«Es könnte noch ein wenig mehr sein!»
13.05.2024 GesellschaftDie Schweiz feiert in diesem Jahr zehn Jahre UNO-Behindertenrechtskonvention und 20 Jahre Behindertengleichstellungsgesetz. Vieles ist bereits umgesetzt, einiges muss aber auch noch weiterverfolgt werden. Der «Anzeiger von Saanen» sprach anlässlich des Jubiläumsjahrs ...
Die Schweiz feiert in diesem Jahr zehn Jahre UNO-Behindertenrechtskonvention und 20 Jahre Behindertengleichstellungsgesetz. Vieles ist bereits umgesetzt, einiges muss aber auch noch weiterverfolgt werden. Der «Anzeiger von Saanen» sprach anlässlich des Jubiläumsjahrs mit drei beeinträchtigten Menschen im Saanenland und mit Béatrice Baeriswyl, Fachleiterin Soziales der Gemeinde Saanen.
SONJA WOLF
Wie geht es Menschen mit Behinderung in der Schweiz? Wie kommen sie in ihrem täglichen Leben zurecht? Sind sie Menschen ohne Handicap gleichgestellt, haben sie also die gleichen Möglichkeiten, eine Arbeitsstelle zu finden, eine Familie zu gründen und ihren Wohnort auszusuchen?
Diese eigentlich selbstverständliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderung fordert die UNO-Behindertenrechtskonvention (siehe Kreis). Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren, am 15. Mai 2014, trat sie in der Schweiz in Kraft. Anlässlich dieses Jubiläums finden schweizweit einen ganzen Monat lang Aktionstage statt, zu denen der Verein Zukunft Inklusion mit Unterstützung des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen aufgerufen hat.
Viele Forderungen aus der UNO-Behindertenrechtskonvention sind in der Schweiz bereits erfolgreich umgesetzt worden, und zwar nicht zuletzt dank des Schweizer Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG), das seit nunmehr 20 Jahren in Kraft ist.
Schweizer Behindertenrechtsorganisationen verfolgen die Umsetzung der UNO-BRK von Anfang an. Sie kritisieren, dass die Umsetzung noch nicht konsequent verfolgt werde und dass die Inklusion der Menschen mit Behinderung auf allen Staatsebenen und in der Gesellschaft noch zu wenig gelebt werde. Sie schauen genau auf die Entwicklung der Inklusion im Bildungssystem, ob Menschen mit Behinderung die Wahl zwischen institutionellem oder selbstständigem Wohnen haben und ob sie genügend Chancen auf dem ersten (nicht geschützten) Arbeitsmarkt haben. Kritisch betrachtet werden auch der Stand der Barrierefreiheit und inwieweit Beeinträchtigte ihre politischen Rechte ausüben können.
Wir befragten zu diesen Themen drei unserer beeinträchtigten Mitmenschen im Saanenland.
Anna Pärli, Industriepraktikerin, 34 Jahre alt

Anna Pärli ist seit 2010 interne Bewohnerin der Stiftung Alpenruhe. Sie hat ein Geburtsgebrechen: Sie geht kurze Distanzen am Rollator, sitzt aber ansonsten im Rollstuhl.
Anna Pärli, wie kommen Sie im Saanenland zurecht mit dem Rollstuhl? Sind alle Orte, die Sie besuchen wollen, frei zugänglich?
Es könnte noch ein wenig mehr sein... Aber es geht schon ganz gut. Ich kann ins Sportzentrum gehen zum Schwimmen. Das «Rössli», der Gstaaderhof, das Ermitage und einige andere Restaurants haben eine Rampe, dort kann ich zum Essen gehen. Kino ist ein wenig schwieriger, aber es hat einen Seiteneingang, durch den ich bis zum Saal komme.
Wie gelangen Sie zu den einzelnen Orten?
Ich nutze das Postauto. Die Postautos haben eine Rampe und die Chauffeure helfen mir beim Ein- und Aussteigen. Oder ich fahre mit einem Taxi bis zum Bahnhof Gstaad. Von dort aus nehme ich den Zug nach Bern. Dort wohnt meine Familie. Ich besuche sie regelmässig.
Ist Bern rollstuhlfreundlicher?
Ja, in Bern ist es ein wenig leichter zu fahren. Die Trottoirs sind alle an Kreuzungen abgesenkt und Bern ist generell besser organisiert.
Wo haben Sie die Schule besucht?
In der Stiftung Rossfeld in Bern. Das ist eine besondere Volksschule. Ich ging gern zur Schule. Ich war stark in Mathe, das war mein Lieblingsfach.
Und danach?
Danach war ich ein Jahr lang in Solothurn im 10. Schuljahr. Dann habe ich im SAZ Burgdorf eine PrA gemacht als Industriepraktikerin (zur PrA siehe Kreis, Anm. der Red.).
Was lernt man da?
Verpackung, Montage, Produkte herstellen.
Also perfekt für die Kartenproduktion hier in der Alpenruhe?
Ja genau. Wir machen alles selber: Papier schöpfen, ausstanzen, kleben. Für die Arbeit an den Karten bekommen wir auch einen kleinen Lohn.
Barrierefreiheit meint ja nicht nur Zugänglichkeit von Gebäuden für Rollstuhlfahrer, sondern auch freien Zugang zu wichtigen Informationen, zum Beispiel zu Abstimmungsvorlagen. Texte können im Internet vorgelesen werden oder werden in leichter Sprache verfasst, damit niemand ausgeschlossen wird. Stimmen Sie selbst ab?
Ja.
Und finden Sie die Texte zugänglich?
Es gibt bei Abstimmungen ein Büchlein, in dem gut informiert wird, aber man kommt immer noch nicht so gut nach. SmartVote hilft mir auch.
Würden Sie es besser finden, wenn es mehr Texte in leichter Sprache gäbe?
Ja, auf jeden Fall. Es sollte auch mehr vorgelesene Texte geben.
Nadia Burri, Praktikerin Büroarbeiten, 25 Jahre alt

Nadia Burri hat infolge einer Hirnhautentzündung im ersten Lebensmonat körperliche Beeinträchtigungen. Sie kann eine Hand gebrauchen und ein wenig gehen, sitzt aber grösstenteils im Rollstuhl.
Nadia Burri, Sie arbeiten in einem kleinen Pensum für die Gemeinde Saanen. Was genau sind Ihre Aufgaben?
Ich mache die interne Postverteilung, Adressänderungen oder Kopierarbeiten. Ich erfasse Daten im System oder tippe handgeschriebene Protokolle ab.
Als zweites Standbein arbeiten Sie auch in der Stiftung Alpenruhe. Sind Sie da in der Kartenproduktion?
Nein, dort mache ich inzwischen nur noch Arbeiten am Computer. Die Werkstattleitung hat mir diese Arbeiten gesucht. Denn zu Beginn war ich unterfordert. Filzen – filzen – filzen (bei der Papierherstellung, Anm. d. Red.).
Fühlen Sie sich auch in anderen Situationen unterfordert?
Ich habe im Altersheim Zweisimmen einen kaufmännischen Abschluss als Praktiker Büroarbeiten PrA gemacht. Ich habe mich schon bei mehreren Stellen beworben, aber die meisten Leute wissen gar nicht, was PrA ist. Schweizweit ist noch nicht so bekannt, dass es neben den Abschlüssen EFZ und EBA auch den PrA-Abschluss gibt (siehe Kreis, Anm. der Red.). Auch haben viele Leute das Gefühl, dass ich geistig beeinträchtigt bin, weil ich im Rollstuhl sitze und nur mit Mühe spreche. Sie verknüpfen das.
Welche Schulbildung haben Sie genossen?
Ich war in der Heilpädagogischen Schule. Im Saanenland war ich damals praktisch die Einzige mit einer körperlichen Behinderung. Die Schule hier war die richtige für mich. Ich war auch zwei Jahre in Bern, hatte aber grosses Heimweh nach meiner Familie und dem Bauernhof in Schönried.
Wie sieht es für Sie mit der Barrierefreiheit im Saanenland aus?
Es ist ok. Viele Restaurants sind barrierefrei, ich gehe auch ohne Probleme ans Beach zum Beispiel. Ich komme selbstständig mit dem Postauto zu meiner Arbeitsstelle in der Gemeinde und auch in der Alpenruhe. Aber im Winter müssen mich manchmal meine Eltern fahren, weil 200m einer Nebenstrasse nicht geräumt sind und ich mit dem Rollstuhl nicht bis zur Postautohaltestelle fahren kann. Ich möchte nicht, dass sie mich extra fahren. Sie sind Landwirte, haben Kühe und stehen um 5 Uhr auf.
Nutzen Sie auch den Zug?
Weniger. Der Bahnhof Schönried ist nicht bedient, also kann mir keiner beim Einsteigen helfen. Schlecht finde ich auch: Von 7 Uhr abends bis 7 Uhr morgens darf ich keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, weil dann kein Bahnhof bedient ist. In Städten dürfen Beeinträchtigte länger fahren.
Wie sieht es mit Ihren sozialen Kontakten aus?
Mit den anderen Beeinträchtigten aus der Alpenruhe komme ich gut aus. Es gibt im Saanenland auch eine Behindertensportgruppe. Ich gehe aber nicht hin. Die meisten Teilnehmenden dort sind aber viel älter als ich.
Und wie sieht es mit den Kontakten mit Nichtbeeinträchtigten aus?
Der Rollstuhl schreckt viele ab... Bis in die sechste Klasse ging ich einmal pro Monat in die normale Schule, damit ich den Kontakt zu den Gleichaltrigen pflegen konnte. Das war recht speziell: Wenn die Lehrerin Freude hatte, dass ich komme, hatten die Kinder auch Freude. Wenn die Lehrerin mich einfach nur mitgenommen hat, waren auch die Kinder gleichgültig. Ich erinnere mich gerne an Frau Ast. Sie hat mich beim Theater mitspielen lassen, ich durfte in «Heidi» die Clara Sesemann spielen.
Was sind Ihre Ziele für die Zukunft?
Ich bin schon recht zufrieden mit der Situation: Ich kann an meinen beiden Arbeitsstellen am Computer arbeiten und zu Hause wohnen. Mein Ziel wäre, meine Ausbildung noch ein wenig bekannter zu machen und noch woanders zu arbeiten.
Bruno Seewer, Koch, 43 Jahre alt

Bruno Seewer ist seit 2017 externer Klient der Stiftung Alpenruhe. Er hat ein Geburtsgebrechen: Er leidet am Prader-Willi-Syndrom. Das ist eine relativ seltene, genetisch bedingte Behinderung.
Bruno Seewer, Sie sind ein externer Klient, Sie kommen also nur zum Arbeiten in die Alpenruhe. Wie kommen Sie hierher?
Ich komme mit dem Postauto von Schönried bis nach Saanen zur Haltestelle Wysmülleri und gehe zu Fuss bis zur Alpenruhe.
Klappt das gut?
Ich bin nicht zufrieden mit dem dichten Verkehr an der Hauptstrasse: Man kann schlecht queren. Manchmal stehe ich am Zebrastreifen und die Autos fahren einfach durch. Es bräuchte eine Ampel, wo man auf den Knopf drücken kann.
Wie war Ihre Ausbildung?
Ich war in der Kleinklasse im Gstaad, habe danach eine Anlehre als Koch mit einer Speziallösung für die Berufsschule gemacht und anschliessend im Solsana gearbeitet.
Nun arbeiten Sie hier in der Alpenruhe in der Kartenproduktion. Gefällt es Ihnen?
Ja, es gefällt mir gut hier, aber Kochen gefällt mir auch. Ich wohne in Schönried zusammen mit meiner Mama und manchmal koche ich Bolognese und backe Pizza.
Würden Sie gerne wieder irgendwo kochen?
Ich würde vielleicht gern in einem kleinen Heim kochen.
Was machen Sie in Ihrer Freizeit?
Ich gehe manchmal mit Kollegen in Schönried ein Bier trinken oder gehe schwimmen. Ich kann auch jassen.
Jassen Sie in einem Verein oder an den Jassveranstaltungen hier im Saanenland?
Bisher hat mich niemand gefragt. Auch wenn ich gefragt habe: Sie nehmen gerade niemanden.
Kennen Sie Anna Pärli schon länger?
Ja, von Anfang an in der Alpenruhe. Wir sind ein Paar.
UNO-BEHINDERTEN-RECHTS KONVENTION
Die Schweiz hat im Jahr 2014 als 144. Staat die UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Die UNO Behindertenrechtskonvention verbietet jede Form der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung und garantiert unter anderem das Recht auf ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben und gleiches Recht auf eine eigene Familie. Ebenfalls garantiert sie das Recht auf Beschäftigung, das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard und sozialen Schutz. Zusätzlich wird auch der gleiche Zugang zu Bildung und ein Recht auf gleiche Teilhabe am öffentlichen und kulturellen Leben gewährleistet. Auch wenn in der Schweiz in einigen Bereichen die Ziele der Behindertenrechtskonvention erreicht werden konnten, gibt es in anderen Sektoren noch einiges Verbesserungspotenzial.
SWO
Aus: www.enableme.ch/de/artikel/uno-behindertenrechtskonvention-standder-umsetzung-1342
«Am Ende muss es eine Win-win-Situation für beide Parteien sein» Béatrice Baeriswyl, Fachleiterin Soziales, ist – nebst der Leitung des Sozialdienstes – sozialplanerisch zuständig für die Fachbereiche Alter, Ausländerintegration und Inklusion beeinträchtigter Menschen. Wir haben ihr anlässlich der Nationalen Aktionstage Behindertenrechte einige Fragen gestellt.

INTERVIEW: SONJA WOLF
Béatrice Baeriswyl, verschiedene Schweizer Behindertenrechtsorganisationen kritisieren, dass die Umsetzung der Behindertenrechte noch nicht konsequent verfolgt wird. Gibt es bei uns auf kommunaler Ebene bereits einen Masterplan?
Ja, bei uns wurde ja gerade die Standortentwicklungsstrategie Saanenland auf den Weg gebracht. Darin ist das Thema Inklusion ziemlich prominent.
Inwiefern?
Die Standortentwicklungsstrategie – kurz SES – ist eine Zehnjahresstrategie, die alle Player des Saanenlandes involviert. (Siehe AvS vom 23. April, Anm. d. Red.) Eines der Ziele innerhalb dieser Standortentwicklungsstrategie ist «Gleichberechtigung und Integration». Und dazu gehört etwa neben der Integration von ausländischen Mitbürgern auch das Thema der Inklusion von Menschen mit Behinderung. Die Inklusion ist eine Verbundaufgabe und daher sind wir glücklich, dass sie Eingang in die SES gefunden hat.
Wie werden Sie weiter vorgehen?
Wir können die Thematik aus dieser Zehnjahresplanung nun konkret in unsere Planung für die neue Legislaturperiode 2025–2028 aufnehmen und eine Strategie – also Handlungsfelder, Ziele und Massnahmen – definieren.
Wie sieht es im Saanenland bisher mit der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen aus?
Das kann ich so noch nicht beantworten. Dazu müsste zuerst einmal eine Bestandsaufnahme und -analyse vorausgehen. Aber was ich aus Sicht der Fachstelle Arbeitsintegration des Sozialdienstes beurteilen kann: Wir stellen im Saanenland sehr viel Bereitschaft seitens der Arbeitgeber fest, psychisch oder physisch beeinträchtigte Personen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Man kennt einander, man hilft einander.
Spielt dabei auch der Fachkräftemangel eine Rolle?
Selbstverständlich, auch der Fachkräftemangel trägt dazu bei, dass viele Arbeitgeber den beeinträchtigten Personen eher eine Chance geben.
Die Beschäftigung einer beeinträchtigten Person kostet den Arbeitgeber teilweise einen Mehraufwand: Die Person braucht mehr Betreuung oder arbeitet langsamer.
Natürlich. Deshalb muss die IV im Hintergrund mitarbeiten. Sie leistet Zuschüsse für Betriebe, die Beeinträchtigte einstellen. Die Arbeitgeber müssen diese Zuschüsse aber einfordern und nicht so tun, als wäre die Behinderung nicht da. Am Ende muss es eine Win-win-Situation für beide Parteien sein.
Ist der Anreiz, eine beeinträchtigte Person einzustellen, immer ein monetärer?
Nein, der Anreiz ist es, Gutes zu tun. Es gibt Arbeitgeber, die sich sagen: «Ich habe hier im Saanenland bisher gut verdient, ich möchte nun gerne etwas zurückgeben.»
Was wünschen Sie sich für die weitere Entwicklung der Behindertenrechte im Saanenland?
Ich freue mich, dass mit der Standortentwicklungsstrategie SES ein starkes Bekenntnis aller grossen Player im Saanenland zum Thema Gleichberechtigung und Integration und im Speziellen zur Inklusion von beeinträchtigten Personen vorliegt. Ich wünsche mir, dass es uns gemeinsam gelingt, in den kommenden Jahren die noch unerreichten Ziele und Massnahmen für eine gelungene Inklusion umzusetzen. Zudem wünsche ich mir, dass die Betroffenen selbst noch vermehrt aktiv werden, mitwirken und für ihre Ziele lobbyieren, so wie es andere Bevölkerungsgruppen für ihre Forderungen auch tun.
WAS IST DIE PRA?
Die PrA – Praktische Ausbildung Schweiz – ist eine national organisierte Berufsausbildung ohne Eintrittshürden. Sie dauert zwei Jahre und bietet eine Alternative zu den beruflichen Grundbildungen mit eidgenössischem Berufsattest EBA oder mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis EFZ. In der Regel wird die PrA von der Invalidenversicherung (IV) im Rahmen einer beruflichen Massnahme finanziert. Die Ausbildungsinhalte lehnen sich eng an jene von EBA und EFZ an. Dies ermöglicht es Lernenden, nach dem ersten oder zweiten Ausbildungsjahr in eine EBA- oder EFZ-Lehre zu wechseln. Alternativ können sie nach Abschluss der Ausbildung ins Arbeitsleben eintreten und ihren erlernten Beruf im ersten oder zweiten (=geschützten) Arbeitsmarkt ausüben.
SWO
Aus: Insos, die PrA in Kürze









