Das ist ein Indiz, dass das soziale Umfeld auf dem Land noch intakter ist. In urbanen Gebieten wohnen die Kinder meistens nicht mehr in der Nähe. Auf dem Land bleiben sie eher in der Gegend und betreuen ältere Angehörige. Landwirte haben vielleicht noch ein grosses Bauernhaus, das als Mehrgenerationenhaus genutzt wird.
Sie sagen, die steigende «Veradministrierung» mache Ihnen zu schaffen. Hat diese auch damit zu tun, dass man – falls etwas schiefläuft – einen Schuldigen hat?
Es geht um den Nachweis, was man geleistet hat, also letztlich um Geld. Was in der Krankengeschichte, in der Pflegedokumentation nicht dokumentiert ist, wird im Extremfall nicht entschädigt. Ein weiterer Grund ist der Qualitäts- und Sicherheitsanspruch. Es muss alles dokumentiert, aufgeschrieben sein, sonst ist «es nicht gemacht worden». Und ja, letztlich geht es auch darum, im Bedarfsfall «Schuldige» zu finden.
Aber Pflegende wollen in der Regel pflegen und nicht die meiste Zeit am Computer verbringen.
Es gibt sicher jene, denen Büroarbeit liegt. Aber im Allgemeinen lernt man einen Pflegeberuf, um für die Menschen da zu sein. Ein gewisser Grad an Administration gehört zu jedem Beruf. Aber das Verhältnis muss stimmen. Und das hat sich in den letzten Jahren sehr stark verändert.
Die Leute werden älter. Mit welchen Auswirkungen auf die Pflege?
Das Durchschnittsalter in unseren Einrichtungen liegt mittlerweile bei 87 Jahren. Ich war 15 Jahre im Gesundheitswesen tätig, als wir in unserer Einrichtung den ersten 100-Jährigen feiern konnten. Mittlerweile ist das nichts Aussergewöhnliches mehr. Die Krankheitsbilder sind anspruchsvoller und komplexer geworden. Wir betreuen im Vergleich zu früher mehr IV-Fälle, Drogen- oder Alkoholabhängige. Auch Demenz, psychische Erkrankungen, Palliativbetreuung und -pflege haben zugenommen. Im Gegenzug hat man in den letzten Jahren medizinisch und therapeutisch aber auch sehr grosse Fortschritte gemacht, gerade auch bei der Schmerztherapie.
Wie wird es gehandhabt, wenn jemand seinem Leben selber ein Ende machen will? Ist das in Ihren Einrichtungen möglich?
Nein. Im Moment ist das nur mit Exit möglich, aber nicht im Heim. Diese Diskussionen führt man aber immer wieder. In meiner Karriere wurde ich nur zweimal mit einem konkreten Sterbewunsch konfrontiert. Es ist eine Frage der Zeit, dass Sterbehilfe auch im Heim zugelassen wird. Aber wir respektieren selbstverständlich die Wünsche von Bewohnenden im Rahmen des Erlaubten. Palliative Betreuung ist an der Tagesordnung. Künstliche Ernährung zum Beispiel wird sehr selten gemacht im Gegensatz zu früher.
In diesem Zusammenhang ist ein Vorsorgeauftrag wichtig.
Auf jeden Fall. Für uns wie für die Hinterbliebenen wäre es sehr wichtig zu wissen, was der Wunsch ist. Bei der Generation, die heute im Heim lebt, ist das weniger ein Thema, bei nachfolgenden Generationen schon eher.
Haben Sie einen Vorsorgeauftrag?
(Schmunzelt). Er liegt noch unausgefüllt auf dem Tisch… Aber man sollte sich wirklich die Zeit nehmen und festhalten, wie man sich den Lebensabend vorstellt, wie die Beerdigung, ob man ein Grab will oder ob die Asche verstreut werden soll, wer sich um die Finanzen kümmern soll, ob man bei einem Unfall reanimiert werden will usw. Für mich selber weiss ich es eigentlich, ich müsste es nur noch formulieren.
Der Fachkräftemangel beschäftigt alle Branchen, in der Gesundheitsversorgung scheint er aber eklatant.
Fachkräftemangel war schon immer ein Thema. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, wo man hätte sagen können, es gebe Fachkräfte im Überfluss. Die Arbeitsbedingungen und der schlechte Lohn sind Themen, die mich dreissig Jahre lang beschäftigt haben. Heute werden diese Themen auch medial breitgeschlagen, man ist lauter geworden. Es ist aber sicher einen Tick schwieriger geworden, Fachkräfte zu finden. Man muss etwas dagegen unternehmen, ganz klar. Der Kanton Bern hat relativ früh mit der Ausbildungsverpflichtung der Betriebe begonnen. Spitäler, Spitex, Alterseinrichtungen sind verpflichtet, eine gewisse Anzahl Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Aber auch diese Ausbildungsplätze sind leider nicht extrem häufig nachgefragt. Wir hatten oft Mühe, Auszubildende zu rekrutieren.
Corona hat das Problem noch verstärkt.
Das stimmt. Gewisse Leute sind aus der Pflege ausgestiegen – wegen der Maskenpflicht, aus Respekt oder aus Angst vor einer Ansteckung. Es war eine belastende und herausfordernde Zeit. Ich bin froh, dass es vorbei ist respektive dass man gelernt hat, damit zu leben.
Sie machen einen zufriedenen Eindruck.
Ich bin zufrieden. Ich habe gerne Verantwortung übernommen und trotzdem… Den Entscheid, dass ich aufhöre, habe ich vor rund fünf Jahren gefällt. Die Belastungen – die ganze Diskussion rund um die Spitalversorgung in der Region, aber auch die Ansprüche vom Personal und den Angehörigen – haben zugenommen. Früher hatte ich das Gefühl, dass man das in einem gewissen Alter besser «prästiert». Das stimmt gar nicht (lacht). Die Verantwortung abzugeben, hat mir selber gutgetan und meine innere Zufriedenheit gesteigert.
ZUR PERSON
André Streit, Jg. 1960, ist in Thun aufgewachsen. Er absolvierte eine KV-Lehre und bildete sich zum Buchhalter weiter. Er arbeitete acht Jahre bei von Roll-Habegger. Nach zwei weiteren Jahren im Lebensmittelhandel wollte er von Buchhaltung und Betriebswirtschaft weg Richtung Führungsposition. Er war stellvertretender Spitalverwalter im Spital Schwarzenburg und nach der Schliessung des Spitals Geschäftsführer des Pflegezentrums Schwarzenburg. Berufsbegleitend absolvierte er eine Führungsausbildung an der HSG und zum Gerontologen. 2011 wechselte er zur Alterswohnen STS AG, und war während fast 12 Jahren deren Geschäftsführer. Die AG mit Sitz in Zweisimmen wurde 2006 gegründet. Sie ist eine selbstständige Tochtergesellschaft der Spital STS AG. An den Standorten Saanen, Zweisimmen und Steffis burg betreibt sie drei Alterszentren sowie an den genannten Orten und Thun vier «Betreute Wohnen». Zudem obliegt der Alterswohnen STS AG seit Januar 2012 die operative Führung des Altersheims Sunnebühl in Lauenen.
André Streit geht vorzeitig in den Ruhestand, er hat die Geschäftsführung am 1. Februar 2023 an seinen Nachfolger Beat Maurer übergeben.
André Streit ist verheiratet und wohnt in Weissenburg. Seine Partnerin hat zwei erwachsene Kinder.
PD/ANITA MOSER